Wir alle versuchen, im gegenwärtigen Chaos einen Sinn zu finden. Manche nennen es Anarchie, aber das ist nicht korrekt, da wir auf vielen Ebenen noch von der Regierung geführt werden.

Dennoch zeigt sich der chaotische Zustand in vielen Situationen und in unserem Handeln: Durch die Klimakrise, Brände, Stürme, Überflutungen, Luftverschmutzungen und Hitzerekorde; in der Politik, in der eine Partei versucht, die begangenen oder beabsichtigten Fehler der anderen zu begleichen, und weder die eine noch die andere hat einen Plan für die Zukunft; in der Gesellschaft, wo Großstädte zum Zentrum von Unruhen, Protesten und Schießereien werden und Geschäfte geschlossen und zugenagelt werden müssen; im Gesundheitssystem, in dem eine Pandemie eine dysfunktionale Gesellschaft und deren Unfähigkeit auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen aufgedeckt hat; und letztendlich in der Wirtschaft, wo die Reichen diese Tragödie ausnutzen um noch wohlhabender zu werden, während denjenigen aus der untersten Einkommensschicht Armut und Obdachlosigkeit droht. Die Situation ist neuartig. Das Auftreten von Depressionssymptomen ist in Zeiten der COVID-19-Pandemie auf mehr als das Dreifache gestiegen; von 8,5% auf 27,8%.

Vor einigen Wochen hat die Hudson Valley Park of Study eine Online-Diskussion mit dem Titel „Im Sterben liegende Menschen begleiten“, in welcher Victor Piccininni, Autor des Buches „El Arte de Acompañar: Herramientas para el Acompañamiento Personal y Espiritual en cuidados paliativos y fin de vida“ („Die Kunst des Begleitens – Werkzeuge und Übungen für den persönlichen und spirituellen Beistand in der Palliativpflege und Sterbebegleitung“) über die drei Phasen des Sterbeprozesses sprach. „Die erste Phase nennt sich Chaos, und ihre wesentlichen Indizien sind Leugnung, ein innerer und äußerer Kampf, Angst, Wut, Isolation, Depression, interne und externe Gewalt“, erklärt er. „Es ist die irrationale Angst die äußere Hülle des Selbst und des Körpers zu verlieren. „Phase zwei“, fährt er fort, „nennt sich Einzug des Dahinscheidens. Es ist eine Kapitulation, eine Abgabe der Kontrolle und ein Eingang von Frieden, Ruhe und Wohlbefinden. Die dritte Phase ist Versöhnung und Transzendenz, in der wir eine tiefe innere Zufriedenheit und eine Wiederversöhnung mit dem Leben verzeichnen.“

Piccininnis Schilderung der Phase „Chaos“ trifft perfekt auf unsere aktuelle Situation zu; es scheint, als ob unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, stirbt. Wir erleben den Zerfall des Weißen Westens, denn wir nehmen täglich Anzeichen der Angst vor dem Kontrollverlust wahr. Im Hinblick auf die gesamte Welt ist nicht jede Kultur auf derselben Stufe dieses Prozesses, aber wir sehen deutlich, dass zumindest der Westen mittendrin steckt. Möchten wir diesen Prozess begleiten, benötigen wir Hilfe dabei, unsere Kultur in die zweite Phase zu befördern: Die Akzeptanz. Wir müssen akzeptieren, dass der Weiße Westen seine Dominanz, seine Übermacht verliert. Die Kultur des Weißen Westens wird nicht mehr der einzig wahre Bezugspunkt und das Zentrum von Prestige sein. Abhängig vom Verlauf der ersten Phase könnte das Chaos entweder weiterhin ausarten, was zu Gewalt und Krieg führen könnte, oder es könnte uns reibungslos in die zweite Phase führen.

Es ist schwierig für uns zu akzeptieren, dass ein Nahestehender stirbt und wir ihn gehen lassen müssen. Manchmal ergreifen wir außergewöhnliche Maßnahmen, um jemanden am Leben zu erhalten, selbst wenn dieser Jemand ein totaler Idiot ist. In der westlichen Kultur wird wenig über den Tod geredet; wir versuchen, das Thema um jeden Preis zu umgehen.

Jedermann, vom rechten bis zum linken Spektrum, weiß, dass die westliche Kultur am Zerfallen ist. Wir sind am Ende der Reise: Es gibt keine Zukunftsvisionen, keine Kraft mehr für eine Umgestaltung. Die einzige Frage, die sich noch stellt, ist, ob wir die Bereitschaft besitzen, diesen Prozess in die dritte Phase zu befördern -Versöhnung und Transzendenz. Diese Phase wird die Bedingungen für die Errichtung einer neuen Gesellschaft schaffen, die „Universelle Menschliche Nation“, in der sich alle menschlichen Nationen mit den unterschiedlichsten sozialen Strukturen zusammenschließen, um sich auszutauschen, zu teilen, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen.

Wie Piccininni sagt: Begleitung ist eine Kunst und eines Tages könnte es notwendig werden, sie sehr schnell zu erlernen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Lena Rexinger, lektoriert von Chiara Pohl beide vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!