chItalien erlebt derzeit eine Stärkung linker und kommunistischer Bewegungen, Organisationen und Kräfte wie schon lange nicht mehr.

Es begann besonders im vergangenen Oktober, als die Basisgewerkschaften, unter ihnen in erster Linie USB (Unione Sindacale di Base) und zwei unter „Cobas“ (comitati di base, Basisausschüsse) firmierende Basisgewerkschaften namens AdL Cobas (Associazione Diritti Lavoratori (1)) und SI Cobas (Sindacato Intercategoriale – Lavoratori Autorganizzati (2)) am 22. Oktober 2016 mit eigenen Kräften und unabhängig von den offiziellen Richtungsgewerkschaften einen Generalstreik auf die Beine stellten, an dem eine Million dreihundertausend Menschen teilnahmen.

Kapillar und von unten

Es gab Blockaden, Besetzungen, Protestmärsche von einer europaweit exemplarischen Kampfkraft und Kampf-Weite. Ziel war es, Forderungen des Arbeitsplatzes und der Branche und der gesamten Arbeiterschaft mit allgemeinpolitischen Forderungen, so gegen Militarismus und Krieg, zu verbinden. In monatelanger mühevoller Arbeit war es den basisgewerkschaftlichen Aktivisten gelungen, die Belegschaften davon zu überzeugen, daß sie gegen die Politik Renzis Stellung nehmen müßten, über ihre eigenen Arbeitsbelange hinaus.

Und das gelang. Renzi und seine Partei hatten die Absicht gehabt, die Verfassung an sensiblen Punkten zu reduzieren, ja man kann sagen: zu demolieren, die Arbeitsrechte weiter und definitiv auszuhebeln und die parlamentarischen Entscheidungsmechanismen zu schwächen. Der Senat sollte reduziert und zum Teil entmachtet werden, die stimmenstärkste Partei ähnlich wie in Griechenland mit zusätzlichen Stimmen ausgestattet werden, und das Ganze wurde in ein Referendum gegossen, mit dem Renzi und die Mehrheit seiner Partei selbstherrlich vermeinten, die „Bürger“ überzeugen zu können.

Sie werden ihm schon folgen, glaubte er. Ein Referendum von oben, wie das des Orbán kurze Zeit vorher. Auch in der primitiven Plakativität mancher seiner Losungen ähnelte es dem Orbán´schen „Referendum“.

Bereits der Generalstreik, gerade der Generalstreik war zu einer politischen Botschaft gegen Renzi und seine Politik geworden, dann folgten Mobilisierungen anderer politischer Plattformen. Der Generalstreik fand in zahlreichen Städten Italiens statt, an der Demonstration in Rom nahmen 30.000 Menschen teil. In Rom wurde ein spezielles Konzept umgesetzt, ein bis dato noch nicht erprobtes gemeinsames Vorgehen unterschiedlichster basisgewerkschaftlicher Strömungen, die Demo wurde gemeinsam bestritten von Unicobas (einer studentischen Basisgewerkschaft, Partnerin der schwedischen SAC (3) und der spanischen CGT (4)), der genannten USB und der libertär-anarchistischen USI (Unione Sindacale Italiana).

Das No Sociale – die breite gesellschaftliche Front

Am Tag darauf fand ein landesweiter Protesttag gegen Renzi statt, der sogenannte „No Renzi Day“. Veranstalterin war die Plattform Coordinamento per il No Sociale: an der Kundgebung in Rom nahmen 40.000 Leute teil. Hier zeigte sich, daß ein Großteil dieser Mobilisierung von der USB getragen wurde, also von einer Organisation der Arbeitenden.

Die USB ist ein vor mehr als 6 Jahren entstandenen Zusammenschluß dreier Basisgewerkschaften, der in letzter Zeit immer mehr an Einfluß gewinnt und, zusammen mit den genannten beiden anderen Basisgewerkschaften ADL Cobas und SI Cobas, als kämpferisches, lebendiges basisgewerkschaftliches Kraftfeld den kapitalabhängigen Kompromißgewerkschaften CGIL-CISL und UIL, dem gelben Dreierbündnis, den Kampf angesagt hat. Sie wollen nicht fremdbestimmt werden durch Regierung und Arbeitgeberverbände, wollen Organisationen ausschließlich der Arbeiter und Arbeiterinnen sein.

Gewerkschaften neuen Typs

Man muß sich darüber klar werden, daß das allgemeinpolitische Prinzip, das den deutschen Gewerkschaften ja per Gesetz versagt ist, bei den Basisgewerkschaften an zentraler Stelle steht, und daß das bestimmende Organisationskonzept das von unten ist.

Damit weisen die italienischen Basisgewerkschaften über das in Deutschland, Österreich und dergleichen politisch zugemauerten Ländern gewerkschaftlich routinemäßig Geübte weit hinaus und sind insofern ein Wegweiser, eine Richtschnur für eine unausweichliche nationenübergreifende Entwicklung, eine Richtschnur auch für die teilweise verfaulte Metropolenlinke.

Nochmals Nein!

Am 27. 11., einen Monat nach den beiden exemplarischen Mobilisierungen, fand eine weitere Kundgebung „gegen Renzi“ statt, bei der in Rom 50.000 auf der Straße waren.

Diesmal war sie organisiert von einer breiten Plattform namens „C´è chi dice di no“ („Es gibt Leute die Nein sagen!“), die sowohl von Künstlern und Musikern als auch von einer großen Zahl von Massenorganisationen getragen oder unterstützt wurde.

Die sozialdemokratische Partei Italiens wird also von mehreren Seiten her in die Zange genommen.

Ein neuer Feminismus

Das zahlenmäßig, aber auch vom politischen impact her überragendste Ereignis aller Kundgebungen dieser Periode war eine Demonstration in Rom, an der 200.000 Frauen teilnahmen!

Italien war in den Siebzigerjahren das Land mit der stärksten und radikalsten Frauenbewegung Europas. Aber wie überall, so war auch in Italien ein Schwund der Aktivitäten und Organisationen zu beobachten. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer gewissen Lethargie der letzten Jahre war es doch eine Überraschung: Jetzt findet mit einemmal die im europaweiten Vergleich größte Frauendemonstration der letzten Jahre statt!

Es war keine „spontane“ Demonstration: drei landesweite Organisationen und zusätzlich die römischen Feministinnen hatten vorgearbeitet, das rein numerische Resultat war aber doch überraschend, viele Frauen hatten Tränen in den Augen, weil sie solches seit Jahren nicht mehr erlebt hatten.

Damit zeigt sich wieder, daß sich die „Frauenfrage“, die ja wohl auch eine Männerfrage ist, sich gleichberechtigt an die Seite der unabhängigen Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen stellt, einen Kern des gesamtgesellschaftlichen Kampfes darstellt.

Generalstreik des Proletariats und des Prekariats, Generalstreik der Frauen

Am 8. März fand, aufbauend auf diese Erfahrung und auf die des basisgewerkschaftlichen Generalstreiks ein Generalstreik der Frauen statt, bei dem das Recht zu streiken auch für Einzelpersonen und nicht gewerkschaftlich Organisierte vom Gesetz garantiert war. In den meisten Ländern undenkbar. Hier realisiert dank eines harten gewerkschaftlichen Einsatzes und der noch nicht vollends liquidierten Arbeitsgesetzgebung!

Der lange Marsch in den Abgrund

Die Sozialdemokratie steht heute allen Bewegungen im Weg. Man sucht neue politische Formeln und Organisationsformen und muß dabei gegen die Sozialdemokratie in der Form der PD zielen, die, besonders in Italien, zum treuesten Pudel des Neoliberalismus geworden ist. Nur in Ungarn kann oder konnte man eine ähnliche brutale Härte ultraliberalistischer Ausrichtung von Sozialdemokraten beobachten: in der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP).

Die Demokratische Partei Italiens ist, ebenso wie die MSZP, die immer mehr nach rechts driftende SPÖ und die PASOK, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas. Die PD ist/war die stärkste der sozialdemokratische Parteien, ihre Vorgängerpartei war die PDS und deren Vorgängerpartei die PCI – letztere die größte aller kommunistischen Parteien Westeuropas – und es hatte sich in den Folgeparteien jeweils noch eine Restsubstanz von linkem Sozialismus und ein Quentchen Kommunismus erhalten, die aber durch die sukzessive, über verschiedene Stufen, ja Brüche erfolgende Umwidmung der Ursprungspartei in Richtung Sozialdemokratisierung, also in Richtung eines großen antiproletarischen und antikommunistischen Konzepts, immer weiter abgebaut wurde, bis unter Renzi die offene Reaktion in dieser Partei die Macht ergriff.

Wenn also diese PD gegen das Proletariat und das Prekariat, gegen die Basislinke und die Bewegungen vorgeht, wird sie dafür zahlen müssen.

