USA: Unstimmigkeiten bei der Vorbereitung von Defender Europe 22. NATO baut ihre Stellung am Schwarzen Meer gegen Russland aus. Türkei wird dort zum unsicheren Kantonisten.

Unstimmigkeiten in den USA begleiten die Vorbereitungen für das Großmanöver Defender Europe 22. Ursache ist, dass das Pentagon militärische Modernisierungen im eigenen Land in den Vordergrund der Übung rücken will; daher wird laut Berichten die Anzahl der Truppen, die 2022 über den Atlantik nach Europa sowie in Richtung Russland verlegt werden, gegenüber den ursprünglichen Plänen reduziert. Dies ruft im US-Repräsentantenhaus Unmut hervor. Die Bundeswehr dagegen will sich an der Kriegsübung in ähnlicher Weise beteiligen wie 2020 und 2021. Unabhängig davon haben die NATO-Verteidigungsminister Ende vergangener Woche neue Schritte eingeleitet, um die Stellung des Kriegsbündnisses im Machtkampf gegen Russland vor allem in der Schwarzmeerregion weiter zu stärken. Das Schwarze Meer besitzt für Russland hohe Bedeutung – einerseits zur Verteidigung seiner Südflanke, andererseits für die Machtprojektion seiner Marine ins Mittelmeer sowie in den Nahen Osten. Beides nimmt die NATO ins Visier. Dabei bekommt ihre Stellung am Schwarzen Meer erste Risse: Die Türkei gilt mittlerweile als unsicherer Kantonist.

Schwerpunkt Modernisierung

Unstimmigkeiten in den USA überschatten die Vorbereitungen für das Großmanöver Defender Europe 22. Berichten zufolge wird die Übung, die einmal im Jahr den Aufmarsch von US-Truppen über den Atlantik und den europäischen Kontinent in Richtung Russland probt [1], laut aktuellem Planungsstand kommendes Jahr nicht, wie zunächst vorgesehen, in Divisionsstärke abgehalten werden. Zwar sollen US-Truppen wieder in fünf europäischen Häfen anlanden – neben dem Mittelmeer und der Ostsee auch im Nordatlantik -, sodann Bestände aus US-Waffenlagern (Army Prepositioned Stock, APS) aufgreifen und in „Schlüsselgebiete“ in Europa ausschwärmen. Der Schwerpunkt soll diesmal aber auf Modernisierungsbestrebungen in den Vereinigten Staaten selbst liegen. Dass die US-Truppenpräsenz in Europa dadurch etwas geringer ausfallen könne als in den vergangenen beiden Jahren, hat im Streitkräfteausschuss des Repräsentantenhauses für Unmut gesorgt. Das Pentagon solle „seine Entscheidung überdenken“ sowie dafür sorgen, dass die „Auswirkungen auf Bereitschaft, Abschreckung und Interoperabilität“ begrenzt blieben, heißt es in einem Schreiben des Vorsitzenden des Ausschusses an das US-Verteidigungsministerium.[2]

Unterstützung beim Transit

Noch nicht wirklich klar ist, inwiefern sich die Unstimmigkeiten in Washington auf den deutschen Beitrag zu Defender Europe 22 auswirken werden. Das Bundesverteidigungsministerium ist laut Auskunft der Bundesregierung bereits seit Ende 2020 in die Vorbereitungen für das Großmanöver eingebunden; ursprünglich war dabei von einem „Übungsschwerpunkt in Nordeuropa“ die Rede.[3] Im Februar dieses Jahres berichtete dann Peter Tauber, Parlamentarischer Staatssekretär im Berliner Verteidigungsministerium, im Bundestag, die Teilnahme der Bundeswehr an einigen Teilübungen sei bereits fest geplant; Tauber nannte explizit Saber Guardian 2022, Swift Response 2022 und eine Gefechtsstandübung. Vorgesehen sei auch „ein deutsch-amerikanisches Übungsvorhaben auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz“.[4] Tauber berichtete schon damals, Defender Europe 22 werde sich vom diesjährigen Großmanöver vermutlich „vorrangig im Kräfteumfang unterscheiden“; „konkrete Unterstützungsforderungen“ seien dabei „an die Bundesregierung bisher nicht herangetragen“ worden. Man gehe davon aus, die Bundeswehr werde „erneut durch das Erbringen von Unterstützungsleistungen beim Transit multinationaler Kräfte sowie bei der Verlegung von US-Streitkräften bzw. von US-Material“ beteiligt sein.

