In einem massgebenden Urteil hat der Menschenrechts-Gerichtshof vier klagenden Frauen aus Russland Entschädigungen zugesprochen.

Ludwig A. Minelli für die Online-Zeitung INFOsperber

Red. Ludwig A. Minelli ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Der Beitrag erschien in deren Zeitschrift «Mensch und Recht».

Russland muss vier russischen Frauen, die von ihren Partnern schwer misshandelt wurden, Entschädigungen zahlen. Und Russland muss seine Gesetzgebung unverzüglich («without further delay») so ändern, dass häusliche Gewalt als Delikt durch die Polizei und die Justiz verfolgt wird.

Laut Mediendatenbank haben in der Schweiz lediglich die Zürichsee-Zeitung und der Zürcher Unterländer über dieses Urteil informiert.

Ein Piloturteil

Dies ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 14. Dezember 2021 in der Sache Tunikova und andere gegen Russland. Der Gerichtshof hat dieses Urteil als ein Piloturteilbezeichnet. Dies macht der EGMR nur, wenn «bei der betroffenen Vertragspartei [hier Russland] ein strukturelles oder systembedingtes Problem oder ein vergleichbarer sonstiger Missstand besteht, das beziehungsweise der zu entsprechenden weiteren Beschwerden Anlass gegeben hat oder zu geben geeignet ist» (Art. 26). Das Urteil wird Mitte März 2022 rechtskräftig, sofern nicht innerhalb dieser Frist die Überweisung des Falles an die Grosse Kammer des EGMR verlangt und dies ein Ausschuss von fünf Richtern des EGMR bewilligt.

Natalya Yuryevna Tunikova wurde verschiedentlich von ihrem Partner D. geschlagen und zu erwürgen versucht. Als er sie bei einem späteren Streit auf den Kopf schlug und sie auf den offenen Balkon im 15. Stock zu drängen versuchte, ergriff sie ein Küchenmesser und stach auf ihn ein, worauf er sie losliess. Ihre Klagen gegen D. verliefen erfolglos; die Frau hingegen wurde wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Die Strafe wurde jedoch dank einer Amnestie erlassen.

Yelena Vladimirovna Gershman wurde von ihrem Ehemann O. getreten und geschlagen. Trotz medizinischer Gutachten, welche grosse Prellungen an den Schultern und Rippen nachwiesen, lehnte die Polizei die Einleitung eines Strafverfahrens ab. Bei einer ganzen Reihe weiterer Misshandlungen erlebte sie dasselbe: keine Strafverfolgung des Täters. Selbst nach einem Angriff von O. in einem Gerichtssaal, wo es um eine Frage des Sorgerechts ging, liess die Polizei den Täter O. unbehelligt, und zwar trotz Hirnerschütterung und Prellungen an ihrer Kopfhaut, für die er verantwortlich war.

Irina Aleksandrovna Petrakova hatte 2006 A. geheiratet und in der Folge zwei Kinder geboren. Zwischen Ende 2007 und April 2015, als ihre Ehe geschieden wurde, hat A. sie mehr als zwanzig Mal misshandelt. Regelmässig lehnte die Polizei es ab, gegen A. Ermittlungen einzuleiten. Obschon es in dieser Sache zu gerichtlichen Verfahren gekommen war, führten diese zu keinen Sanktionen gegen A.

Margarita Andreyevna Gracheva heiratete 2012 D., mit dem sie zwei Kinder hat. 2017 verschlechterte sich die Beziehung zwischen den beiden, und sie beschloss, die Scheidung zu beantragen. Nachdem D. sie geschlagen und getreten und ihren Pass zerrissen hatte, kontrollierte er alle ihre Bewegungen. Nachdem sie bei der Polizei mehrfach Anzeige erstattet und die Scheidung beantragt hatte, gelang es ihm, sie in sein Auto zu locken, fuhr mit ihr zu einem abgelegenen Ort im Wald und hackte ihr mit einer Axt beide Hände ab. Eine Hand konnte wieder angenäht werden, funktioniert aber nur eingeschränkt. Die andere musste durch eine Prothese ersetzt werden.

Er wurde in der Folge zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Im Laufe jenes Strafverfahrens sagte Polizeiinspektor G. auf die Frage, welche Schutzmassnahmen er denn Frau Gracheva vorgeschlagen habe, er habe ihr geraten, «ihre Kommunikation» mit D. einzuschränken. Darauf versuchte die Frau, den Inspektor wegen beruflicher Fahrlässigkeit zu verfolgen, hatte damit aber keinen Erfolg.

