Franck Gaudichaud* kehrte vor einigen Wochen von einem Aufenthalt in Chile zurück und gab uns ein Interview, um über die mehr als sechs Monate andauernden sozialen Unruhen zu sprechen, die das Land erschütterten.

Der chilenische Aufstand begann im Oktober 2019 und breitete sich nach der Entscheidung der Regierung Piñeras, die Preise für U-Bahn-Tickets zu erhöhen, wie ein Lauffeuer in der studentischen Bewegung aus. Die Unterdrückung der chilenischen Jugend mobilisierte schließlich die gesamte Gesellschaft, nun nicht mehr gegen die Erhöhung der Transportpreise, sondern gegen das gesamte von der Pinochet-Diktatur übernommene neoliberale System zu demonstrieren.

Am 22. Oktober, als bereits ein Dutzend Menschen getötet und mehr als 80 verletzt worden waren – einige von ihnen wurden von den Carabineros (chilenische Nationalpolizei) erschossen – während die Militärpatrouillen in Santiago Folter und sexuelle Gewalt anwandten, entschuldigte sich Präsident Sebastián Piñera öffentlich bei der chilenischen Bevölkerung. Und er kündigte soziale Maßnahmen an, die darauf abzielen, den Zorn der Aufständischen zu „besänftigen“: eine Erhöhung des Mindestlohns, eine 20%-ige Erhöhung der Mindestrente, die Aufhebung der kürzlich erfolgten Erhöhung der Stromtarife um 9,2%, die Schaffung einer neuen Steuerklasse für diejenigen mit einem Einkommen von über 8 Millionen Pesos pro Monat (9.600 USD), eine Kürzung der Gehälter der Parlamentarier*innen usw.

Darüber hinaus stimmte die Abgeordnetenkammer am 24. Oktober (88 dafür, 24 dagegen und 27 Enthaltungen) über einen Gesetzentwurf zur Verkürzung der Arbeitswoche von maximal 45 auf 40 Stunden ab. Der Vorschlag wird zunächst durch einen zuständigen Ausschuss und dann durch den Senat gehen müssen.

Jérôme Duval: Es gab einen Wandel in der Haltung der Regierung, der auf den ersten Blick wesentlich zu sein scheint. Warum haben diese Ankündigungen die Rebellion nicht besänftigt?

Franck Gaudichaud: In Wirklichkeit ist die so genannte „Sozialagenda“ durch die Regierung völlig in Vergessenheit geraten. Es wurden Ankündigungen gemacht, es wurde sogar eine Website der Regierung eingerichtet, auf der die erzielten Fortschritte angezeigt werden, als hätten wir 77% der Realisierung dieses Sozialprogramms erreicht. Betrachtet man die Details, so sind die meisten Maßnahmen noch nicht umgesetzt worden, und jetzt erst recht nicht umgesetzt werden können, im Kontext einer globalen Pandemie und einer Gesundheitskatastrophe, in einem durch Jahrzehnte des Neoliberalismus verwüsteten Gesundheitssystem. Selbst wenn einige soziale Maßnahmen umgesetzt werden, wie z.B. eine leichte Anhebung der Mindestrente im Alter, Boni für niedrigere Löhne oder kleine Verbesserungen in der Krankenversicherung, bleibt die Logik neoliberal, d.h. dass der Staat mit öffentlichen Geldern dem Bildungs-, Gesundheits- oder Rentenmarkt „hilft“ und ihn unterstützt. Darüber hinaus ist das, was die Regierung ankündigt, wirklich das Minimum, und es ist ziemlich erbärmlich. Es hätte einen gewissen Fortschritt bei der Ankündigung der Reichensteuer geben können, aber nichts: Piñera, der Teil der Finanzoligarchie ist, wird vollständig vom Kapitalismus kontrolliert und hat nicht die Absicht, die herrschende Klasse zu besteuern. Was ein weitreichendes Programm von Sozialreformen betrifft, so ist der bisher am weitesten entwickelte Vorschlag der „Mesa de Unidad Social“ (Rat für soziale Einheit), dem die CUT (Central Unitaria de Trabajadores / Einheitliche Arbeiterzentrale), mehrere Gewerkschaften und viele andere Organisationen (vor allem Feminist*innen und Umweltschützer*innen) angehörten, bis er in den letzten Wochen zusammenbrach. Es handelt sich um einen 10-Punkte-Plan, auf den die Regierung nicht reagiert hat.

