Die deutsche Wirtschaft dringt auf den Ausbau ihres Chinageschäfts und warnt vor einseitiger Konflikteskalation.

BERLIN/BEIJING(Eigener Bericht) – Begleitet von Warnungen der deutschen Industrie bemüht sich die Bundesregierung trotz des eskalierenden Konflikts mit China um die weitere Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Land. Deutschland habe ein Interesse an „stabilen bilateralen Austauschbeziehungen“, hieß es gestern nach einer Videokonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang. Kurz zuvor hatte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Dieter Kempf, geäußert: „China mag ein systemischer Rivale sein – es bleibt ein wichtiger Partner für die EU und für Deutschland.“ Ursache ist das unverminderte Interesse deutscher Unternehmen nicht nur am riesigen chinesischen Absatzmarkt, sondern auch daran, in der Volksrepublik produzieren zu können: Das Wirtschaftsumfeld dort gilt als außerordentlich forschungs- und innovationsfreundlich – bei weiterhin vergleichsweise niedrigem Lohnniveau. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärt, man könne „keine multilaterale Welt schaffen, ohne dass China daran teilnimmt“.

Im Kampf gegen die Krise

Chinas aktuelle Bedeutung für die deutsche Industrie im Kampf gegen die Coronakrise lässt sich der am Dienstag veröffentlichten deutschen Außenhandelsstatistik für April entnehmen. Im April brachen die deutschen Exporte insgesamt gegenüber dem Vorjahresmonat um 31,3 Prozent auf einen Wert von 75,7 Milliarden Euro ein; einen solchen Kollaps hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegenben. Die Ausfuhren in andere EU-Länder stürzten um 34,8 Prozent ab, die Ausfuhren in die Vereinigten Staaten um 35,8 Prozent, diejenigen nach Italien um 40,1 und diejenigen nach Frankreich sogar um 48,3 Prozent. Die Exporte nach China hingegen gingen nur um 12,6 Prozent zurück; niedrigere Einbrüche verzeichneten sonst lediglich die Ausfuhren in die Türkei und in einige wenige, meist sehr kleine Länder, die wirtschaftlich für die deutsche Industrie nicht ins Gewicht fallen.[1] In der Volksrepublik lief die Wirtschaft schon im Mai zwar noch nicht gänzlich rund, aber doch deutlich besser als in Westeuropa sowie in den Vereinigten Staaten; manche deutschen Konzerne, so zum Beispiel Adidas und Kfz-Produzenten, konnten schon im Mai wieder ein Umsatzwachstum in China erzielen. Der chinesische Markt schaffe vor allem für deutsche Fahrzeughersteller Chancen, urteilt der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer: Sie seien dort deutlich besser aufgestellt als „die europäischen Mitbewerber“, während die US-Konkurrenz „im politischen Chaos“ versinke und in diesem Jahr vermutlich „auf keinen grünen Zweig mehr“ komme. [2]

Im Kampf um den Zukunftsmarkt

Neben der kurzfristigen besitzt China ungeachtet aller globalen politischen Machtkämpfe auch langfristig hohe Bedeutung für die deutsche Industrie. Dies bestätigt eine aktuelle Umfrage, die die EU-Handelskammer in China am Mittwoch vorstellte. Demnach investieren deutsche Unternehmen in der Volksrepublik nicht nur, weil diese einen riesigen Absatzmarkt darstellt: Von den rund 1,4 Milliarden Chinesen werden inzwischen – nach unterschiedlichen Schätzungen – 400 bis 700 Millionen den Mittelschichten zugerechnet; Beijings erfolgreicher Kampf gegen die Armut bringt aus Sicht westlicher Unternehmen zahlenstarke kaufkräftige Mittelschichten hervor. Zum Vergleich: Die EU-Länder zählen aktuell zusammengenommen rund 450 Millionen Einwohner, die Vereinigten Staaten knapp 330 Millionen. Hinzu kommt der Umfrage zufolge vor allem, dass China mittlerweile aus Sicht europäischer Unternehmen ein zunehmend forschungs- und innovationsfreundliches Wirtschaftsumfeld aufweist. 38 Prozent der befragten Firmen urteilten, das Land habe diesbezüglich bereits das globale Durchschnittsniveau erreicht; 40 Prozent stuften es gar oberhalb des globalen Durchschnitts ein. Weit überwiegend positiv bewertet wurden außerdem der Zugang ausländischer Unternehmen zu Forschungs- und Entwicklungszuschüssen, die Produktivität chinesischer Forschungsteams sowie die Verfügbarkeit hochqualifizierten Arbeitspersonals – dies bei im Weltmaßstab weiterhin niedrigem Lohnniveau. [3]