Keine ausreichende Gesetzgebung

Die Untersuchung durch den EGMR ergab einerseits, dass die russische Gesetzgebung nicht ausreichend ist, um häusliche Gewalt zu verfolgen und zu bestrafen. In Berichten des Hohen Kommissars für Menschenrechte Russlands wird unter anderem festgestellt, das Problem der Gewalt gegen Frauen sei systembedingt und bleibe «eine inakzeptable und äusserst grausame Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung».

Positive Pflicht des Staates zur Abwehr

Der EGMR hält im Urteil fest, dass sich aus seiner bisherigen Rechtsprechung die Pflicht der Vertragsstaaten ergibt, einen gesetzlichen und regulatorischen Rahmen für den Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu schaffen, auf Berichte über häusliche Gewalt zu reagieren und operative Massnahmen zu ergreifen, um bestimmte Personen vor der Gefahr der Misshandlung zu schützen. Eine dritte Verpflichtung verlangt, eine wirksame Untersuchung durchzuführen, wenn begründete Darstellungen solcher Misshandlungen vorliegen. Denn Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert, dass niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt werden darf. Diese Bestimmung bezieht sich auch auf das Verhalten Privater gegenüber anderen Privaten.

Der EGMR stellte fest, in Russland fehle es an Gesetzen gegen häusliche Gewalt, die nicht zu tatsächlichen Körperverletzungen führen oder körperliche Schmerzen verursachen.

Zweitens verlange das russische Strafrecht selbst bei Anwendung von körperlicher Gewalt, dass die Verletzungen des Opfers eine hohe Schwelle erreichen müssen, um die Einschaltung der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden zu rechtfertigen.

Drittens gälte nach einer Reihe von Gesetzesänderungen die Zufügung körperlicher Schmerzen nicht mehr als Straftat. Der EGMR bezeichnete dies als völlig unzureichend, um Opfer vor schwererer und wiederkehrender Gewalt zu schützen. Die Behörden müssten schnell und energisch gegen häusliche Gewalt vorgehen.

Entsprechend stellte der EGMR fest, der bestehende russische Rechtsrahmen – dem eine Definition des Begriffs «häusliche Gewalt» und angemessene materielle und verfahrensrechtliche Bestimmungen zur Verfolgung der verschiedenen Formen häuslicher Gewalt sowie jegliche Form von Schutzanordnungen fehlen – entspreche nicht den Anforderungen, die sich aus der positiven Verpflichtung der Staaten ergeben, ein System zu schaffen und wirksam anzuwenden, das alle Formen häuslicher Gewalt bestraft und den Opfern ausreichenden Schutz bietet.

Erforderliches Schutzsystem

Nach dem Urteil muss ein Schutzsystem erstens dafür sorgen, dass behördlicherseits sofort reagiert wird, wenn solche Beschwerden vorgetragen werden. Zweitens müssen die Behörden selbst jeweils eine Risikobewertung vornehmen, zu der sie sich die erforderlichen Informationen zu verschaffen haben. Sie haben die Pflicht, den Klagenden gegebenenfalls Ratschläge zu geben und sie über mögliche rechtliche und operative Schutzmassnahmen zu informieren. Und drittens müssen die Behörden so schnell wie möglich Präventions- und Schutzmassnahmen ergreifen, die dem Risiko angemessen sind.

All dies hat in den zu beurteilenden Fällen gefehlt, heisst es im Urteil.

In den Fällen, in welchen die Angriffe auf die Beschwerdeführerinnen zu Gerichtsprozessen führten, hätten die Richter kein Bewusstsein für die Besonderheiten von Fällen häuslicher Gewalt gezeigt und auch keinen echten Willen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Deshalb werde Russland wegen Verletzung von Artikel 3 der EMRK verurteilt. Es habe zudem seine Gesetzgebung entsprechend anzupassen.

Das Gericht verurteilte Russland sodann dazu, den Beschwerdeführerinnen Entschädigungen zu zahlen: an Frau Gracheva sind 330’660 Euro als Ersatz des Vermögensschadens zu entrichten; Frau Tunikova, Frau Gershmann und Frau Petrakova sind je 20’000 Euro als Schmerzensgeld zu bezahlen; das Schmerzensgeld für Frau Gracheva, die jetzt schwerbehindert ist, hat der Gerichtshof auf 40’000 Euro angesetzt.