Es gibt gewaltsame Unterdrückung durch die Carabineros und gleichzeitig erlässt das Justizsystem Gesetze, die die Freiheit zerstören, um die Mobilisierung zu unterbinden. Ist das neueste Gesetz, das das Maskieren bei Demonstrationen verbietet, ein Beispiel dafür?

Tatsächlich war die Reaktion der Regierung von Beginn der Bewegung an eine Form von Unterdrückung, eine wirklich heftige staatliche Repression mit dem Militär auf den Straßen und dem systematischen Einsatz von Bleigeschossen durch die Carabineros. Heute wird die chilenische Regierung international, aber auch innerhalb des Landes vom Nationalen Institut für Menschenrechte, einer staatlichen Institution, angeprangert. Das Institut zählt mehr als dreißig Tote, fast 400 verlorene Augen und mehrere tausend Verwundete, darunter Hunderte durch Bleikugeln. Es gab auch Fälle von Folter und Vergewaltigung in Polizeidienststellen, und es gibt Berichte über Tausende von Menschen, die seit Monaten im Gefängnis sitzen und von den Demonstrant*innen als politische Gefangene betrachtet werden: Gegenwärtig befinden sich noch mehr als 2.000 dieser politischen Gefangenen im Gefängnis, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem das Coronavirus droht, Tausende von Menschenleben zu gefährden, vor allem in Gefängnissen. Und die Reaktion des Parlaments bestand darin, diese Unterdrückung durch ein kürzlich verabschiedetes Gesetz, dem auch die parlamentarische Linke und die Opposition zugestimmt haben, zu verstärken, welches den gesellschaftlichen Widerstand kriminalisiert. Heute können Menschen ins Gefängnis kommen, weil sie eine Straßenblockade errichtet und den Verkehr behindert haben oder weil sie während einer Demonstration eine Kapuze tragen.

Es gibt eine starke Protestbewegung gegen das Rentenmodell, gegen privatisierte Pensionsfonds. Welche Auswirkungen hat sie, und kann man sagen, dass sie in Frankreich ein Echo mit der dortigen Bewegung gegen das Rentengesetz findet?

Zu den gesammelten Erfahrungen mit sozialen Mobilisierungen in den letzten Jahren gehört die Massenbewegung „No + AFP“, was im Grunde bedeutet: „Wir wollen keine Rentenfonds mehr“. Mit diesem Kampf ist es gelungen, eine massive Ablehnung dieses kapitalistischen Systems in der Bevölkerung zu zeigen, einfach weil die Auszahlungsrate der chilenischen Renten zu den niedrigsten der Welt gehört. Einige Arbeiter*innen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, finden sich mit weniger als 20% ihres letzten Gehalts im Ruhestand wieder. Obwohl die Hälfte aller Arbeitnehmer*innen weniger als 500 USD „netto“ pro Monat verdient… Dies ist ein praktischer Beweis für das völlige Scheitern des Finanzierungssystems. Chile ist das Land mit der längsten neoliberalen Geschichte der Welt (seit 1975) und gehört zu den radikalsten. Private Renten wurden unter der Diktatur von Sebastian Piñeras Bruder, José Piñera, der Pinochets Minister war, brutal eingeführt. Auf dem Höhepunkt der Diktatur mussten alle diese gewaltsame Reform erdulden… mit Ausnahme des Militärs, das sein Beitragssystem beibehalten hat. In Meinungsumfragen erscheint die Forderung, das private Rentensystem zu beseitigen oder es zu reformieren, an erster Stelle nach der Forderung nach einer neuen Verfassung. Wenn wir verstehen wollen, warum das Finanzierungssystem und die Privatisierung unserer Renten so dramatisch ist, müssen wir uns die katastrophalen Ergebnisse der chilenischen Geschichte ansehen. Daher steht dies auch in direktem Zusammenhang mit den Mobilisierungen der letzten Monate in Frankreich, da wir sehen können, dass die Gewerkschaften, die französischen Arbeiter*innen, sich der Reform der Regierung von Macron und dem Projekt eines „Punktesystems“ widersetzten, das – auf lange Sicht – die Einführung der Kapitalisierung und privater „Black-Rock“-Rentenfonds und anderer erleichtern wird.