Optimistische Prognosen

Dabei hat sich das Geschäftsklima in der Volksrepublik schon im vergangenen Jahr aus der Sicht europäischer Unternehmen kontinuierlich verbessert. Dies belegen die Detailergebnisse der Umfrage, die im Februar erhoben wurde; die Coronakrise spiegelt sich in ihnen noch kaum wider. Demnach gaben sich nur 17 Prozent der befragten Unternehmer bezüglich des Wachstums ihrer Firma in China pessimistisch, 48 Prozent hingegen optimistisch; nur 17 Prozent klagten über Umsatzeinbußen. 41 Prozent waren mit Beijings jüngsten Schritten zur Marktöffnung zufrieden, mehr denn je seit 2015. Die Zahl der Unternehmen, die sich im Vergleich zu chinesischen Firmen benachteiligt fühlten, lag – nach 57 Prozent im Jahr 2016 – nur noch bei 40 Prozent; hinzu kamen zehn Prozent, die ausländische Unternehmen sogar im Vorteil sahen. 23 Prozent fanden, sie seien einheimischen Firmen schon jetzt faktisch gleichgestellt; 12 Prozent meinten, dies werde in spätestens zwei Jahren erreicht sein, während 22 Prozent vermuteten, dies könne noch bis zu fünf Jahre dauern. Nur elf teilten mit, sie zögen eine Verlagerung ihrer Investitionen aus der Volksrepublik in andere Länder in Betracht – der niedrigste Wert seit 2016. Eine Zusatzumfrage, erhoben nach der Eskalation der Coronakrise, zeigte, dass zwar 41 Prozent sich veranlasst sahen, ihre Investitionspläne zu überdenken; allerdings ging es lediglich vier Prozent um einen etwaigen Wegzug aus China. Als größte Bedrohung für das Geschäft wurde außer der Coronakrise der US-Wirtschaftskrieg gegen die Volksrepublik eingestuft. [4]

Gleichstellung angestrebt

Um die Bedingungen für Unternehmen aus der EU weiter zu verbessern und nach Möglichkeit vollständige Gleichstellung mit einheimischen Firmen zu erreichen, strebt Brüssel den Abschluss eines neuen Investitionsabkommens mit Beijing an. Ursprünglich war geplant, das Abkommen auf einem EU-China-Gipfel zu unterzeichnen, der für den 12. September in Leipzig vorgesehen war. Der Gipfel ist nun allerdings verschoben worden – offiziell wegen der Covid-19-Pandemie, doch heißt es, eine Rolle gespielt habe auch, dass das Abkommen noch längst nicht unterschriftsreif sei. Am Dienstag hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell den Druck zu erhöhen versucht und Beijing nicht nur unzureichenden Willen zur Einigung vorgeworfen, sondern auch einen Verstoß gegen Absprachen aus dem vergangenen Jahr. [5] Zudem hat die EU-Handelskammer in China den Außenbeauftragten zu unterstützen versucht, indem sie die erwähnte Umfrage dahingehend interpretierte, die Ungewissheit für Firmen aus der EU in China sei so groß „wie seit Generationen nicht mehr“: Sie „tappen im Dunkeln“, klagte die Vizepräsidentin der Handelskammer, Charlotte Roule. [6] Ihre taktische Rückendeckung für Borrell deckt sich freilich nicht wirklich mit den tatsächlichen Resultaten der Umfrage.

„Keine multilaterale Welt ohne China“

In einer Videokonferenz mit Chinas Ministerpräsident Li Keqiang hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am gestrigen Donnerstag gleichfalls über das geplante Investitionsabkommen verhandelt. Dabei habe sie, teilte das Bundespresseamt anschließend mit, Deutschlands Interesse nicht nur „an regelbasiertem und freiem multilateralem Handel“ unterstrichen, sondern auch „an stabilen bilateralen Austauschbeziehungen“ [7]: eine Absage nicht nur an den wirtschaftspolitischen Kurs der Vereinigten Staaten, sondern auch an Überlegungen, die US-Sanktionspolitik gegenüber China in der EU zu übernehmen, wie sie kürzlich der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen) geäußert hatte (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Freilich hält der Druck vor allem transatlantischer Kreise, die Chinas Aufstieg stoppen wollen und deshalb ökonomische Zwangsmaßnahmen gegen die Volksrepublik fordern – zumindest einen Boykott des High-Tech-Konzerns Huawei -, an. Der Versuch, beides zu verbinden – den Einsatz für Interessen vor allem deutscher Unternehmen in China und den Kampf gegen den Aufstieg der Volksrepublik -, führt für die EU dabei zu immer größeren Schwierigkeiten. So hieß es am Dienstag, ein Treffen zwischen Borell und dem chinesischen Außenminister Wang Yi sei „sehr offen und freimütig“ gewesen; dies ist die diplomatische Formulierung für schwere Differenzen.[9] Zugleich sah sich Borrell aber zu einer Relativierung gezwungen. Befragt, was es bedeute, dass die EU die Volksrepublik als „strategischen Rivalen“ einstufe, erklärte der EU-Außenbeauftragte, Brüssel glaube nicht, „dass China den Weltfrieden bedroht“; vielmehr gelte: „Man kann keine multilaterale Welt schaffen, ohne dass China daran teilnimmt.“

[1] Exporte im April 2020: -31,1 % zum April 2019. destatis.de 09.06.2020.

[2] hilip Kaleta: Für die deutsche Autobranche wird das Geschäft in China nun zum entscheidenden Faktor, sagt Autoexperte Dudenhöffer. businessinsider.de 03.06.2020.

[3], [4] European Chamber: Business Confidence Survey 2020. Navigating in the Dark. Beijing, June 2020.

[5] EU wirft China Bruch von Absprachen vor. handelsblatt.com 09.06.2020.

[6] Europäische Firmen in China „tappen im Dunkeln“. dw.com 10.06.2020.

[7] Videokonferenz von Bundeskanzlerin Merkel mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 11.06.2020.

[8] S. dazu Der grüne Kalte Krieg.

[9] Thomas Gutschker: Dialog unter Rivalen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.06.2020.

 

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