Mehr Symbolik geht fast nicht. Als Veranstaltungsort wurde das frisch eröffnete Museu do Amanhã am Praça Maua ausgewählt, das Vorzeigeobjekt der Stadterneuerung in der Olympiastadt. Außerdem ist der 23. Juni der Tag, an dem auf Initiative von Pierre de Coubertin in Paris das Internationale Olympische Komitee gegründet wurde, die Geburtsstunde der Olympischen Spiele der Neuzeit. Und an diesem Tag 122 Jahre nach Coubertin, an diesem Ort, der vor einigen Jahren noch von einer Hochautobahn entstellt war, hat das deutsche Aktionsbündnis „Rio bewegt. Uns“ mit seinen brasilianischen Partnerorganisationen zu einem Kongress eingeladen: 100 Dias de Paz – 100 Tage Frieden.

Und als ob das Ganze nicht genug Symbolik gewesen wäre, wollte man ein Zeichen setzen: Einen „Friedensschluss“ für die Dauer von 100 Tagen, bis nach den Paralympics. Kern des Ganzen ist eine von allen Beteiligten unterzeichnete Selbstverpflichtungserklärung soll, so die Hoffnung, die Tradition des Olympischen Friedens aufleben lassen. Unterzeichnet wurde diese von Rios Bürgermeister Eduardo Paes (ebenso symbolträchtig im Stau stecken geblieben), dem Bischof der Erzdiözese Rio de Janeiro, Kardinal Orani João Tempesta, dem Präsidenten des Brasilianischen Olympischen Komitees, Carlos Arthur Nuzman, dem Präsidenten des brasilianischen paralympischen Komitees, Andrew Parsons und Vertretern der kirchlichen Hilfsorganisationen aus Deutschland, die die Kampagne „Rio bewegt. Uns“ initiiert haben.

Mit der Kampagne will das Aktionsbündnis erreichen, dass nicht alleine während der Olympischen Spiele die Sportler (neben den Sponsoren) zu den alleinigen Gewinnern gehören, sondern auch die Bevölkerung der Gastgeberstadt Rio de Janeiro über das Ereignis hinaus von den Spielen profitieren.

Die Selbstverpflichtung umfasst fünf Punkte

Fair Play: Die Verantwortlichen des Sports und der Politik garantieren, dass keine Bevölkerungsgruppe von den Spielen ausgeschlossen wird. Das klingt zunächst banal, hat jedoch seinen Ursprung in den Erfahrungen mit der WM 2014. Damals hatte die FIFA eine Bannmeile um die Stadien gezogen. Innerhalb der Zone durften nur autorisierte Händler und Sponsoren Handel treiben. Straßenhändler wurden so verdrängt und profitierten nicht von der WM – im Gegenteil. Diese Nuss scheint geknackt. So haben die Mitglieder des Netzwerk Dom Helder Câmara de economia solidaria inzwischen tatsächlich die amtliche Genehmigung erhalten, Snacks selbst herzustellen und während der Spiele an den Sportstätten direkt zu verkaufen.

Das besondere an dem verabschiedeten Manifest ist auch, dass es auch eine zukunftsgerichtete Klausel enthält: So sollen die Unterzeichner auch in Zukunft bei Olympischen Spielen dafür Verantwortung übernehmen, dass Planungen transparent erfolgen und die lokale Bevölkerung einbezogen wird.

Im zweiten Punkt „Frieden“ sind die Unterzeichner dazu angehalten, während der Spiele alles dafür zu tun, dass diese in einem friedlichen Umfeld stattfinden können – ohne Gewalt, aber auch ohne Diskriminierung von Minderheiten, Andersdenkenden und Andersgläubigen.

In den weiteren Punkten verpflichten sich die Unterschreiber zu ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit, zur sportlichen Teilhabe der Bevölkerung – die Sportstätten sollen im Anschluss den Bewohnern der Stadt zugute kommen sollen. Zumindest beim Thema Nachhaltigkeit wurde seitens der Stadt massiv geschlampt. Die Guanabara-Bucht, Austragungsstätte einiger Disziplinen, ist verschmutzt wie eh und je.

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Für Rio selbst ein bisschen spät

Für Rio kommt dieses so symbolisch inszenierte Selbstverpflichtung im Grunde genommen zu spät. Eine Menge Fehler wurden gemacht und noch mehr Geschäfte sicherlich. Wie weit es mit der Nachhaltigkeit wirklich her ist wird sich zeigen. Und wenn man es genau nimmt, wurde die Erklärung zur Gewaltfreiheit vermutlich bereits durchbrochen, noch bevor die Tinte der Unterschriften auf dem Manifest trocken war. In einer Stadt, in der gerade in den letzten Wochen die Gewalt an vielen Ecken wieder aufzuflackern beginnt und in einigen Stadtteilen faktisch kriegsähnliche Zustände herrschen.

Und ob tatsächlich später Schulklassen das Aquatic Center nutzen dürfen, um dort Schwimmunterricht zu erhalten – das ist in Rio, einer Stadt mit Traumstränden, leider eine Ausnahme – wird sich zeigen. „In dem Papier steckt ein gutes Jahr Arbeit drin“, sagt Christian Frevel, Chef der Kampagne „Rio bewegt. Uns“. Und auch er sieht in vielen Punkten noch Luft nach oben. Beispiel neue Straßenbahn. Die bringe Touristen bequem vom Kreuzfahrtschiffanleger zum Flughafen. „Was haben die Menschen in den Favelas davon? Da muss sicher noch mehr kommen.“

Und auch für Olympiaseelsorger Leandro Lenin gibt es in vielen Punkten Verbesserungspotential. „Die Spiele sollen nicht nur Sportler in die Stadt bringen, sondern Frieden.“ Während der Spiele sei aus polizeilicher Sicht sicher dafür gesorgt. Ob das auch danach gewährleistet sein wird, ist er sich nicht so sicher. Die Touristen fordert er ganz gezielt auf, auch kritisch einmal hinter die Fassaden der glitzernden Sportwelt zu blicken. Dorthin etwa, wo sich die extremen Gegensätze auftun, etwa in der Favela Vila Autodromo in Barra deTijuca, deren Bewohner teilweise zwangsumgesiedelt wurden. „Wir müssen noch lernen, wie man mit den Menschen umgeht und dass man mit ihnen reden muss“, findet er.

Finger in die Wunden legen war wichtig

Andererseits ist es gut, dass die Hilfsorganisationen, die Kirche vor Ort und die Sportverbände den Finger in die Wunde legen. Hier in Brasilien, nach wie vor einem der Kernländer der Katholizismus, hat die Kirche als Institution noch das nötige Gewicht – auch wenn sie hier enorme Verlust zugunsten der evangelikalen Kirchen verzeichnen muss. Das hätte durchaus an einigen Stellen auch etwas expliziter geschehen können, vielleicht sogar müssen.

Von daher ist es durchaus zu begrüßen, dass die Kirche die historischen Chance nutzt – die ersten Spiele im katholischen Südamerika –, um das Wort zu erheben. Das hätte aber durchaus schon früher sein können, nicht erst 122 Jahre nach Pierre de Coubertin. Beim Weltjugendtag 2013 in Rio dürfte ja sicher schon das eine oder andere Problem augenfällig gewesen sein. In London vor vier Jahren wäre das freilich kaum gehört worden, ebenso wenig in Sotchi und in Peking, wo man jedoch durchaus ganz ähnliche Missstände hätte anprangern können. Für die Zukunft ist es freilich ein aufmunterndes Signal – wenn man sich denn an die gesagten Worte auch erinnert.

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