Eine weitere zentrale Forderung der Bürgerrechtsbewegung verlangt eine Änderung der von Pinochet übernommenen Verfassung. Am 15. November 2019 unterzeichneten die im Parlament vertretenen Parteien ein „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“. Diese Initiative schlug für den 26. April eine Abstimmung vor, bei der die Wähler*innen aufgefordert werden, zwei Fragen zu beantworten. Auf die erste Frage „Wollen Sie eine neue Verfassung?“ folgt eine zweite, in der die Wähler*innen aufgefordert werden, zwischen einem „Verfassungskonvent“, der sich ausschließlich aus Mitgliedern der Zivilgesellschaft zusammensetzt, und einer „gemischten Versammlung“ zu wählen, der Bürger*innen und Parlamentarier*innen angehören. Für welche Option entscheiden wir uns? Könnte dieser von der Regierung vorgeschlagene Prozess die Aufmerksamkeit ablenken und ein Weg sein, den Aufruhr auf den Straßen zu beruhigen?

Das Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung wurde im Parlament kurz nach dem zweiten großen nationalen Streik, der diese Mobilisierungsphase Ende November 2019 prägte, ausgehandelt. Dieses Abkommen strebt, wie der Titel schon andeutet, nach „sozialem Frieden“ und will damit die Rebellion des Volkes in den Straßen beruhigen und kanalisieren, die sich mit dem Großkapital konfrontiert sah und eine Blockade der Wirtschaft befürchtete. Das Abkommen wurde auch unter dem Druck des Militärs erreicht, da Gerüchte kursierten, dass ohne eine Einigung auf parlamentarischer Ebene ein Staatsstreich stattfinden könnte. Unter den Unterzeichnern sind natürlich die Rechte, die Mitte und sogar einige Vertreter*innen der Frente Amplio (der „neuen“ Linken). Es geht also darum zu versuchen, der Volksmobilisierung ein Ende zu setzen und gleichzeitig die Hauptforderung der Mobilisierten teilweise zu integrieren: mit einer neuen Verfassung. In gewisser Weise ist dies ein Sieg für die Mobilisierungen „von unten“, denn zum ersten Mal erkennt die politische Elite Chiles die Notwendigkeit einer Änderung der 1980 von Pinochet übernommenen Verfassung an. Aber das Abkommen bietet genügend Raum, um diesen Vorgang zu kontrollieren.

Im April, wenn die Pandemie es zulässt, was sehr unwahrscheinlich ist[1], sollte die Abstimmung zu einem „Ja“ zu einer neuen Verfassung und einem Verfassungskonvent führen, d.h. zu der „fortschrittlichsten“ der in der parlamentarischen Vereinbarung vorgeschlagenen Optionen. Aber es handelt sich um einen „Verfassungskonvent“, in dem die „alten“ Parteien, die seit 1990 an der Macht waren, den Veränderungsprozess unter Kontrolle halten wollen und in dem es keine Garantie dafür gibt, dass die unabhängigen Listen der Bürger*innen bis zum Ende im Konvent teilnehmen werden können. Noch immer wird über die Vertretung der indigenen Völker verhandelt, was einige Rechte nicht wollen, und über die Geschlechterparität, da diese im ursprünglichen Abkommen nicht vorgesehen war. Vor allem hat die Rechte versucht, die Verfassungsdiskussion zu beenden und hat eine Zweidrittelmehrheit für die Zustimmung zu jedem Artikel der künftigen Magna Carta durchgesetzt, während ein anderer Teil der konservativen Parlamentarier*innen insgesamt jede Aussicht auf eine Änderung von Pinochets Verfassung ablehnt. Dies bedeutet nicht, dass die Linke auf eine Einmischung in dieses künftige Referendum verzichten muss: Große Teile der sozialen und politischen Linken (einschließlich des liberalen Sektors) beabsichtigen, in diesen Machtbereich vorzudringen und versuchen, eine verfassungsmäßige Öffnung des Systems zu erleichtern und die Strategie der Kontrolle „von oben“ über die Regierung zu destabilisieren, um einen wirklich demokratischen Verfassungsprozess zu erreichen oder zumindest zentrale Fragen auf den Tisch zu legen, wie ein Ende der Privatisierung von Wasser, Bildung und Gesundheit. Sie zielt auch darauf ab, neue politische Rechte vorzuschlagen, z.B. die Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte des Mapuche-Volkes oder die Renationalisierung von Kupfer. Andere Sektoren der Linken und der Volksversammlungen rufen ihrerseits zu einem aktiven Boykott des Referendums auf, um das zu verurteilen, was sie als eine neue Wahlfarce und einen „Aufwasch“ der von den herrschenden Klassen vereinbarten „Konsens“-Demokratie ansehen, die seit dem Übergang von 1990 besteht. Beide Seiten haben Argumente für und gegen den Boykott.

