Dora hat genug. Spätestens, als ihr Partner Robert ihr auch noch die regelmäßigen Gassigänge mit ihrem Hund verbieten will, weiß sie, es ist an der Zeit, zu gehen.

Zum Glück hat sie vorgesorgt: Als Corona immer präsenter und Robert diesbezüglich immer fanatischer wurde, hat sie, einem inneren Gefühl nachgebend, begonnen, sich alte, renovierungsbedürftige Häuser in Brandenburg anzuschauen, ohne Robert in Berlin etwas davon zu sagen. In eines hat sie sich verliebt und den Kaufvertrag unterschrieben.

Und es ist viel einfacher, als geahnt, einen Schlussstrich zu setzen: Sie hat einen festen Job, den sie auch in ihrer neuen Heimat Bracken im Home-Office-Modus absolvieren kann, die Enge der Stadt vermisst sie nicht und so weit ist das Dorf nicht weg von Berlin, als dass sie sich ernsthaft Sorgen um ihre restlichen Freundschaften dort machen müsste.

Und doch ist manches anstrengender und umständlicher als geahnt, als sie schließlich endgültig in ihrem brandenburgischen Haus sitzt und der neue Alltag Einzug hält. Ohne Auto sitzt sie auf dem Trockenen, öffentliche Verkehrsmittel sind zwar in der Theorie vorhanden, helfen aber nicht viel, wenn der Bus dann nur zweimal am Tag fährt. Und dann ist da auch noch dieser grobschlächtige Typ, der direkt nebenan wohnt und ihr über die Mauer hinweg mitteilt, ihren Köter ins Jenseits zu befördern, wenn er ihn noch einmal in seinem Garten beim Buddeln erwischt. Er stellt sich ihr mit den mittlerweile schon fast legendär gewordenen Worten vor: „Ich bin der Dorfnazi.“

Entgegen aller Vermutungen findet Dora dennoch rasch Zugang zu den Dorfbewohnern. Die haben zwar alle ihren eigenen Kopf, sind unbequem, merkwürdig und manchmal eigenbrötlerisch, aber sie leben den Gedanken der Dorfgemeinschaft aufrichtig und machen nicht viel Aufhebens darum. Als man merkt, dass Dora anpacken kann, ihr aber manches an Werkzeug und Wissen fehlt, hilft man ihr. Keiner fragt nach ihrer politischen Einstellung, nach irgendwelchen Eckdaten ihrer bisherigen Biografie, man nimmt sie, wie man sie im Hier und Jetzt erlebt. Und so wird ihre Beziehung zu den Dorfbewohnern, auch zum Nazinachbarn Gote, inniger, als sie es jemals geplant hatte.

Was Juli Zeh hier schreibt, liest sich ein bisschen wie eine Liebeserklärung ans Land Brandenburg, an die Dorfgemeinschaft im Allgemeinen und somit auch an alte Werte, die durch die Anonymität der Stadt vielerorts verloren gehen. Es ist aber keine naive, verklärte Sicht auf das Landleben, sondern es skizziert äußerst präzise alle Vor- und Nachteile. Schonungslos und ohne Bewertung legt sie dar, dass auf dem Land, vor allem in Ecken wie Brandenburg, die wirtschaftlich eher abgehängt sind, viele Dinge anders laufen, als sie sollten. Dass der Gang der Dinge aber auch vorgezeichnet ist, durch die Tatsache, wie sehr diese Landstriche politisch in Vergessenheit geraten sind. Es ist einfach, sich über AfD-Wähler zu beschweren, doch, wer sich vergessen fühlt, klammert sich an jeden Strohhalm, der sich ihm bietet – auch an einen inhaltlich falschen. Wenn es eine Partei schafft, den wunden Punkt zu treffen, dann sind bei manchen die Hemmungen klein, sich einer solchen Gruppierung anzuschließen.

Das Thema, das sich durch das ganze Buch zieht, ist für mich die schwierige Frage, wie sehr man Menschen anhand ihrer (vielleicht auch nur vermeintlichen?) politischen Gesinnung, ihrer Einstellung zu Fremden und Fremdem ganz allgemein, beurteilen muss/darf/kann/sollte oder eben, wie sehr man dies unterlassen könnte/sollte/müsste/dürfte. Wo beginnt die Persönlichkeit, das wirkliche Wesen, das ganz unverstellte Innere eines Menschen und wo hört das auf? Wird dies überlagert oder umhüllt von einer erlernten, angeeigneten, vielleicht auch nur nachgeplapperten und unreflektierten Haltung gegenüber bestimmten Themen?

Dora ist politisch irgendwo links-grün-liberal einzuordnen, sie versucht ökologisch wertvoll zu handeln, ist einigermaßen weltoffen gegenüber Fremden und Fremdem – doch auch sie hat Vorurteile. Aber nicht gegenüber Ausländern, sondern gegenüber politisch Andersgesinnten. Klar, Gote, der rechtslastige Nachbar ist ein Albtraum mit seiner kleinkarierten Sichtweise auf die Welt und seiner gewalttätigen Vergangenheit – und doch hat er ein gutes Herz. Ist nun einer von ihnen wertvoller? Besser?

Diese Krux offenzulegen oder zumindest zu thematisieren, ist wohl das eigentlich Mutige und Innovative an diesem extrem süffigen Buch, das sich unglaublich gut und schnell lesen lässt. Wüsste man nicht um die politisch indiskutable Gesinnung von Gote, man fände ihn zwar weiterhin grobschlächtig, würde sich aber sehr viel leichter damit tun, ihn als herzerfrischend anpackenden, schrulligen, aber in seinem tiefsten Innern liebevollen Menschen zu charakterisieren.

Was also ist wichtig, um das wahre Wesen, den eigentlichen Kern eines Menschen zu definieren, zu beurteilen? Wo liegt die Schmerzgrenze? Ab wann ist jemand untragbar?

Wer das Buch liest, wird in seinem Herzen ähnliche Kämpfe ausfechten, wie ich es getan habe: Darf ich Gote nett finden? Darf ich das schwule Pärchen unsympatisch finden? Wer ist gut, wer schlecht?

Das Buch, so viel steht fest, ist gut :-).

„Über Menschen“ von Juli Zeh ist im März 2021 bei Luchterhand als Hardcover erschienen. Rezension von daslesendesatzzeichen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden