Warum wir uns den Ort der Erinnerung an 1989 nicht nehmen lassen dürfen

»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.« Dies wusste bereits August Bebel. Und sein Satz ist heute noch genau so aktuell wie er es vor über 100 Jahren war. Warnt er uns doch, wachsam im Umgang mit unserer Geschichte zu sein:

Am 27. März 2018 hat der Berliner Senat beschlossen, neben dem Denkmal auch das Eigentum des hinter der »East Side Gallery« gelegenen »Freiraums« an die Stiftung Berliner Mauer zu übertragen. Gerade letzteres ist ein No-Go. Der gesetzliche Auftrag der Stiftung Berliner Mauer besteht im Kern darin, die Schrecken der Berliner Mauer sowie der Teilung zu dokumentieren und zu vermitteln. Darüber hinaus soll ein würdiges Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft ermöglicht werden.

Die »East Side Gallery« und insbesondere der hinter ihr gelegene »Freiraum« stehen jedoch für etwas ganz anderes. Durch das Wirken und das Werk der über 100 Künstlerinnen und Künstler im Jahr 1990 wurde der einstige Ort des Schreckens in etwas Positives »transformiert«. Der Geist der »East Side Gallery« ist vom Ruf des Jahres 1989 nach Frieden, Freiheit und Demokratie geprägt. 1989 träumten die Menschen von mehr als von bloßer »Wiedervereinigung«, wie es der gesetzliche Auftrag der Stiftung Berliner Mauer glauben machen wird.

Nachdem sie lange unter Diktaturen gelitten hatten, ging es den Menschen unter anderem um einen Traum von Demokratie in ihrer reinsten Form. »Demokratie« ist Altgriechisch (δημοκρατία) und es bedeutet »Herrschaft des Staatsvolkes« — von dēmos (δῆμος) „Staatsvolk“ und kratós (κρατός) „Gewalt“, „Macht“, „Herrschaft“. Gerade in den Monaten bis zu den ersten freien DDR-Volkskammerwahlen am 18. März 1990 begannen die Menschen in der ausgeheneden DDR diese Urform der Demokratie zu leben. Die Herrschaft ging nicht bloß vom Volk aus, wie es unsere geltende Rechtsordnung bestimmt, sondern das Volk herrschte in Form von »Runden Tischen« selbst.

Und genau hieran müssen wir uns erinnern (können), wenn wir unsere Zukunft selbstbestimmt und emanzipiert in die eigenen Hände nehmen wollen.

„Nur wer die Vergangenheit kennt,
kann die Gegenwart verstehen
und die Zukunft gestalten.“

— August Bebel —

1989, nach Jahrzehnten entmündigender Diktatur, hatten die Menschen weltweit wieder Träume und Hoffnung — Träume von einer besseren Welt, Träume von Freiheit, Frieden und Demokratie. Doch diese wurden enttäuscht. Während die chinesische Tian’anmen-Protestbewegung bereits im Verlauf ihres Erblühens blutig niedergewalzt wurde, folgten anderen Orts Ausverkauf, oligarche Strukturen, ein entfesseltes Finanzsystem und Globalisierung. Um so wichtiger ist es, dass wir uns der Gründe dieser Enttäuschung bewusst werden und uns der Träume und Hoffnungen wieder erinnern, damit wir lernen, diese im Hier und Jetzt von den Mächtigen einzufordern. Gerade in Zeiten wachsender Empörung und geschürter Angst bedarf es positiver Orientierung. Insbesondere in diesem Zusammenhang könnte die East Side Gallery als »Lebendiges Denkmal an die Freude«, das selbstbestimmt für die Menschen verwaltet wird, einen wertvollen Beitrag leisten.