Emanzipierungsversuche

Sie zahlt erstens dadurch, daß sich eine neue breite Linkspartei gegründet hat, die Sinistra Italiana (SI). Gründungsversammlung war in Rimini vom 17. bis zum 19. Februar. Die Sinistra Italiana ist eine Linkspartei, die voraussichtlich Bestand haben und sich mit etlichen scharfen Reformen ins Zeug legen wird. Durch diesen Gegenpol wird die (italienische) Sozialdemokratie geschwächt, umsomehr als etliche Mitglieder der PD zur SI überwechselten.

Am 25. Februar spaltete sich außerdem von der PD ein Teil ab, der die Bezeichnung Articolo 1 – Movimento Democratici e Progressisti (frei: Fortschritt und Demokratie“) erhalten hat. Die offizielle Abkürzung ist MDP.

Bei “Articolo 1“handelt es sich um einen politisch zentralen Artikel der italienischen Verfassung, der heute auch von denjenigen Bewegungen als Losung verwendet wird, die sich gegen den Abbau der sozialen und politischen Rechte wenden, er lautet: „Italien ist eine demokratische Republik, die auf der Arbeit gründet“. Ursprünglich sollte es heißen „einen demokratische Arbeiterrepublik“, das wurde aber damals durch die Christdemokraten abgemildert.

Wieso so viel Aufsehen um „Arbeit“? Die Arbeiter- und kommunistische Bewegung nach dem Krieg wollte, basierend auf den Erfahrungen des linken, kommunistisch geprägten Teiles der Partisanenbewegung, mit „Arbeit“, respektive „Arbeiterklasse“, die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse in der Verfassung verankern. Dieses Kennwort „Arbeit“ ist in Italien so sehr der Reflex der lebendigen und harten demokratischen und linken Kämpfe der Nachkriegszeit, die noch für alle gegenwärtigen Bewegungen Vorbild sind, daß es, als Element eines Verfassungstextes eine Bedeutung hat, die über den eines simplen Paragraphen weit hinausgeht.

Mitte-links entsteht neu

Was ist nun diese Abspaltung namens MDP? In ihr haben sich diejenigen Kräfte zusammengetan, die bereits in der Partei für ein Nein zum Renzi´schen Referendum optiert hatten, also de facto zu einer parteiinternen Opposition geworden waren.

Sie verstehen sich selbst als neue reformerische Mitte-Links-Formation.

Das MDP stellt ein politisches Sammelsurium dar. Zusammen mit linkeren und demokratischer Eingestellten finden sich im MDP auch „Konservative“, ja PD-Rechte, es sind vergangene Machthaber und ehemalige oberste Funktionsträger von PCI, DS (Linksdemokraten) und PD in das MDP miteingewandert. Dazu gehören Bersani, ehemaliger Parteisekretär der PD, und D´Alema, ehemaliger Bürgermeister von Rom, der nicht zu den Linken zu zählen ist und der, wie auch derzeit stehende Veltroni, schon in der PC seine Karriere begonnen hat. Sodaß das MDP aus „Autoritären“, aus PD-Reformern und aus SI-Rechten zusammengesetzt ist.

Es ist zu erwarten oder zu hoffen, daß von dieser Gruppierung, die rechts von der Sinistra Italiana steht, der Kampf gegen einige zentrale politische Abbaumaßnahmen in den Bereichen Bildung, Arbeitsrecht, Prekariat, mitgetragen wird.

Sinistra

Wir haben hier vor uns einen zum Teil relativ weit nach links driftenden Mitte-Links-Bereich, der zur Zeit aus zwei Lagern besteht: aus der MDP und aus der Sinistra Italiana. Die SI kann, gewissermaßen als Erbe der Partei SEL („Sinistra Ecologia Libertà“ (5)), die sich von der Rifondazione abgelöst hatte, als viel linker eingestuft werden; die SEL hat sich vor kurzem aufgelöst und ist in die SI integriert worden – deren stärkster Bestandteil sie ist/war.

Ein anderes Kapital sind die radikalen Massenbewegungen und noch weiter links stehende Parteien und Kräfte, aber wir haben zumindest an dieser sehr nützlichen und wichtigen Breitenpolitik ablesen können, wie erfolgreich es sein kann, der gefährlich gewordenen Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Allein deswegen wäre es völlig falsch, diese reformerischen Neubildungen aus einem selbstzufriedenen radikalen Winkel heraus großspurig zu verwerfen. Sie haben eine große demokratische Vorarbeit geleistet.

