Die WHO prüft, ob sie empfehlen soll, die Olympischen Spiele wegen des Zika-Virus zu verschieben. Das wäre nicht nur logistisch kaum zu schaffen, ist ist vor allem eines: völlig übertrieben. Argumente, die für eine Verlegung sprechen könnten, ließen sich sicher finden. Zika ist es aber garantiert nicht.

Ja, die Situation in Brasilien könnte besser sein: Die Wirtschaft kommt nicht aus dem Loch, in Brasilia hat ein Club älterer Herren vorübergehend die Herrschaft übernommen und stopft sich schön die Taschen voll und holzt so ziemlich alles, was den ärmeren Schichten helfen könnte, kurz und klein bis – ja bis? Bis der Senat Dilma Rousseff am Ende vielleicht doch nicht ganz absägt. Und dann macht da auch noch ein Virus den Rest der Welt verrückt. So verrückt sogar, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO zurzeit zu prüfen scheint, ob es sinnvoll wäre deshalb die Spiele, die in nicht ganz zwei Monaten (!) eröffnet werden sollen, besser zu verlegen.

Diese Überlegung erscheint doch einigermaßen hysterisch. Zika ist nun auch nicht Ebola, das scheinen einige zu vergessen. Eine Erkrankung, die sich durch ähnliche Symptome wie eine Grippe äußert, ist zunächst mal relativ unangenehm, klar. Wer liegt schon gerne eine Woche mit hohem Fieber flach.

Zika ist kein tödlicher Virus. Es gibt bislang keine gesicherten Todesfälle. Allerdings gibt es Verdachtsfälle in Kolumbien, bei denen bei drei Patienten nach einer Zika-Infektion das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) aufgetreten sei und die zum Tod der Erkrankten geführt hätten. In einer Studie mit Patienten aus Französisch-Polynesien wurde eine Häufung von Guillain-Barré-Syndrom bei serologischem Nachweis einer früheren oder kürzlichen Infektion mit dem Zika-Virus festgestellt. In den untersuchten konnten Antikörper gegen das Zika-Virus nachgewiesen werden, bei einigen Patienten zusätzlich Antikörper gegen weitere tropische Arboviren. Keiner dieser Patienten mit GBS ist an diesem verstorben.

Für Schwangere besteht ein Risiko

Bei schwangeren Frauen sieht das ein wenig anders aus. Aber wie viele schwangere Athletinnen nehmen an den Spielen teil? Wie hoch ist der Anteil hochschwangerer Frauen an den Zuschauern und Funktionärinnen? Eben. Gerade bei letzteren dürfte der Anteil gen null tendieren, weil Sportfunktionäre in aller Regel männlich, über 60 und grauhaarig sind. Aber Spaß beiseite.

Wo bleibt der Aufschrei, wenn es um das – ähnlich verlaufende – Dengue-Fieber geht oder das HI-Virus, das sich so mancher Olympia-Besucher beim abendlichen Unterhaltungsprogramm von Prostituierten einfangen wird. Ohne ein Arzt zu sein, würde ich das letztgenannte Risiko als deutlich höher einstufen. Außerdem ist Geschlechtsverkehr ebenfalls ein Übertragungsweg des Virus.

Zika wird ansonsten aber in erster Linie über eine Mückenart (aedes aegyptii) übertragen. Diese Mücken sind hauptsächlich tagaktiv. Es gibt in jeder Pharmacia, Drogerie (und davon gibt es in Rio so viele wie im Ruhrgebiet Wettbüros), in jedem Supermarkt Mückenschutz zu kaufen. Eine Sprühflasche kostet keine 3 Euro, das gute Exposis aber rund 10 Euro. Vielleicht ist es eine Überlegung wert, im Stadion auf das eine oder andere Budweiser zu verzichten, wenn die Olympia-Kasse beides nicht hergeben sollte. Oder man bringt sich Autan von daheim mit.

Außerdem finden die Spiele in Brasilien im August statt. Das ist tiefster Winter. Das bedeutet, die Temperaturen sind vergleichsweise niedrig (um die 20 Grad) und es ist in aller Regel trocken. Die betreffenden Stechmücken mögen es für die Fortpflanzung jedoch vor allem warm und feucht. Das heißt: Europäische Winterflüchtlinge, die im Dezember, Januar, Februar  vor der Winterkälte in die tropische Wärme flüchten sind demnach viel gefährdeter als die Sportler oder Zuschauer jetzt. Eine zeitliche Verschiebung würde also überhaupt keinen Sinn machen.

Wäre eine örtliche Verlegung besser?

Zunächst einmal das: Der Zika-Virus und Dengue-Erreger sind keineswegs nur in Brasilien oder Südamerika aktiv. In Ländern wie Thailand, Indonesien (Bali) und überhaupt ganz Südostasien sind sie ebenfalls weit verbreitet. Vielleicht noch weiter als zurzeit hier.

Mal davon abgesehen, dass es sich dabei nur um Aktionismus handeln kann, erscheint der Verlegungs-Vorschlag doch recht naiv. Denn wie soll das aussehen? Denn es gäbe keine Stadt auf diesem Planeten, die spontan als Ausweichquartier einspringen könnte. Oder? An fehlenden Sportstätten würde es nicht mangeln. Wahrscheinlich würde sich in jeder halbwegs zivilisierten Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern die meisten Sportstätten, die nötig wären finden lassen. Sieht man mal vom Segeln ab.

Doch die Herausforderungen wären ja ganz anderer Natur

Ein solches Großereignis legt die betreffende Stadt für die Dauer der Spiele mehr oder weniger lahm. Und das nicht erst in Zeiten real existierender globaler Terrorbedrohungen. Da sitzen Experten Wochen, Monate, Jahre vorher zusammen und tüfteln an  ausgefeilten Logistik- und Sicherheitsplänen. Man stelle sich nur mal das Chaos vor, das eine Verlegung bei diversen Service-Hotlines hervorrufen würden: Hotelzimmer müssten storniert werden, Flüge, längst bezahlt, natürlich auch. Bettenkapazitäten wurden erhöht, Flugtakte gestrafft, Personal erhöht.

Wenn, dann hätte das ganze doch viel früher in Erwägung gezogen werden müssen. Jetzt sind die Sportstätten weitgehend fertig, die Infrastruktur auch fast  – die Metro soll es angeblich bis zu den Spielen tatsächlich bis hinaus nach Barra schaffen, versichern Offizielle immer wieder.

Wenn man Rio die Spiele wegnehmen will und damit ein ohnehin bereits im Staub kriechendes Land zu demütigen gedenkt (wir sprechen immerhin nach wie vor von einer Top-Ten-Wirtschaftsmacht), dann hätte es dafür sicherlich längst vorher Gründe gegeben und auch weitaus gewichtigere.

Etwa der, dass die Guanabara-Bucht zu den Wettkämpfen natürlich genau so giftig und schmutzig sein wird, wie sie es zum Zeitpunkt des Olympiazuschlags 2007 war und auch schon lange davor. Eines, wenn nicht sogar das wesentliche Argument pro Rio war seinerzeit, dass die Verantwortlichen in der Bewerbung versprochen hatten, die Verschmutzung in der drittgrößten Bucht der Erde bis zum Beginn der Spiele in den Griff zu bekommen.

Das hat man nicht nur nicht geschafft, man hat es gar nicht erst versucht es zu schaffen. Noch immer laufen 70% der Abwässer von 10 Millionen Menschen aus der Agglomeration Rio de Janeiro nach wie vor ungefiltert ins Meer. Tag für Tag. Hinzu kommen gewerbliche Abfälle, illegal entsorgte giftige Abfälle und alles, was man nicht anderweitig entsorgen kann oder besser will. Erst jüngst verkündeten Politiker, dass dieses Ziel frühestens eventuell im Jahr 2035 ansatzweise erreicht werden könnte.

IOC hat nur halbherzig hingeschaut

In diesem Punkt hat die das Bewerbungskomitee das IOC, die Weltöffentlichkeit, nach Strich und Faden verarscht. Das könnte man als IOC durchaus anprangern und als Argument ins Feld führen. Doch was das angeht, hat man stets nur recht halbherzig die Fortschritte verfolgt, geschweige denn eingefordert. Ich unterstelle mal, dass es den Funktionären am Ende auch relativ wurscht sein dürfte.

Oder, Argument Nummer 2, dass es für eine Stadt und ein Land – selbst von der Größe Brasiliens – kaum zu leisten ist, die beiden größten Sportereignisse, die die Menschheit zu bieten hat (Fußball-WM und Olympia) in einem Abstand von nur zwei Jahren zu stemmen. Selbst wenn die Wirtschaft nicht eingebrochen wäre. Solche Ereignisse sind immer ein enormer finanzieller Kraftakt. Es hat Gründe, weshalb immer wieder Städte ihre Olympiabewerbungen wieder zurückziehen.

Gewiss, die beiden Großereignisse hätten für Rio auch eine große Chance bedeuten können. Denn um so etwas auszurichten, setzt natürlich auch Mittel frei, die sonst nicht lockergemacht worden wären. Geld, mit dem man großflächig längst überfällige Infrastrukturdefizite hätte angehen können. Doch auch zwei Monate vor den Spielen erstickt Rio morgens und abends im Autoverkehr. Die ehrgeizigen Schienenprojekte (Metro) wurden immer mehr zusammengestrichen oder sind noch nicht fertig.

Kosmetische Eingriffe statt planerischer Großentwurf

In der Innenstadt, wo man die Touristen wähnt, wurden kosmetische Eingriffe vorgenommen. Das sieht teilweise auch ganz schick aus, wie die Praca Máua mit dem Museu do Amanha, oder die Tram, die seit diesem Wochenende durch die Innenstadt tingelt, eine Art hochmoderner Touristenexpress.

Andere Ecken, die vielleicht eine Chance hätten haben können, überhaupt erstmals stadtplanerisch erfasst zu werden, werden weiter darauf warten müssen, erschlossen zu werden. Im Gegenteil: Manche Probleme wurden sogar dadurch gelöst, dass man Menschen, die dem Rummel im Weg waren, zwangsumsiedelte, ihre Wohnquartiere plattmachte.

Einige Krankenhäuser in den Nähen der Spielstätten, werden für die Spiele aufgemöbelt und aufgestockt. Andere können faktisch keine Patienten behandeln, weil kein Personal oder Material vorhanden ist. Vor einigen Woche noch hatte die Stadt kein Geld, um ihr Personal zu bezahlen. Rentner warteten auf die Rente. Und bei São Conrado krachte der Radweg ein und riß zwei Menschen in den Tod. Er war das einzige bis dahin fertiggewordene Infrastrukturprojekt. Die ausführende Baufirma soll ganz enge familiäre Verbindungen zum Tourismus-Chef von Rio gehabt haben. Da ist sie wieder, die in Brasilien so verbreitete Korruption, die das Land erst in diese Situation gebracht hat, in der es sich jetzt befindet.

Falsche Schwerpunkte, versickertes Geld, Schlamperei und Lügen – Es hätte wahrlich bessere Gründe gegeben über eine Verlegung der Olympischen Spiele nachzudenken. Und ehrlichere obendrein.

Doch wo sollte man da anfangen? Die Vergabe von sportlichen Großereignissen nach ethischen und nachhaltigen Gesichtspunkten – das ist in den Köpfen der Sportfunktionäre dieser Welt noch nicht angekommen. Gerade dieses Jahrtausend offenbart das überdeutlich: Olympische Spiele Peking, Winterspiele in Sotschi, Fußball-WM in Russland, Fußball-WM in Katar.

Und was machen die Einwohner Rios, die Cariocas, während der Spiele? Die Schulen haben die Winterferien extra vom Juli in den August verschoben, damit die Menschen zuschauen  können, die Stadien voll sind und die chronisch dichten Straßen ein wenig leerer.

Cariocas haben kaum Interesse an den Spielen

Doch viele nutzen die Gelegenheit, rücken zusammen, flüchten aus der Stadt und vermieten ihre Wohnung gegen harte Devisen und zu happigen Preisen an Touristen und Funktionäre. Oder zumindest versuchen sie es. Denn das Angebot auf Plattformen wie Airbnb und anderen ist riesig. In der Wirtschaftskrise ein willkommenes, manchmal überlebenswichtiges Zubrot. Die Besucher mieten das gerne. So viel Nähe zu den Einheimischen, das ist doch sehr authentisch.

Und Zika? Ich wette, dass spätestens am 22. August der Virus in den Nachrichten keine große Rolle mehr spielen wird. Dann ist das Spotlight aus, der große Tross zieht weiter und Brasilien fliegt für viele Länder, vor allem für Europa, von da an wieder unterhalb des Wahrnehmungsradars. Dann sind die großen Ereignisse erstmal rum. Dann müssen andere Themen her, um es mal wieder in die Schlagzeilen zu schaffen.

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