1989 ging es um mehr als bloße »Wiedervereinigung«

Auch in Deutschland geraten die ursprünglichen Ziele der »Friedlichen Revolution« zunehmend in Vergessenheit. Keineswegs stand die deutsche »Wiedervereinigung« im Fokus der frühen oppositionellen Aktivität. Vielfach beschäftigten sich bereits seit Jahren Gesprächskreise unter dem Dach der Evangelischen Kirche mit Themen wie Aussöhnung, Frieden, Umwelt und der Situation von Minderheiten wie den Homosexuellen in der DDR. Oft war ihr Blick nach Polen gerichtet, wo sich bereits Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung »Solidarność« unter dem Dach der Katholischen Kirche herausgebildet hatten. Die staatlich verwehrte Reisefreiheit, eine sich dramatisch zuspitzende Versorgungslage, die von oppositionellen Gruppen nachgewiesene Fälschung der letzten DDR-Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 sowie eine anhaltende und von massiven Repressalien begleitete politische Bevormundung der Bevölkerung waren wohl die Hauptursachen für den sich anbahnenden “revolutionären” Wandel.

Aufruf zur Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989

Aufruf zur Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989

Als sich das DDR-Regime zudem gegen die Reformpolitik in Polen sowie die Politik von »Glasnost und Perestroika« von Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), wandte und das Tian’anmen-Massaker in Peking rechtfertigte, brach sich ein bis dahin unbekannter öffentlicher Protest in Form von Massendemonstrationen Bahn, der die DDR-Oberen zunehmend vor sich her trieb. Die sich zunehmend überschlagenden Ereignisse gipfelten in der Nacht des 9. auf den 10. November 1989 überraschendim Fall der Berliner Mauer. Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), hatte auf einer legendär gewordenen Pressekonfernz irrtümlich eine neue und „unverzüglich” geltende DDR-Reiseregelung verkündet.

Interim — 6 Monate, in denen Demokratie gelebt wurde …

Berlin, 30.1.1990: 2. Runder Tisch im ADN

Berlin, 30.1.1990: 2. Runder Tisch im ADN. Die Leiter von zentralen Medien und die Medienbeauftragten der neuen Parteien und Organisationen treffen im Haus des Allgemeinen Nachrichtendienstes zum 2. Runden Tisch zusammen. ADN-Generaldirektor Günter Pötschke (2.v.r.), Mathias Würzberger (1.v.r.), Günter Hundro (3.v.r.); Foto: Zimmermann, Peter | Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Obwohl nach wie vor im Amt, war das DDR-Regime über Nacht Geschichte geworden. Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, Kirchenleute, neue Parteien wie das »Neue Forum«, »Demokratie Jetzt« (DJ) und der »Demokratische Aufbruch« (DA), aber auch Vertreter alter DDR-Blockparteien wie die der »DDR–CDU« wurden zu Wortführern. Zusehends mutiger forderten die Menschen ihre frisch erstrittene Freiheit von den Mächtigen ein. Spontan nahmen sie ihr Schicksal in die eigene Hand. Zum Beispiel besetzten sie Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Stasi), um geheime Akten vor der Vernichtung zu bewahren und auch Journalisten unternahmen erste Gehversuche auf unbekanntem Terrain — der frisch gewonnenen Pressefreiheit. Die Menschen begannen, Demokratie in ihrem ureigenen Sinn zu leben. Aller Orten bildeten sich »Runde Tische« nach polnischem Vorbild. Einvernehmlich beauftragte der Zentrale Runde Tisch der DDR eine Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Und nicht selten sahen sich extrem verunsicherte Funktionäre zunehmend selbstbewusster auftretenden Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, die ihnen Rede und Antwort abverlangten. Den Geist des Jahres 1989, mit seinen Hoffnungen und Träumen, aber auch die Ängste jener Tage haben die Künstlerinnen und Künstler der »EAST SIDE GALLERY« 1990 auf Beton gebannt, der die Welt bis zum 9. November 1989 martialisch in Ost und West teilte.

