Selten war ein Buchtitel so treffend Programm für diese ausgezeichnet konzipierte Biografie, denn der jüdische Verleger Joseph Melzer hat tatsächlich in den verschiedensten Weltgegenden, neun völlig unterschiedliche Leben gelebt, quer durch Zeitenumbrüche, Regierungsformen, politische Systeme und Kontinente. Das macht diese Autobiografie gar so interessant, die Vorfreude steigt schon auf der Innenseite des Einbandes, auf dem in einer Landkarte die neun Stationen von Joseph Melzers Leben eingetragen sind: Kuty, Ostgalizien, damals Teil der K&K Donaumonarchie Österreich, heutige Ukraine – Berlin – Jerusalem, damals Palästina und britisches Protektorat – Paris – Sibirien, damalige Sowjetunion – Smarkand, Usbekistan – Admont, Österreich – Haifa, Israel – Köln, BRD.

Am Anfang des Werks wartet Melzer gleich mit einer Wohltat auf: Er liefert basierend auf den ganzen Erfahrungen seines Lebens eine super aufgearbeitete sachliche Analyse über die Hauptströmungen des Judentums: das religiös orthodoxe chassidische Judentum in Galizien, die assimilierten bildungsbürgerlichen unreligiösen Juden in Wien und Deutschland und die Ideen eines zionistischen Staates von Theodor Herzl und dessen Umsetzung in Israel. Das kann er sehr gut, denn er hat in allen drei jüdischen Systemen gelebt, der Großvater war chassidisch gläubig, der Vater war antireligiös und im heutigen Israel hat Melzer sogar zweimal gelebt, zu einer Zeit, als man noch mit den Palästinensern auf Augenhöhe koexistieren und kooperieren wollte und danach, als die britische Mandatsmacht abzog und die Zionisten die große Vertreibung starteten. Er versucht immer eine sehr ehrliche Auseinandersetzung mit den Vorteilen, mit den Fehlern und mit allen historischen Implikationen der drei Strömungen.

Aber ich sollte in meiner Rezension chronologisch bleiben, denn auch das ist ein großer Vorteil dieser Autobiografie. Sie ist ausgezeichnet strukturiert, fast immer chronologisch erzählt und enthält nur einmal eine Redundanz, die ich aber ob ihrer Sprengkraft für die Lebensauffassung von Melzer sehr gut verstehen kann.

Zuerst wird also Melzers Kindheit in Ostgalizien geschildert. Wir befinden uns ab 1907 in der K&K-Monarchie, die Juden werden zwar diskriminiert, aber Kaiser Franz Josef hält seine schützende Hand über seine Juden. Melzer beschreibt die Sitten im religiösen Haushalt seines geliebten Großvaters. Ab 1914 flüchtet er mit seinem Vater Richtung Deutschland, besucht in den Wirren des ersten Weltkrieges kaum eine Schule und beherrscht die deutsche Sprache nur bruchstückhaft, da er nur Jiddisch kann. Ab 1918 strandet die Familie Melzer in Berlin, der Sohn wird eingeschult, muss aber nach der Volkschule mit 14 Jahren seine Ausbildungsstätte verlassen, weil der Vater für ihn eine Lehre in der Landwirtschaft in unterschiedlichen Betrieben in ganz Deutschland vorgesehen hat. Joseph ist trotzdem immer wissbegierig und eignet sich autodidakt sein Wissen über Bücher an. Da das Geld, der Familienrückhalt und auch die schulische Grundausbildung für ein Studium fehlen, schlägt sich Melzer durch unterschiedliche Jobs durch und landet 1928 als Mitarbeiter in einem Antiquariat bei seinen geliebten Büchern, anschließend bei einer Zeitschrift und dann im Verlagsvertrieb. Dieses Kapitel ist einerseits sehr spannend, weil der allmählich aufkommende Antisemitismus und die Begeisterung für die Nazis geschildert werden, die auch manche Juden erfasst hat, andererseits wird aber etwas zu viel Namedropping mit vielen aufgezählten prominenten Namen aus der jüdischen Gemeinde betrieben: Verlagsleute, Zionisten, die ich nicht kenne. Die Leute, die ich kannte und die präsentierten Geschichtln waren aber sehr spannend, es gab zufällige Treffen mit Einstein, Fischer, und Rohwolt.

Von 1933 – 1936 ist Melzer unterwegs nach Palästina und erlebt abenteuerliche Irrfahrten bei der Einreise, da er ja durch seine ursprüngliche Herkunft aus Galizien als polnischer Staatsbürger geführt wird, obwohl er mit Polen nichts gemeinsam hat. Endlich in Israel gelandet, bekommen wir eine sehr kritische Analyse der Ziele des aufkommenden Zionismus serviert und der schändliche Vertrag der Zionisten mit den Nazis wird thematisiert. Auch die Araberfrage und die Schuld der Zionisten an den Problemen ist sehr gut selbstkritisch und ausgewogen betrachtet, denn der Autor war mit einigen Palästinensern sehr eng befreundet. Leider hat Melzer noch immer nicht das Geheimnis mit der freien Liebe im Kibbuz gelüftet, ich weiß noch immer nicht, ob das nur eine propagandistische Legende für die jungen Auswanderer war. Frustriert durch den Umgang der Zionisten mit den Palästinensern verlässt er Israel wieder und baut in Paris einen Buchvertrieb auf. Dort gibt es einen herzerwärmenden Abschnitt, in dem die Freundschaft mit Josef Roth in seinen letzten drei Lebensjahren geschildert wird.

