Freital, Dresden, Tröglitz, Chemnitz und viele weitere Orte stehen bis heute für Gewalt gegen Geflüchtete, die vor allem bis 2018 Schlagzeilen machte. Die Aufmerksamkeit für flüchtlingsfeindliche Gewalt ist abgeebbt, obwohl es bis heute deutschlandweit zu durchschnittlich zwei flüchtlingsfeindlichen Vorfällen täglich kommt. Das belegt eine Langzeitauswertung der Amadeu Antonio Stiftung unter dem Titel „Leben in Gefahr – Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland“.

Allein für das Jahr 2020 erfasst die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle mehr als 1600 Angriffe gegen Geflüchtete. Die Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL kritisieren die mangelhafte Erfassung von offizieller Seite und fordern die Innenministerien von Bund und Ländern zu einer vollständigen und transparenten Zählung sowie der zeitnahen Veröffentlichung der Fälle auf.

Geflüchtete, die mit Baseballschlägern verprügelt werden, oder Kinder, die auf dem Weg in die Schule bespuckt und geschlagen werden: Selbst krasse Fälle von Körperverletzung werden – wenn es um Geflüchtete geht – durch die Eingangsstatistiken der Polizei häufig nicht erfasst. Das offenbart eine heute vorgestellte Langzeitauswertung der Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL. Darin wird auch deutlich, dass die Statistik durch das komplizierte Nachmeldeprozedere zeitlich verzerrt wird, da Taten mitunter erst zwei Jahre später in der Zählung auftauchen.

Seit 2015 dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung flüchtlingsfeindliche Vorfälle in einer gemeinsamen Chronik mit PRO ASYL. Mehr als 11.000 Vorfälle, davon 284 Brandanschläge und 1.981 Körperverletzungen, listet die öffentlich zugängliche Chronik seitdem. Die Broschüre „Leben in Gefahr. Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland“ wertet die Dokumentation aus und bereitet sie in Form von Infografiken auf. Die Auswertung offenbart eine eklatante Verzerrung im Vergleich zur offiziellen Kriminalstatistik, die die Delikte nur mangelhaft und mit großer zeitlicher Verzögerung erfasst.

Mangelnde Sensibilität und Ressourcen bei der Polizei

„Es kann nicht sein, dass wir zwar wissen, wie viele Handtaschen 2020 gestohlen werden, aber schwere Körperverletzungen, Anfeindungen und Mordversuche gegen Geflüchtete in der offiziellen Statistik nicht auftauchen. Es fehlt bei der Polizei an Sensibilität, Aufmerksamkeit und Ressourcen, diese Straftaten zu verfolgen. Gewalt gegen Geflüchtete bleibt ein massives Problem, das spätestens seit 2018 schlagartig aus Debatten und Schlagzeilen verschwunden ist“, sagt Tahera Ameer, Leiterin der Arbeit gegen Rassismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. „Nur, weil darüber niemand mehr spricht, hat sich die Situation der Betroffenen nicht gebessert. Ganz im Gegenteil: Nach wie vor werden Unterkünfte angezündet und Menschen werden mehrmals täglich Opfer von Gewalt. Es gibt für Betroffene Angsträume, die ganze Regionen umfassen. Der Rechtsstaat hat versagt, er schützt die Menschen nicht. Wer die Gewalt durch massive Untererfassung unsichtbar macht, macht auch die Menschen unsichtbar.“

Die Organisationen fordern das Bundesinnenministerium auf, die Zählung zu verbessern und Fälle vollständig und zeitnah mit einer Pressemeldung zu veröffentlichen. Die bisherige Erfassung hinterlässt den Eindruck, man wolle flüchtlingsfeindliche Gewalt unsichtbar und eine zivilgesellschaftliche und journalistische Dokumentation unmöglich machen.

„Wir fühlen uns allein gelassen“

„Die Bedrohungssituation gegen Geflüchtete hat nicht abgenommen: Wir fühlen uns allein gelassen. Ich kenne keinen, der nicht auch ein Lied davon singen kann, wie es sich anfühlt, immer auf der Hut zu sein, ganz egal ob beim Einkaufen oder beim Spazieren gehen. Fast jeder, den ich kenne, wurde schon einmal beschimpft, bedroht oder geschlagen. Die Angst vor solchen Erfahrungen ist unser täglicher Begleiter“, berichtet die Autorin und Studentin Naya Fahd, die 2016 nach Deutschland kam und sich in Mecklenburg-Vorpommern für Geflüchtete engagiert. Mittlerweile lebt und arbeitet sie in Berlin.

Dass sich die tägliche Bedrohung und Gewalt nachhaltig auf die Lage der Betroffenen auswirken, bestätigt Lukas Welz, Geschäftsführender Leiter des Bundesverbands psychosozialer Zentren für Überlebende von Folter, Krieg und Flucht, aus langjähriger Erfahrung: „Viele Geflüchtete haben schmerzliche Erfahrungen mit Gewalt und Verfolgung in ihrem Heimatland gemacht. Wenn sie dann alltäglich mit Rassismus konfrontiert sind, mit ständiger Bedrohung und Gewalt auf der Straße, wie können wir da von Sicherheit, von einem menschenwürdigen Asyl sprechen?“

Derzeit setzt die rechtsextreme Szene auf das Thema Corona und hat großen Erfolg, damit Massen zu mobilisieren. Es sind jedoch die gleichen Akteure, die seit 2013 zu Protesten gegen Geflüchtete aufrufen. Spätestens mit dem Ende der Pandemie wird die rechte Szene wieder auf das Asyl-Thema umschwenken. Schon jetzt wird mit der Situation an den EU-Außengrenzen Stimmung gemacht. Mit dem Bild einer neuen sogenannten ’Massenmigration’ werden Feindbilder geschürt und Angst verbreitet.

Auflösung von Massenunterkünften als Prävention gegen Rassismus

„Rassistische Gewalt muss geahndet werden, und damit Täter*innen vor Gericht verurteilt werden, müssen die Betroffenen in Deutschland sein, sonst können sie nicht aussagen. Nötig ist deshalb eine Bleiberechtsregelung für Opfer rassistischer Gewalt“, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Diese Menschen sind nicht nur körperlich verletzt worden, es handelt sich um Angriffe auf ihr Menschsein. Der Staat muss den Täter*innen zeigen, dass er sich ihrem schändlichen Anliegen, Menschen aus dem Land zu vertreiben, entgegenstellt. Um weiterer Gewalt vorzubeugen, muss die Isolation Geflüchteter in Ankerzentren und ähnlichen Großunterkünften, in denen Schutzsuchende zermürbt werden, beendet werden. Die Koalition hat jetzt die Chance, das politische Versagen der letzten Jahre zu korrigieren. Eine Befristung der Aufenthaltsdauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf höchstens drei Monate wäre das mindeste.“

In der Publikation „Leben in Gefahr – Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland“ erzählen Geflüchtete die Geschichten ihrer Flucht, ihres Ankommens, ihres Einsatzes – und der Gewalt gegen sie. Die Langzeitauswertung der Vorfälle beleuchtet die mangelhafte Erfassung solcher Taten, ihre zeitliche und räumliche Verteilung und nennt notwendige Maßnahmen, um Hassgewalt gegen Geflüchtete zu begegnen und Betroffene zu stärken.

Die Langzeitauswertung kann kostenfrei hier heruntergeladen werden.

Die Chronik flüchtlingsfeindlicher Gewalt (Stand 16.12.2021) ist hier einsehbar.

Der Originalartikel kann hier besucht werden