80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion: Bundesregierung und Bundestag gedenken nicht, Bundespräsident wird für Gedenkrede im Museum Karlshorst attackiert.

Ohne jede Beteiligung der Bundesregierung sowie des Bundestags wird am morgigen Dienstag international des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren gedacht. Mit dem Überfall begann die zentrale Phase des deutschen Vernichtungskriegs, der mehr als 27 Millionen Bürger der Sowjetunion das Leben kostete, weite Teile des Landes verwüstete und die jüdische Bevölkerung den deutschen Vernichtungsverbrechen auslieferte. Der Bundestag solle dessen nicht eigens gedenken, sondern stattdessen lieber an der „ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges“ festhalten, erklärt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Eine „Aussprache“ über den Vernichtungskrieg nutzten mehrere Bundestagsabgeordnete, um zu fordern, „die deutschen Verbrechen“ dürften nicht zu Hemmungen bei heutigen Aggressionen gegen Russland führen. Außenminister Heiko Maas lässt die sowjetischen Opfer des Vernichtungskriegs zwischen Opfern aus „Mittel- und Osteuropa“ verschwinden – eine Wortwahl, die NS-Opfer und -Kollaborateure vermischt: Starke Kräfte aus „Mittel- und Osteuropa“ beteiligten sich aktiv am deutschen Vernichtungskrieg.

Der deutsche Vernichtungskrieg

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941 – nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 und dem Überfall auf Jugoslawien am 6. April 1941 – die zentrale Phase des deutschen Vernichtungskriegs in Ost- und Südosteuropa. Dieser ging – in der neueren Geschichte beispiellos – weit über rein militärische Operationen zur Okkupation fremden Territoriums hinaus; er zielte auf die Gewinnung von „Lebensraum“ für das Deutsche Reich und umfasste Massaker an der Zivilbevölkerung, beispiellose materielle Zerstörungen und eine barbarische „Hungerpolitik“, die – exemplarisch im Fall der Blockade Leningrads – die Entvölkerung ganzer Landstriche anstrebte.[1] Er lieferte zudem die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion der Shoah aus. Fielen dem deutschen Vernichtungskrieg in Polen rund sechs Millionen, in Jugoslawien rund zwei Millionen Menschen zum Opfer, so waren es in der Sowjetunion mehr als 27 Millionen, darunter mindestens 14 Millionen Zivilisten. Mehr als drei Millionen sowjetische Soldaten kamen in deutscher Kriegsgefangenschaft zu Tode – durch Hunger, Erfrieren, Krankheiten, Erschießen. Zu den Opfern des deutschen Vernichtungskriegs in Ost- und Südosteuropa gehörten rund fünf Millionen Juden.[2]

Gedenken „nicht ins Auge fassen“

Weder die Bundesregierung noch der Bundestag halten es für notwendig, am 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion der Opfer der deutschen Massenverbrechen zu gedenken. So hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag erklärt, sie führe dazu „keine Veranstaltungen“ durch; auch eine Beteiligung deutscher Regierungsmitglieder an „internationalen Gedenkveranstaltungen“ sei nicht geplant.[3] Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat bereits im April im Namen des Parlaments mitgeteilt, er wolle ein Gedenken zum 22. Juni „nicht ins Auge fassen“: Der Bundestag solle vielmehr pauschal an der „ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges und des von ihm ausgegangenen Leids“ festhalten.[4] Thematisiert wurde der Start in die mörderischste Phase des deutschen Vernichtungskriegs im Osten lediglich bei einer „Aussprache“ im Parlament am 9. Juni – zwischen der „Ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter“ und einer regulären „Befragung“ von Außenminister Heiko Maas zur aktuellen Berliner Außenpolitik. Eine Gedenkveranstaltung führt nur die Linksfraktion am heutigen Montag in den Räumen des Bundestags durch.

„In Deutschland weitgehend vergessen“

Darüber hinaus nimmt nur Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an Gedenkveranstaltungen teil. Damit grenzt er sich von seinem Amtsvorgänger Joachim Gauck ab; dieser hatte den 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in Südosteuropa verbracht und sich am Vorabend zu einem Besuch in Rumänien aufgehalten, das – wie der Historiker Götz Aly kürzlich konstatierte – am 22. Juni 1941 „mit zwölf Divisionen an der Seite Hitlerdeutschlands in die Sowjetunion eingefallen war“.[5] Steinmeier hat am vergangenen Montag die Gedenkstätte im ehemaligen Kriegsgefangenenlager X B Sandbostel besucht; dort waren mindestens 300.000 Kriegsgefangene interniert, darunter wohl rund 70.000 aus der Sowjetunion – „eine Opfergruppe, die auch in der deutschen Erinnerung weitgehend vergessen worden ist“, wie Steinmeier feststellte.[6] Am Freitag hielt der Bundespräsident seine zentrale Gedenkrede im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst – mit dem Hinweis, „vom ersten Tage an“ sei „der deutsche Feldzug getrieben“ gewesen „von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion“. Der Erinnerung daran habe man sich in der Bundesrepublik „zu lange“ verweigert: „Es ist an der Zeit, das nachzuholen.“[7]