Von der Arktis bis zum Kaukasus

Unabhängig von der Defender Europe-Manöverserie haben die NATO-Verteidigungsminister Ende vergangener Woche einen neuen „Masterplan“ für militärische Aktivitäten des Kriegsbündnisses im Machtkampf gegen Russland beschlossen. Zuvor hatten westliche Militärs und Strategen massiv Druck gemacht, die Positionen der NATO besonders in der Schwarzmeerregion zu stärken. Bereits im Juni 2020 etwa hatte Generalleutnant a.D. Ben Hodges, ehedem Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa, konstatiert, das westliche Bündnis konzentriere sich bisher vor allem darauf, seine Stellungen im Baltikum auszubauen; dabei befinde man sich im Machtkampf mit Moskau in einer gewaltigen Region: „von der Arktis bis zum Kaukasus und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“. Vor allem am Schwarzen Meer habe die NATO inzwischen „Lücken“ in ihrer militärischen Positionierung entstehen lassen, die sich unter anderem darin zeigten, dass sie sich im Baltikum mit einer „verstärkten Vornepräsenz“ („enhanced Forward Presence“, eFP) in Stellung gebracht habe, am Schwarzen Meer bislang aber nur mit einer nicht ständigen, „maßgeschneiderten Vornepräsenz“ („tailored Forward Presence“). Anstreben müsse man dringend „eine einheitlichere, zusammenhängendere Front“.[5]

Der NATO-„Masterplan“

Die NATO hat mittlerweile entsprechende Maßnahmen eingeleitet. So hat sie etwa – parallel zur Luftraumüberwachung im Baltikum („Baltic Air Policing“) – in der rumänischen Hafenstadt Constanța ein enhanced Air Policing South (eAPS) etabliert, an dem sich die deutsche Luftwaffe zeitweise beteiligt.[6] Die Bundeswehr ist zudem in den Ausbau des Multinational Corps South-East (MNC-SE) im rumänischen Sibiu involviert. Der neue „Masterplan“, den Ende vergangener Woche die NATO-Verteidigungsminister beschlossen, umfasst streng vertrauliche Pläne für gleichzeitige militärische Schritte gegen Russland im Baltikum sowie in der Schwarzmeerregion. Zudem sind weitere Aufrüstungsvorhaben geplant. Sie sehen nicht nur die Beschaffung neuer Kampfjets der fünften Generation vor – Tarnkappenjets des US-Modells F-35 sowie das deutsch-französische FCAS [7] -, sondern auch den Erwerb neuer Raketenabwehrsysteme, entweder US-Patriot-Batterien (Raytheon) oder das europäische SAMP/T (Eurosam mit Sitz in Paris).[8] Zusätzlich kündigten 15 NATO-Mitgliedstaaten am Rande des Verteidigungsministertreffens an, gemeinsam die Entwicklung neuer Luftabwehrsysteme zu forcieren.[9] Die Bundesrepublik beteiligt sich daran.

Die Bedeutung des Schwarzen Meeres

Dabei spielen im Hintergrund unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Im Schwarzen Meer steht für Russland einerseits die Verteidigung seiner Südflanke gegen etwaige Angriffe fremder Mächte im Vordergrund – „im Sinne von Schutz und Verteidigung des russischen Staatsgebiets“, wie es vor geraumer Zeit in einer Analyse in der Zeitschrift MarineForum hieß.[10] Gleichzeitig bildet die russische Schwarzmeerflotte „das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten“; dies gilt als eine wichtige Grundlage für die „Ausdehnung russischen Einflusses nach Südosteuropa und bis zur Levante“, etwa nach Syrien. Für die NATO geht es deshalb im Schwarzen Meer nicht nur um eine offensive Positionierung, sondern auch darum, Russlands Einfluss im Mittelmeergebiet zurückzudrängen. Hinzu kommt allerdings, dass die Stellung des westlichen Militärbündnisses ihrerseits erste Risse bekommt: Die Türkei, die die gesamte Südküste des Schwarzen Meeres abdeckt und mit den Dardanellen und dem Bosporus letztendlich die Zufahrt zu dem Gewässer kontrolliert, kooperiert immer enger mit Russland und gilt im Westen mittlerweile als unsicherer Kantonist (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Das schwächt die NATO im Schwarzen Meer.

 

[1] S. dazu Testmobilmachung gen Osten (III) und Kein Lockdown für Militärs (II).

[2] Jen Judson: US Army insists next year’s Defender Europe is not canceled. defensenews.com 11.10.2021.

[3] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Christian Sauter, Alexander Graf Lambsdorff, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/25059. Berlin, 08.12.2020.

[4] Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 1. Februar 2021 eingegangenen Antworten der Bundesregierung. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/26440. Berlin, 05.02.2021.

[5] Ben Hodges, Janusz Bugajski, Ray Woycik, Carsten Schmiedl: NATO Needs a Coherent Approach to Defending its Eastern Flank. warontherocks.com 12.06.2020.

[6] S. dazu Im Einsatz am Schwarzen Meer.

[7] S. dazu Der High-Tech-Kampfjet der EU.

[8] Neuer Masterplan zur Abschreckung Russlands. tagesschau.de 21.10.2021.

[9] Fifteen Allies deepen cooperation on Ground Based Air Defence. nato.int 21.10.2021.

[10] Marion Kipiani: Russlands maritime Strategie im Schwarzen Meer. Umsetzung und Folgen für die NATO. In: MarineForum 11/2018. S. 20-23.

[11] S. dazu Das Schwinden des eurozentrierten Blicks.

Der Originalartikel kann hier besucht werden