Auch die »Friedliche Revolution« entledigte sich ihrer Kinder …

Viel zu früh, nämlich bevor sich in der DDR eine eigene demokratische Identität sowie eigene demokratische Strukturen herausbilden konnten, entledigte sich die »Friedliche Revolution« bereits wieder ihrer Kinder. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, dass die oppositionellen Gruppen selbst von den sich überschlagenden Ereignissen eingeholt und von Jägern zu Getriebenen wurden. Vormals intime Gesprächskreise hatten sich quasi über Nacht zu Parteien mit explodierenden Mitgliederzahlen gewandelt. Dieser Umstand begünstigte Hasardeure und ermöglichte es besser organisierten Interessengruppen wie den Parteien der alten Bundesrepublik und alten DDR-Kadern, eigene Kandidaten bestmöglich zu positionieren und auf den weiteren Verlauf der »Friedlichen Revolution« Einfluss zu nehmen. Während sich westliche Finanzeliten in Goldgräberstimmung befanden oder eine Chance sahen, durch die Nachkiegsregelung verloren geglaubtes Eigentum zurückzuerlangen, setzte die immer noch einflussreiche Ostnomenklatura alles daran, ihren Einfluss in den Westen zu “retten” beziehungsweise sich dort bestmöglich einzurichten. Welche Gründe letztendlich den Ausschlag gaben, kann dahinstehen. Im Ergebnis übertönte jedenfalls der Ruf nach einem schnellen Beitritt zur alten Bundesrepublik die Rufe nach Reformen, Freiheit und Demokratie. Zwar brachte die einstige DDR-Opposition noch den Entwurf einer neuen DDR-Verfassung auf den Weg, doch war dieser Versuch, eine eigene politische Identität zu finden oder zumindest die anstehenden Beitrittsverhandlungen auf Augenhöhe führen zu können, bereits nach den ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 Geschichte. Er wurde zu den Akten gelegt. Die einstige DDR-Opposition hatte sich bei den ersten “freien” Wahlen nicht im erforderlichen Maß durchsetzen können. Ihre politische Unerfahrenheit, fehlende Weitsicht, die rasche Einführung der D-Mark sowie die Angst, die historische Chance der »Wiedervereinigung« zu verpassen, hatten ihre Wirkung getan. Den Rest besorgten die mehr als bloß farblos wirkenden Vertreterinnen und Vertreter der neuen DDR-Regierung, die den Einigungsvertrag mit den Politprofis der alten Bundesrepublik aushandelten.

Der Traum vom schnellen Konsum hatte seinen Preis …

Rechtlich knüpfte der schnelle Weg zur »Wiedervereinigung«, der schlichte Beitritt der DDR zur alten Bundesrepublik, unmittelbar an den status quo der Rechts-, Besitz- und Eigentumsverhältnisse an, wie sie zum Ende des 2. Weltkriegs — vor Gründung der DDR — bestanden hatten. Konsequent in diesem Denken wurden 40 Jahre DDR ohne Rücksicht auf die Menschen einfach rückabgewickelt. Alteigentümer erhielten ihren durch die DDR-Bodenreformen verlorenen Grund und Boden zurück, obwohl sie in der Regel bereits nach dem verlorenen Krieg finanziell entschädigt worden waren. Hingegen erhielt ein durch 40-jährige Arbeit legitimiertes “Volkseigentum” kein juristisches Bestandsrecht. In direkter Folge der Rückabwicklung herrschten im Osten ab 1990 Unsicherheit und Angst. Angst, die Arbeit zu verlieren. Angst, keinerlei Rechte an der eigenen Wohnung zu besitzen. Allgemeine Zukunftsangst. Frust, Resignation und Ohnmacht ergriffen den Osten. Selbst der erträumte Konsum brachte nur denen Linderung, die es verstanden, die Möglichkeiten der “freien” Marktwirtschaft zu nutzen. Im Ergebnis hatte der Westen den Osten konsumiert.

“Zonen-Gaby” Titanic-Cover (Satire-Magazin), November 1989

Der Originalartikel kann hier besucht werden