Angesichts des besorgniserregenden Trends, dass das Problem des Hungers in der Welt wieder zunimmt, haben wir Valeria Emmi von CESVI (Biografie am unteren Ende des Interviews) einige Fragen gestellt, um dieses stark unterschätzte Problem besser zu verstehen und ihm Gewicht zu geben.

Der in diesen Tagen von CESVI veröffentlichte Welthungerindex (GHI) dokumentiert einen Rückschritt in der Bekämpfung des weltweiten Hungers, insbesondere in einigen Regionen des Planeten. Was ist Ihre Meinung zum Phänomen, was sind die schwerwiegendsten Probleme?

Der Welthungerindex 2021 (GHI) – der sechzehnte in einer jährlichen Aufstellung – beinhaltet eine multidimensionale Gewichtung des Hungers auf dem globalen, regionalen und nationalen Niveau. Er basiert auf 4 Indikatoren: Unterernährung, Kinderschwund, Unterentwicklung bei Kindern und die Mortalität von Kindern unter fünf Jahren.

Der Bericht dieses Jahres unterstreicht, dass der Kampf gegen den Hunger aktuell zum Stillstand gekommen ist, und in manchen Bereichen sogar rückläufig ist. Den aktuellen Voraussagen des Index entsprechend, wird die Welt als Ganzes und 47 Länder im Besonderen nicht in der Lage sein, ein niedriges Niveau an Hunger bis 2030 zu erreichen. 28 dieser Länder sind in Afrika, südlich der Sahara, während sich der Rest über Südasien, Westasien, Nordafrika, Ostasien, Südostasien, Lateinamerika und die Karibik verteilt. Der Kampf gegen den Hunger bis 2030 ist damit stark auf Abwege geraten.

Im Jahr 2020 waren 155 Millionen Menschen von Lebensmittelunsicherheit betroffen – fast 20 Millionen Menschen mehr als im Vorjahr. Trotz der katastrophalen COVID-19 Pandemie waren gewaltsame Konflikte die Hauptursachse des Hungers in der Welt. Aktive Konflikte nehmen zu, werden heftiger und dauern länger. Mehr als die Hälfte der unterernährten Menschen lebt in Ländern gefährdet durch Konflikte, Gewalt oder Instabilität.

Gewaltsame Konflikte beeinflussen geradezu jeden Schritt eines Versorgungssystems. Zeitgleich kann wachsende Lebensmittelunsicherheit aber auch gewaltsame Konflikte schüren. Solange das Problem der Ernährungsunsicherheit nicht gelöst ist, wird es schwierig, dauerhaften Frieden aufzubauen – und ohne Frieden gibt es kaum eine Aussicht auf das Ende des Welthungers. Dazu kommen die Konsequenzen des Klimawandels, die immer gefährlicher und häufiger werden. Die COVID-19-Pandemie, die 2020 und 2021 in verschiedenen Teilen der Welt wütete, hat ebenfalls gezeigt, wie sehr wir weltweiten Infektionskrankheiten und ihren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen ausgesetzt sind. Drei große Krisen – Konflikte, Klimawandel und COVID-19 – verstärken den Hunger und bedrohen sämtlichen Fortschritt der vergangenen Jahre.

Das Problem des Hungers scheint in den Augen der Medien an Interesse verloren zu haben. Mehr als alles andere ist es geknüpft an die klassischen Tagungen, an internationale Kongresse und Ähnliches. Wie garantiert man Kontinuität und mehr Aufmerksamkeit für die größte Todesursache der Welt?

Die Cesvi-Stiftung arbeitet daran, diesen Themen Aufmerksamkeit zu widmen. Das Teilen der Arbeit mit der Bevölkerung mit den fragilsten Hintergründen ist Tagesgeschäft. Die Pandemie hat dabei geholfen, das Rampenlicht auf die Verflechtung von Problemen an jedem Ort des Planeten herauszustellen und die enge Verbindung zwischen Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft und Sozialpolitik zu betonen. Der Zusammenhang zwischen diesen großen Krisen, der Covid-19-Pandemie, den Konflikten, dem Klimawandel und dem Hunger in der Welt, die zu den schwerwiegendsten unseres Jahrhunderts gehören, sollte täglich, auch in den Medien, thematisiert werden, indem die noch zu zaghaften Lösungen angemessen reflektiert werden und diejenigen, die umgesetzt werden sollten, angeregt werden, vor allem indem der Zivilgesellschaft eine Stimme gegeben wird, deren Gesprächsraum allmählich schrumpft und in Fragen, die alle betreffen, den Interessen einiger weniger Platz macht.

Die Pandemiekrise hat gezeigt, dass ein Problem mit außergewöhnlichen Anstrengungen angegangen werden kann; es scheint offensichtlich, dass die schwindelerregende Zahl von Kindern, die an Hunger sterben, auf die gleiche Weise angegangen werden sollte; was verhindert das Ihrer Meinung nach?

Die COVID-19-Krise bedarf immer noch besonderer Anstrengungen, weil sie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen (Öffentliches Gesundheitswesen, Ökonomie und Soziales) jeden sehr stark beeinflusst. Die ständige Zunahme der Kindersterblichkeit erscheint im Norden der Welt als etwas weit entferntes, schwer greifbares. Die Pandemie hat demgegenüber weltweit einen Anstieg der Armut und folgend auch einen Anstieg des Hungers hervorgerufen. Diese Erfahrung sollte uns stärker über die intrinsischen Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Krisen, die wir erleben, zu denken geben – und mehr Raum für eine gemeinsame Reflektion schaffen, die die individuelle übersteigt.

