Im April hat das Oberlandesgericht München im NSU-Prozess, einem der wichtigsten Gerichtsverfahren der jüngeren deutschen Geschichte, ein schriftliches Urteil gefällt. Den Urteilstext hat es allerdings nicht veröffentlicht. Deswegen sorgen wir jetzt für Transparenz.

Vor zwei Jahren endete vor dem Oberlandesgericht München der erste NSU-Prozess mit Urteilen „im Namen des Volkes“ gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte im Umfeld der NSU-Terrorgruppe. Kaum ein Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde aus der Zivilgesellschaft derart aufmerksam verfolgt – und kaum ein Urteil wurde derart stark kritisiert.

Das liegt nicht nur an den als äußerst mild bemängelten Urteilen gegen manche der Angeklagten, denen Verbindungen zum Mord an zehn Menschen und weiteren Attentaten nachgewiesen wurden. Auch der Urteilstext, der nach zwei Jahren Gerichtsarbeit im April diesen Jahres an Prozessbeteiligte verschickt wurde, fand große Beachtung. Wir veröffentlichen an dieser Stelle erstmals – gemeinsam mit NSU Watch – das schriftliche Urteil des OLG München, um eine breite öffentliche Diskussion darüber zu ermöglichen.

Opfer als „stereotype Statisten“

Die Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız kritisiert, dass das Gericht die Folgen der NSU-Morde für die Hinterbliebenen der Opfer nicht im Urteil berücksichtigt. Die Opfer des NSU würden vom Gericht als „stereotype Statisten“ dargestellt. Tatsächlich zeigt der Urteilstext, dass das Gericht in der Beschreibung der Taten teilweise die Täterperspektive übernimmt. So attestieren die Richter:innen dem Mordopfer Enver Şimşek eine „südländische Abstammung“. Der Begriff „südländisch“ wird im Urteil 66 Mal verwendet. Angehörige der Opfer werden im Urteil nicht zitiert, Angaben zum familiären Hintergrund der Opfer fehlen weitestgehend.

Elif Kubaşık, die Witwe des 2006 vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık, wandte sich daraufhin mit einem offenen Brief an die Richter:innen:

„Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.“

Obwohl die Verbindungen des NSU-Komplexes zu deutschen Inlandsgeheimdiensten offenkundig sind, nimmt das Urteil auf den sogenannten Verfassungsschutz keinen Bezug. So schweigen sich die Richter:innen etwa darüber aus, dass der Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé anwesend war. Auch die Tätigkeit von Zeugen als V-Personen für den Inlandsgeheimdienst bleibt unerwähnt.

Gericht weigert sich, Urteil zu veröffentlichen

Bisher machte das Oberlandesgericht München trotz des überwältigenden öffentlichen Interesses keine Anstalten, das schriftliche NSU-Urteil zu veröffentlichen. Stattdessen sollten selbst Journalist:innen, denen das Gericht in Einzelfällen geschwärzte Scans des Urteils zukommen ließ, zunächst eine „Belehrung“ unterschreiben, unter anderem mit Verweis auf die laufende Revision gegen das Urteil. Auch die Nebenklage erhielt erst mit Verzögerung Zugriff auf das Urteil. Zudem kursierten unter Journalist:innen Scans des Urteils, die mutmaßlich von Anwält:innen der Angeklagten stammen.

Wir veröffentlichen den Urteilstext an dieser Stelle, weil Gerichtsurteile „im Namen des Volkes“ öffentlich zugänglich sein sollten. Die 3025 Seiten des Urteils stehen hier einfach durchsuch- und navigierbar zur Verfügung. Sie können zudem als PDF– und HTML-Datei heruntergeladen werden. Um das Urteil auf anderen Websites einzubinden, kann dieser Link benutzt werden.

Im Urteil haben wir die Nachnamen von Beteiligten sowie vereinzelte Angaben über Gesundheitsinformationen und Angehörige geschwärzt. Die Namen der Todesopfer des NSU – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – haben wir nicht geschwärzt. Auch die Namen der Angeklagten mit Ausnahme von Carsten S. sind vollständig zugänglich.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis NSU Watch leistet seit Jahren sehr wichtige Arbeit. Wenn es Ihnen möglich ist, unterstützen Sie NSU Watch bitte mit einer Spende.

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Beitrag erschienen auf FragDenStaat. FragDenStaat.de ist ein gemeinnütziges Projekt des Open Knowledge Foundation Deutschland e.V.