Text auf dem Foto: Das Fernsehen lügt, wacht auf und organisiert euch.

Der Verfassungsprozess ist ein zentrales Thema der Bürger*innenversammlungen, auch Cabildos genannt, die im ganzen Land entstanden sind. Wie funktionieren diese Versammlungen und gibt es eine Art Koordination?

Einer der interessantesten selbstverwalteten und demokratischen Aspekte der Bewegung sind in der Tat diese regionalen und nachbarschaftlichen Versammlungen. Es gab eine kleine Kontroverse zwischen „Cabildos“ und „Versammlungen“, da die „Cabildos“ oft von Parteien oder etablierten Gruppen und die „Versammlungen“ von Personen einberufen wurden, die keiner politisch-gesellschaftlichen Organisation angehörten. Heute scheint mir diese Debatte jedoch überholt zu sein. Es gibt Dutzende von Versammlungen in Santiago und in mehreren anderen Städten des Landes, wie zum Beispiel in Antofagasta oder Concepción. Es sind Momente der kollektiven Ausarbeitung, der Debatte darüber, welche Art von Gesellschaft aufgebaut werden soll, welche Art von Verfassung, welches Wirtschaftsmodell, Gesundheits- oder Bildungswesen, aber auch darüber, wie man sich vor Unterdrückung oder gar der Plünderung von Geschäften und Läden usw. schützen kann.

Die Stärke dieser Bewegung liegt in ihrer regionalen Einbettung und ihrer horizontalen Hierarchien. Während die meisten Gewerkschaften nach wie vor geschwächt und die wichtigsten politischen Parteien völlig in Verruf geraten sind, gibt es eine starke Politisierung „von unten“, insbesondere wenn die Versammlungen gut strukturiert sind. In den letzten zwei Wochen gab es in Santiago Versuche, rund fünfundzwanzig regionale Versammlungen oder Organisationen zu koordinieren, die diesen Kämpfen eine eindeutig anti-neoliberale, feministische und demokratische Perspektive zu geben versuchen. Dies wird in ihren Reden und Diskussionsformen sehr deutlich. Klar ist, dass jetzt mit COVID-19 alles mehr oder weniger zum Erliegen gekommen ist, aber es bestehen bereits Kontakte und Solidaritäts-Netzwerke, und das ist entscheidend.

Vor einigen Wochen wurden Fußballfans getötet, darunter Jorge Mora, der von einem Polizeifahrzeug mitgeschleift wurde, und Ariel Moreno Molina, 24 Jahre alt, der bei einem Protest gegen Moras Tod erschossen wurde. Es scheint, dass die soziale Bewegung wieder auflebt. Was ist Ihre Meinung dazu?

Während der Weihnachtsferien, den Sommerferien in Chile, sind die Proteste zurückgegangen, trotzdem kam es jeden Freitag auf der „Plaza de la Dignidad“, wie sie jetzt umbenannt wurde, zu Demonstrationen und Konfrontationen mit den Carabineros. In gewisser Weise ist es eine Art chilenische „Gelbwesten“-Bewegung! Bis zum Ausbruch der Gesundheitskrise und der Pandemie gingen andere Mobilisierungen weiter, wie die der jungen Schüler*innen der Mittel- und Oberstufe, die in den letzten Wochen sehr aktiv waren. Sie haben die „PSU“ (Prueba de Selección Universitaria) boykottiert, eine elitäre und sehr ungerechte Hochschulaufnahmeprüfung.