„Frieden mit Russland keine moralische Pflicht“

Für seine Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen wird Steinmeier zunehmend kritisiert. Ursache sind Bemühungen, im eskalierenden Machtkampf des Westens gegen Russland die verbliebenen Bindungen zwischen beiden Seiten möglichst umfassend zu zerstören – die Erinnerung an die deutschen Massenverbrechen in der okkupierten Sowjetunion inklusive. So hieß es kürzlich auf der Onlinepräsenz der Zeitung Die Zeit, man müsse sich „von der Vorstellung lösen“, „der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht“.[8] Der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, hat Steinmeiers Rede bei der Gedenkveranstaltung am Freitag unter offiziellem Protest boykottiert: Dass der Bundespräsident seine Rede im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst halte, sei ein „Affront“, äußerte Melnyk; zudem „übersteig[e]“ es seine „Vorstellungskraft“, dass er an der Veranstaltung neben einem russischen Diplomaten teilnehmen solle.[9] Kommentatoren führender Medien schließen sich den Angriffen auf den Bundespräsidenten mittlerweile an: Es sei ein „Fehler“ gewesen, die Gedenkrede in einem Museum zu halten, „zu dessen Trägern“ die „russische Regierung“ gehöre, hieß es in der vergangenen Woche etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[10]

Opfer „in Mittel- und Osteuropa“

Die Bemühungen, Russland nun auch erinnerungspolitisch endgültig zu isolieren und damit letzte Hemmungen gegenüber den eskalierenden Aggressionen gegen Moskau [11] zu beseitigen, führen zunehmend zum Erfolg. So hieß es in der „Aussprache“ des Bundestags am 9. Juni immer wieder, „die deutschen Verbrechen“ dürften „nicht dazu führen“, Sanktionen und sonstige Aggressionen gegen Russland abzulehnen.[12] Gleichzeitig ist die Bundesregierung bemüht, den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in allgemeinen Äußerungen über NS-Opfer „in Mittel- und Osteuropa“ verschwinden zu lassen. So ließ Außenminister Maas einen kurzen Redebeitrag in der Aussage kulminieren, er „verneige“ sich „vor den über 30 Millionen Menschen, die allein in Mittel- und Osteuropa zwischen 1939 und 1945 ihr Leben lassen mussten“.[13] Dass 27 Millionen davon aus der Sowjetunion stammten, ließ Maas ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass einige Staaten „Mittel- und Osteuropas“ sowie starke Kräfte aus anderen Ländern sich am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligten: Die Formulierung des Berliner Außenministers vermischt Opfer und NS-Kollaborateure.

Die Tradition der Kollaborateure

Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil das heutige deutsch dominierte Europa nicht zuletzt auf Kräften aufbaut, die in direkter Tradition zu NS-Kollaborateuren stehen und zu den tragenden Kräften der aktuellen Aggressionen gegen Russland gehören. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.


[1] S. dazu Rezension: Wigbert Benz: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941.
[2] Hannes Heer, Christian Streit: Vernichtungskrieg im Osten. Hamburg 2020.
[3] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Heike Hänsel, Simone Barrientos, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke: Mögliches Gedenken der Bundesregierung an den 80. Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/29115. Berlin, 29.04.2021.
[4] René Heilig: Gedenken an Überfall auf UdSSR abgelehnt. nd-aktuell.de 05.04.2021.
[5] Götz Aly: Krieg & Frieden. berliner-zeitung.de 11.05.2021.
[6] Vergessene Opfer. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.06.2021.
[7] 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion. bundespraesident.de 18.06.2021.
[8] Alan Posener: Deutschlands schallendes Schweigen. zeit.de 30.04.2021. S. dazu „Frieden mit Russland keine moralische Pflicht“.
[9] Botschafter boykottiert Gedenkfeier. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.06.2021.
[10] Reinhard Veser: Steinmeiers Fehler. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.06.2021.
[11] S. dazu In der Eskalationsspirale (II) und In der Negativspirale.
[12] Fraktionen gedenken des Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren. bundestag.de 09.06.2021.
[13] Rede von Außenminister Heiko Maas im Deutschen Bundestag zur Debatte „80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion“. auswaertiges-amt.de 09.06.2021.

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