1939 besorgt Melzer rechtzeitig Einreiseaffedavits für alle Mitglieder seiner Familie nach Palästina, für sich selbst kann er das aber nicht tun, da sein polnischer Pass abgelaufen ist. Schlechtes Timing, er muss seinen Pass in Warschau verlängern lassen und wird dort vom Weltkrieg und dem Überfall der Deutschen auf Polen überrascht. Auf der Flucht über den Landweg von der Ukraine über Russland nach Israel wird er irgendwo von den Russen geschnappt und in den Gulag nach Sibirien verschleppt. Die Arbeitslager der Russen waren die Pest, aber wenigstens hatte er im Gegensatz zu den Konzentrationslagern eine reale Überlebenschance. Im Gulag in Sibirien abgeschottet, kriegt er als einer der wenigen Juden überhaupt nichts mehr vom Zweiten Weltkrieg und von den Gräueln der Nazis mit. Er kann es nicht glauben, was in Sibirien neu eingetroffene polnische Juden über Konzentrationslager und die Deutschen erzählen.

Aus dem Volk der Dichter war ein Volk der Richter, und die Denker waren Henker geworden

Das ist auch die einzige Redundanz, die ich in dieser Autobiografie gefunden habe, denn Melzer will es nicht wahrhaben und wiederholt mehrmals wortwörtlich sein Entsetzen darüber, was er seinen geliebten Deutschen nie zugetraut hätte.

Die anschließenden neuen Stationen in seinem Leben lesen sich erneut wie ein Weltkriegs-Roadtrip. Als er aus dem Gulag entlassen wird, sind seine neuen Aufenthaltsorte Smarkand im heutigen Usbekistan, Ardning in der Steiermark in Österreich im Lager für Displaced Persons nach dem Krieg, Haifa und Köln.

Als er als Flüchtling letztendlich völlig fertig in Haifa ankommt, kann er trotzdem sehr differenziert auf die Auswirkungen des israelisch-arabischen Konfliktes blicken. Als die britische Mandatsmacht abzieht und die Flüchtlingsschiffe, wie jenes von Melzer im neuen jüdischen Staat eintreffen, schildert er genau, wie systematisch die Palästinenser aus den Wohnungen und damit aus ihrer Heimat vertrieben werden. Er beschreibt eindrücklich, wie die angekommenen Flüchtlinge direkt in die Wohnungen einziehen, in denen das teilweise lauwarme arabische Essen noch auf dem Tisch steht. Melzer profitiert als Flüchtling, bekommt auch so eine Wohnung zugewiesen, findet dieses Vorgehen aber abscheulich. Er vergleicht sogar in seinem neu gegründeten Verlag die Blut- und Boden-Mentalität der Israelis inklusive der systematischen Vertreibung mit einigen Methoden der Nazis, was ihm im neu gegründeten Staat den Status eines Verräters einbringt. Seiner Meinung nach haben die zionistischen Juden Israels an den Palästinensern teilweise gerächt, was ihnen die Deutschen angetan haben.

Reicht es, dass Juden keine Angst mehr haben müssen, Israels Nachbarn dafür umso mehr? […] Die jüdische Immigration nach Palästina war keineswegs eine Immigration jüdischer Wohltäter, sondern eine von Wölfen in Schafspelzen. Ich erinnere mich an die Gespräche mit Joseph Roth, der gesagt hatte, dass der Zionismus keineswegs die Lösung der Judenfrage sei. Wie recht auch er hatte […]. Ich fürchte, dass es noch viel schlimmer werden könnte, und die Spirale der Gewalt sich noch lange drehen wird. Ich fürchte auch, dass aus dem anfänglich sozialistischen Staat Israel ein fundamentalistischer Staat zu werden droht, denn ich sehe mit Entsetzen, wie der Fanatismus religiöser Juden ständig zunimmt und national-orthodoxe Fundamentalisten über Leichen gehen.

Diese Analyse ist zur Zeit, als sie entstanden ist, fast schon prophetisch. Völlig demotiviert verlässt Melzer zum zweiten Mal das Heilige Land und gründet in Köln den Melzer Verlag, dessen vorfinanzierte Buchttitel und Mitarbeiter ihm nach größeren Erfolgen von seinem Compagnon in feindlicher Übernahme abgenommen werden. In Deutschland findet der letzte Lebensabschnitt des Autors statt und spannend – fast wie in einem Thriller – wird der Umbruch im deutschen Verlagswesen ab den späten 50er-Jahren beschrieben. Witzig auch deshalb, weil die Unternehmen und die Protagonisten dieses Verlagskampfes wohlbekannt sind. Am Ende seines Lebens schreibt Melzer in den 80er Jahren an Krebs erkrankt seine Autobiografie, eigentlich nur für seine Kinder, die in einer Schublade verstaubt. Gottseidank hat sie Melzers Sohn Abraham irgendwann gefunden und veröffentlicht.

Fazit: Ein großartiges, spannendes Buch, das zudem auch von den historischen Bezügen her sehr ungewöhnlich, interessant und wertvoll ist und das gerade deshalb so gelungen ist, weil es auf einem sehr ereignisreichen Leben basiert. Diese rasante Autobiografie war es wert, für die Nachwelt zugänglich gemacht zu werden. Sprachlich war es zwar einfacher formuliert, aber die brillanten, ausgewogenen politischen und gesellschaftlichen Analysen des Autors machen dieses winzige Manko allemal wett. Absolute Leseempfehlung!

Ich habe neun Leben gelebt von Joseph Melzer ist 2021 im Westend Verlag als Hardcover erschienen.  Rezension von awogfli

Der Originalartikel kann hier besucht werden