Aber auch die Unterdrückung geht weiter, und Demonstrant*innen wurden getötet. Die Ablehnung der Regierung durch die Bevölkerung ist massiv: Piñeras Zustimmungsrate ist auf 6% gesunken und liegt damit unter der Zustimmungsrate von Pinochet, was ein historischer Wert ist. Wir haben dies sehr deutlich während des Musikfestivals von Viña del Mar im Februar beobachtet, wo das Publikum und verschiedene Künstler*innen (wie z.B. Mon Laferte) all ihre Ablehnung Piñeras Politik zum Ausdruck brachten, die Forderungen der sozialen Bewegungen aufgriffen und die Repression anprangerten, was alles von zig Millionen Zuschauer*innen in Chile und ganz Lateinamerika live mitverfolgt wurde!

Tatsächlich wurde angekündigt, dass es im März, wenn das Schul- und Universitätsjahr beginnt, eine sehr starke Fortsetzung der Volksbewegungen geben wird, doch das Coronavirus sorgt wie überall auf der Welt für eine Art „Stillstand“ und die Regierung versucht, diese Situation zu nutzen, um die Volksaufstände zu zerschlagen. Die Oppositionsparteien der Mitte und der linken Mitte (die frühere „Concertación“) haben bereits angekündigt, dass sie bereit sind, einen neuen „Pakt“ mit der Rechten und Piñera im Namen der Aufrechterhaltung der „nationalen Einheit“, des „sozialen Friedens“ und jetzt des Gesundheitsnotstands zu schließen, was ihre Rolle im Dienste der „Ordnung“ der Demokratie des Konsenses und des radikalen Neoliberalismus, der im Land herrscht und den sie seit Jahrzehnten vertreten, bestätigt.

Ein letztes Wort?

Wir sollten uns wirklich ansehen, was in Chile geschieht: „Chile ist uns nah“, wie man in den 1970er Jahren, zur Zeit Allendes Experiments und nach dem Staatsstreich von 1973, in den Kreisen der europäischen radikalen Linken zu sagen pflegte. Ich denke, das ist auch heute noch der Fall, um die neoliberale Welt, in der wir heute leben, zu lesen und zu verstehen. Es ist dringend notwendig, die andauernde Repression mit allen Mitteln anzuprangern und unsere internationale Solidarität mit dem dortigen Widerstand zu organisieren, insbesondere jetzt mit all den politischen Gefangenen und Verwundeten. Es ist wichtig zu verstehen, was im „globalen Süden“ geschieht, um zu erfahren, welche Welt die Neoliberalen und ihre Ideologien sich für uns vorstellen.

Die Internationalisierung des Kapitals ist in diesem Zusammenhang sehr deutlich: Chile ist das Versuchslabor des neoliberalen Kapitalismus, und es ist auch ein Zerrbild der globalen Entwicklungen, einschließlich dessen, was in den „reichen Ländern“ des Nordens geschieht, Entwicklungen, die wir hier in Frankreich täglich unter der Regierung Macrons beobachten können, vor allem durch die Rentenreform, durch die zunehmende Unterdrückung der französischen Sozialbewegung und jetzt durch das Management der Pandemie. Die beste Art und Weise, unsere Solidarität mit den Widerständen der chilenischen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen, ist der kollektive Widerstand hier und heute gegen die Dampfwalze des Macronismus.

Interview von Jérôme Duval (www.elsaltodiario.com), Übersetzung aus dem Englischen  von Elena Heim vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


[1] Angesichts der Pandemie beschloss Piñera schließlich, das Referendum auf Oktober zu verschieben.

* Franck Gaudichaud ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Toulouse – Jean Jaurès (Frankreich), wo er lateinamerikanische Geschichte lehrt. Er ist auch Mitglied des Redaktionsausschusses der französischen Zeitschrift Contretemps: https://www.contretemps.eu. Er ist der Autor des Buches „Chili 1970-1973. Mille jours qui firent trembler le monde“ (Presses universitaires de Rennes, 2013). Zusammen mit Jeff Webber und Massimo Modonesi (UNAM, 2019) hat er auch ein Buch über die progressiven Regierungen Lateinamerikas verfasst, das online (auf Spanisch) unter http://ciid.politicas.unam.mx/www/libros/gobiernos_progresistas_electronico.pdf erhältlich ist.