In Italien ist es gelungen: die PD wurde durch die neue Linkspartei geschwächt und sie wurde durch die MDP geschwächt.

Ein weiteres Gebilde lockt und wirbt ab

Zusätzlich ist noch eine Formation am Entstehen, die in der Nähe der PD, aber in scharfer Opposition zu Renzi, ausgebrütet wurde und offiziell am 11. März in Rom an die Öffentlichkeit getreten ist.

Eine Organisation aus der Retorte? Sie nennt sich, nicht sehr originell, campo progressista („Das Lager des Fortschritts“), eine Initiative rund um den ehemaligen Bürgermeister von Mailand Pisapia. Das Projekt versteht sich ebenso wie das MDP als neue Mitte-Links-Bewegung und sieht sich in der Tradition des Ulivo, und es ist diesen Pragmatikern gelungen, die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, die noch in Rimini auf der Gründungsversammlung der Sinistra Italiana aufgetreten war, auf ihre Seite zu ziehen. Von der SEL war sie noch ins Parlament und dann auf einen der höchsten Posten befördert worden, auf den der Präsidentin der Abgeordnetenkammer.

Auf der von Pisapia lancierten politischen Veranstaltung Futuro Prossimo (sehr frei: „Unsere Zukunft“), die Mitte Februar in Mailand stattfand und auf der er sein Projekt Campo Progressista vorstellte, gab Boldrini Folgendes zum besten: „Ich möchte eine Linke der Arbeit, eine feministische Linke, eine Umweltlinke und eine proeuropäische Linke.“

Wie versteht sie Letzteres? „Wir müssen uns auf das Europa der Gründerväter besinnen, auf die Vereinigten Staaten von Europa. Aber dieses Europa muß wieder ein menschliches Gesicht erhalten, es muß wieder näher an den Menschen sein.“ Ein europäischer Einheitsstaat – der sich den Menschen zuwendet.

Also auch dies gelang: nicht nur die Schwächung der PD durch linkere Formationen, sondern auch die Schwächung neuer linker Formationen durch Wiederaufgüsse von PD-Politik.

In diesem Bereich der drei reformerischen Mitte-Links-Neugründungen findet – fast schon gesetzmäßig – ein ununterbrochenes Fluktuieren statt: rechte Senatoren haben sich von der SI getrennt und sind zum MDP übergelaufen, Leute von der PD gingen zur SI. Boldrini ist nur die Spitze eines Eisbergs, der aus geschäftigen Überläufern, Informanten, Zuträgern besteht. Ob sie sich alle zusammen läutern werden?

La gauche de la gauche

Nun gibt es auch ein Parteienspektrum links von SI und MDP. Im Zentrum steht da zunächst die vor zwei Jahren neugegründete Kommunistische Partei Italiens (PCI). Die Partei ist aber insofern äußerst wertvoll, als eine ihrer Hauptaktivitäten der Kampf gegen die NATO ist, daneben auch ihre Zusammenarbeit mit dem italienischen Anti-EU-Lager. Zu erwähnen ebenfalls die trotzkistische Kommunistische Arbeiterpartei (Partito Comunista dei Lavoratori). Das Wesentliche und Interessanteste in einer Periode des Umbruchs ist die Radikalisierung und Stärkung linker und kommunistischer Kräfte, radikaler Kräfte!

Durch große gesellschaftliche Veränderungen werden aber auch die matteren reformerischen Organisationen erfaßt und verändert. Und dafür müssen sie büßen!

Vendetta

Die Rache der Sozialdemokratischen Partei Europas ließ nicht auf sich warten. Die Bewegung Demokratie und Fortschritt (MDP) wurde, wie allen voran die Renzi-nahe Parteizeitung Unità am 3. März berichtete, aus diesem europäischen Dachverband ausgeschlossen.


  • Associazione Diritti Lavoratori : für die (zur Verteidung der) Rechte der Arbeiter
  • Lavoratori Autorganizzati: autonom organisierte Arbeiter
  • (3) SAC, Sveriges Arbetares Centralorganisation, starke libertäre Gewerkschaft
  • CGT, Confederación General del Trabajo, Sehr präsent bei den gewerkschaftlichen wie allgemeinpolitischen Mobilisierungen, die moderatere “Stiefschwester” der CNT. Nicht zu verwechseln mit der französischen CGT.
  • SEL, Sinistra Ecologia Libertà: Linke, Umwelt, Freiheit