Wir wissen, dass im Süden der Welt internationale Organisationen, Nicht-Regierungsorganisation, Vereine und Regierungen gegen die Modelle industrieller Landwirtschaft kämpfen, die die lokale Bestandswirtschaft zerstört hat. Wie viel wird getan, um lokale Sorten wieder einzuführen? Wie viel Gewicht wird einem neuen Modell der regionalen Landwirtschaft gegeben?

Die Bedeutung von Kleinlandwirtschaft, Bevölkerung und zivilgesellschaftliche Organisationen bei der Bewahrung der lokalen Traditionen und der Schutz von Indigenen Bevölkerungsgruppen sind Themen, die auf der internationalen Agenda stehen und diskutiert werden – allerdings immer noch ohne eine klare und effektive Strategie. Die Debatte ist immer noch sehr fokussiert auf Lebensmittelsysteme: Produktion, Ernte, Verarbeitung, Transport, Versorgung mit Produktionsfaktoren, Finanzierung, Marketing und Konsum. Die Stärkung von Lebensmittelsystemen zur Bekämpfung der Effekte von Konflikten und Klimawandel und der gleichzeitigen Absicherung von Lebensmittel- und Versorgungssicherheit ist eine der Empfehlungen, die die CESVI-Stiftung und internationale Organisation an Regierungen und Spender richten. Um den Weg für einen radikalen Wandel im Lebensmittelsystem freizumachen, müssen Regierunen aktiv in der Nachsorge des UN-Lebensmittelgipfels September 2021 werden und Vorteile aus den sich ergebenden Chancen generieren – in etwa bei der UN-Klimawandelskonferenz 2021 (COP26) und den Tokyoer Gipfel für Ernährung für Wachstum im selben Jahr. Das dient der Bestärkung des Engagements zum Zero-Hunger-Ziel, der Investition in fragile und konfliktbetroffene Gebiete ebenso wie der Bekämpfung der Effekte des Klimawandels, für dessen Verlangsamung die Welt noch keinen effektiven Mechanismus entwickelt hat – geschweige denn einen, um ihn zu stoppen.

Was sind die Erwartungen vom Ende der Pandemienotstand? Und welche Ressourcen würden benötigt, nicht nur auf dem wirtschaftlichen Niveau, sondern auch auf Forschung, Arbeitskräfte, und freiwillige Initiativen bezogen?

Das Ende der Pandemie-Notlage bedingt vor allem, dass Gesundheit als Allgemeingut anerkannt wird und dass die Rechte und Bedürfnisse der am meisten Betroffenen respektiert, geschützt und unterstützt werden. die Beseitigung der rechtlichen, finanziellen, sozialen und geschlechterspezifischen Hindernisse, die den Zugang zu Gesundheitsversorgung hemmen, ist essentiell für jegliche erfolgreiche Gesundheitsversorgung, ebenso das Schaffen gleichen Zugangs für alle.  Um das zu erreichen, müssen internationale Menschenrechtsstandards in Handlungen umgesetzt werden. Entscheidungsträger und Führungskräfte sind verantwortlich für die Umsetzung ihrer Bekenntnisse und der Sicherstellung von Gesundheit für alle. Dabei scheint die Beseitigung von Hindernissen durch geistiges Eigentum von fundamentaler Bedeutung. Es ist notwendig, zu erkennen, dass aktuelle Forschung und die Produktion von medizinischen Produkten, Impfstoffe inbegriffen, basierend auf dem Schutz von Wirtschaftsgeheimnissen, Patenten und Monopolen, gleichen Zugang verhindern und die Kapazität und die Ergebnisse weltweiter Produktion sowie die Verteilung für die hohen Preise essentieller Medikamente einschränkt. Damit verstärkt sich die Ungleichheit und das Zurücklassen der Ärmsten und Verwundbarsten. Das ist nicht nur moralisches Versagen, sondern auch ein Versagen der Umsetzung politischen Willens und der Entwicklung und des Schutzes öffentlicher Gesundheitsversorgung. Globale Regelungen für Pandemiebekämpfungsmaßnahmen müssen für alle fair sein und auf fundierten Erkenntnissen und nicht auf der individuellen Zahlungsfähigkeit beruhen.

Übersetzung aus dem Englischen von Aline Sieber und die Überarbeitung von Reto Thumiger, beide vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!


Valeria Emmi, Volkswirtin mit Spezialisierungen in Entwicklungswirtschaft, hat CESI gegründet und koordiniert Aktivitäten der Interessensvertretung für die Organisation, sowohl im humanitären als auch im Entwicklungsbereich, sowie die Beziehungen zu Institutionen und politischen Entscheidungsträgern auf nationalem, europäischem und internationalem Niveau.

Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren im Bereich der Sozialpolitik und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen Lebensmittelsicherheit und Ernährung, Kinderschutz und Bekämpfung von Misshandlungen, und ist Expertin für Geschlechterpolitik und die Stärkung der Rolle der Frau.

Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, koordiniert Forschungsgruppen und arbeitet mit Think Tanks zusammen. Sie vertritt Cesvi in verschiedenen Koordinationsgremien, zivilgesellschaftlichen Koalitionen und nationalen und internationalen thematischen Netzwerken.