Amnesty International bedauert den Entscheid des Walliser Kantonsgerichts, an der Verurteilung der Menschenrechtsverteidigerin Anni Lanz festzuhalten. Sie kam in Domodossola einem schwer traumatisierten afghanischen Asylsuchenden zu Hilfe, der sich in einer Notlage befand und bei Minustemperaturen im Freien schlafen musste, und brachte ihn in die Schweiz zurück. Das Gericht bestätigte nun die Verurteilung der Vorinstanz wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise».

«Dieses Urteil ist eine traurige Niederlage für alle Menschen, die sich für die Rechte von MigrantInnen, Asylsuchenden und Menschen auf der Flucht einsetzen. Anni Lanz hat einzig aus Mitgefühl gehandelt, ihre Verurteilung ist nicht nachvollziehbar», sagte Muriel Trummer, Asylexpertin bei Amnesty Schweiz, die den Prozess vor Ort verfolgt hatte.

Anni Lanz wurde ursprünglich per Strafbefehl wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise» zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Aufgrund «leichter Begehung» milderte das Bezirksgericht auf Einsprache hin die Strafe und sprach stattdessen eine Busse aus. Dieser Schuldspruch wurde nun vom Walliser Kantonsgericht bestätigt. Er kann an das Bundesgericht weitergezogen werden.

«Anni Lanz ist keine Schlepperin. Sie hat aus reinem Mitgefühl einem Menschen in einer verzweifelten Lage geholfen. Das Gericht hätte dies anerkennen und Anni Lanz freisprechen können – das geltende Recht hätte dies durchaus erlaubt. Das Kantonsgericht hat diese Chance verpasst und stattdessen einen Menschen verurteilt, der Nächstenliebe und Zivilcourage gezeigt hat.»

«Warum muss ich mich rechtfertigen für mein Handeln. Warum müssen sich nicht die Schweiz und Italien rechtfertigen? Eigentlich müssten doch die Behörden erklären, warum sie einen suizidgefährdeten, schwer traumatisierten Menschen entgegen des ausdrücklichen Rats der Ärzte von seiner Schwester trennen und ihn nach Italien ausschaffen, wo er sich selbst überlassen wurde», sagte Anni Lanz.

«Solidarität sollte nie bestraft werden. Menschenschmuggler, die die Notlage von Menschen auf der Flucht ausnutzen und sich bereichern, sollen von den Schweizer Behörden verfolgt werden. Nicht aber Bürgerinnen und Bürger, die lediglich aus Mitgefühl handeln», so Muriel Trummer. «Die Schweizer Asylbehörden sind ausserdem gehalten, die Dublin-Verordnung weniger hart anzuwenden. Insbesondere wenn es dabei um besonders verletzliche Menschen geht – wie in vorliegendem Fall eines schwer traumatisierten Afghanen mit nahen Familienangehörigen in der Schweiz. In solchen Fällen muss die Schweiz die Asylgesuche selber behandeln, statt die Leute in andere europäische Staaten zurückzuschicken, in denen ihnen grundlegende Bedürfnisse verwehrt werden.»

Harte Dublin-Praxis der Schweiz

Ärztliche Berichte empfahlen eindringlich, den jungen Afghanen, der mehrere Suizidversuche hinter sich hatte, nicht nach Italien zurückzuschicken, sondern ihn in der Nähe seiner Schwester und ihrer Familie in der Schweiz zu lassen. Sein psychischer Zustand hatte sich stark verschlechtert, nachdem er vom Tod seiner Frau und seines Kindes in Afghanistan erfahren hatte. Die behandelnden Ärzte rieten denn auch eindringlich davon ab, den Mann nach Italien zurückzuschicken, da sie insbesondere aufgrund der Familientrennung von einem hohen Risiko einer drastischen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bis hin zum Suizid ausgingen. Dennoch ordneten die Asylbehörden unter Anwendung der Dublin-Verordnung seine Wegweisung nach Italien an. Als Anni Lanz erfuhr, dass das Zentrum für Asylsuchende (CAS) in Mailand den Afghanen nicht aufnehmen konnte und er bei fast minus 10 Grad draussen schlief, fuhr sie im Februar 2018 kurzerhand nach Italien.

Sie fand ihn am Bahnhof Domodossola unterkühlt und in desolatem Zustand vor, weshalb sie keine andere Lösung sah, als ihn in die Schweiz zurückzubringen. Am Grenzübergang von Gondo wurde sie von der Polizei angehalten und in der Folge wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise» (Art. 116 Ausländer- und Integrationsgesetz) verurteilt.

Untragbare Situation für Asylsuchende in Italien

«Die Schweiz muss die jüngsten Verschlechterungen der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien berücksichtigen und die Dublin-Verordnung mit mehr Augenmass anwenden, um Situationen zu verhindern, in denen verletzliche Menschen auf der Strasse landen, ohne Zugang zu grundlegender Versorgung», erklärte Muriel Trummer.

Die ohnehin schon prekären Aufnahmebedingungen in Italien wurden durch das «Dekret Salvini» vom 5. Oktober 2018, das Ende November 2018 von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde, weiter verschärft. Dieses Dekret sieht unter anderem vor, dass Asylsuchende, einschliesslich derjenigen, die aufgrund der Dublin-Verordnung zurückgeschickt werden, keinen Zugang mehr zum SPRAR-System haben (Aufnahmezentren für besonders verletzliche Personen). Neu werden sie in grossen Kollektivzentren oder Notaufnahmezentren untergebracht. Das medizinische Personal dort ist überlastet und die Gesundheitsversorgung deshalb nur minimal. Ausserhalb dieser Zentren haben Asylsuchende nur Zugang zur Notversorgung.

Hindergrundinformationen

Die Baslerin Anni Lanz kämpft seit Jahrzehnten unermüdlich für die Rechte von Menschen auf der Flucht. Sie war langjährige politische Sekretärin der Nichtregierungsorganisation Solidarité sans Frontières.

In zahlreichen Ländern weltweit werden Menschen, die sich für die Rechte von MigrantInnen, Asylsuchenden und Menschen auf der Flucht einsetzen, Opfer von Repression und Hetzkampagnen. In der Schweiz wird strafrechtlich verfolgt, wer Menschen in Not hilft, die nicht über die notwendigen Papiere verfügen. Dies auch, wenn die Hilfe uneigennützig und aus reinem Mitgefühl erfolgt. Mit der Kampagne «FREI» unterstützt Amnesty Schweiz eine Petition, die eine Revision des Artikels 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes verlangt, damit Menschen frei sind zu helfen und nicht mehr strafrechtlich belangt werden können, wenn sie selbstlos handeln.