Ein sehr aufschlussreiches Interview mit Prof. Dr. Rudolph Bauer zum Thema der Militarisierung Deutschlands und der Bertelsmanngruppe. Wie es Firmen gelingt, eine Gesellschaft zu militarisieren, und wie notwendig es heute ist, die Gerechtigkeit neu zu erfinden. Denn worauf basiert schon der Friede, wenn nicht auf der Gerechtigkeit.

Milena Rampoldi: Wie gelingt es, die Gesellschaft zu militarisieren?

Rudolph Bauer: Militarisierung ist eine Art Virus. Es sind die Agenturen der Sozialisation und der Kommunikation, die diesen sozialen Virus epidemisch verbreiten. An den Schulen werden beispielsweise im Sozialkunde-Unterricht Bücher verwendet, die Feindbilder vermitteln und die Überlegenheit „des Westens“ herausstellen. Jugendoffiziere der Bundeswehr indoktrinieren Schülerinnen und Schüler. Das Militär selbst sozialisiert durch Uniformierung und Kasernierung, Drill, Waffengebrauch, Manöver, Reservistenübungen, Tage der offenen Tür in den Kasernen, Militärkonzerte, öffentliche Vereidigungen usw.

Hinzu kommen die Kommunikationsagenturen: Zeitungen und Zeitschriften, Radio, Fernsehen, das Internet, das Smartfon. Diese Medien sind einerseits selbst vom Virus der Militarisierung befallen, andererseits tragen sie bei zu seiner Verbreitung und schwächen das gesellschaftliche und politische Immunsystem gegen den Militarismus. Dabei spielen die Eigentümer der Medien, ferner die Herausgeber und Intendanten, die Rundfunk- und Fernsehräte, die Freiwillige Selbstkontrolle usw. eine entscheidende Rolle. Welche Nachrichten werden verbreitet, welche unterschlagen, welche Bilder werden gezeigt, welche weggelassen? Auf diese Weise steuern die Medien unsere Gefühle.

rudolph bauer

Prof. Dr. Rudolph Bauer

Sie sprechen von der Militarisierung der Medien und Neomilitarismus. Wie würden Sie diese beschreiben und definieren?

Der Begriff Neomilitarismus bezieht sich auf all jene neuen technischen und elektronischen Entwicklungen, die eine entscheidende Rolle spielen bei Kriegsvorbereitung, Bewaffnung, Propaganda und Kriegsführung. Stichworte sind: Drohnen, Datenspeicherung, Dual Use in der Forschung, Cyber War. Die Militarisierung der Medien ist ein schleichender Prozess. Im Verlauf dieses Prozesses wird einerseits die Berichterstattung in den Print-, TV- und Internet-Nachrichten zunehmend bestimmt von Feindbildern und Bedrohungsszenarien. Auch in den anderen Medienprogrammen und Programmabteilungen, die keine News verbreiten, wird unterschwellig ein Klima der Angst und Gewalt geschürt, auffallend beim Film durch Krimis, Thriller und Action. Andererseits wird die Vorstellung genährt, das eigene Land bzw. das Bündnis, dem das jeweilige Land angehört, seien sowohl moralisch als auch politisch, technisch und militärisch dem erklärten „Feind“ überlegen.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: nämlich die mediale Normalisierung von Militär, Krieg und Gewalt. Seit dem ersten Golfkrieg werden wir über das Fernsehen an Bilder vom Krieg gewöhnt. Bombenabwürfe auf Bagdad erscheinen wie die Videobilder bei einem Computerspiel. Ähnlich wirkt die Kriegsberichterstattung aus dem Nahen Osten. Nach dem 11. September wurden die Bilder von den einstürzenden Türmen so lange wiederholt, bis wir alle traumatisiert waren. Krieg und Militär werden obendrein sprachlich verharmlost. Die Rede ist vom Militär-„Dienst“ und vom Kriegs-„Handwerk“, vom Krieg als einer „humanitären Intervention“ im „Bündnisfall“, von „chirurgischen Eingriffen“. Militärische Gewaltanwendung gilt als Maßnahme der „Selbstverteidigung“, wird als Akt zur „Wahrung der Menschenrechte“ verkündet, gilt als legitim zur „Sicherung“ von Rohstoffquellen und zur „Erhaltung“ oder „Schaffung“ von Arbeitsplätzen, zum Kampf gegen „Terror“ und „Piraterie“.

In diesem Zusammenhang leisten auch viele Redakteure, Korrespondenten und Freie Journalisten ihren Beitrag zur Militarisierung. Sie sind Teil eines Räderwerks, das aus einem stressigen Berufsalltag besteht und Karriere davon abhängig macht, dass man sich anpasst und mit den Wölfen heult. Sie sind abhängig von schwer zugänglichen Informationsquellen. Viele besitzen ein Karriere förderndes Parteibuch. Sie werden propagandistisch gebrieft von Think Tanks und von so genannten Expertengruppen wie etwa dem Venusberg-Projekt, das mit der medial hoch bedeutsamen und einflussreichen Bertelsmann-Stiftung in Verbindung steht.

Was ist das Venusberg-Projekt der Bertelsmannstiftung und welche Ziele verfolgt es?

Bei der Venusberg-Gruppe handelt es sich um ein Expertengremium, das 1999 vom Centrum für Angewandte Politikforschung – abgekürzt: CAP – ins Leben gerufen wurde. Der Name der Gruppe verweist auf den Ort der Treffen: den Venusberg bei Bonn. Das CAP wird finanziert von der Bertelsmann-Stiftung, die zusammen mit der Bertelsmann-Forschungsgruppe Politik die Auswahl für die personelle Zusammensetzung der Venusberg-Gruppe getroffen hat. Das Ziel letzterer war es, unter dem Deckmantel sicherheitspolitischer Fragestellungen militär- und geopolitische Strategien zu diskutieren und zu verbreiten. Die Diskussionsergebnisse werden publiziert, an Meinungsführer und Multiplikatoren verschickt und auf diese Weise erst in den Leitmedien, dann in der Öffentlichkeit breit verankert. Dazu bedient sich die Venusberg-Gruppe sowohl der Bertelsmann-Stiftung, als auch – auf dem Weg über die Stiftung – der zahllosen einflussreichen Medien des Bertelsmann-Konzerns. Zu den Bertelsmann-Medien gehören beispielsweise der Verlag Gruner + Jahr mit all seinen Zeitschriften und Periodika, 300 Titeln weltweit, die Fernseh-Privatsender von RTL sowie die global größte Buchverlagsgruppe Random House. Meldungen und Meinungen, die mit der geballten Medienmacht aus dem Hause Bertelsmann verbreitet werden, beeinflussen erstens die politischen Entscheidungsträger, zweitens die Meinungsbildung in den schon genannten Sozialisationsagenturen sowie bei der Kollegenschaft in den nicht zum Konzern gehörenden Medien. Drittens ganz allgemein prägen sie die Meinung des Leser- und Fernsehpublikums sowie der gesamten Öffentlichkeit.

Wie können wir als Bürgerinnen und Bürger unsere Wahrnehmung verbessern und schulen, um zu verstehen, ob es um Pseudobedrohungen der Sicherheit geht? Welche Strategien schlagen Sie vor?

Als erstes ist es notwendig, sich der Zusammenhänge bewusst zu werden, wie ich sie eben skizziert habe: Ein Unternehmen finanziert aus seinen Gewinnen eine steuerbegünstigte Stiftung, die ihrerseits ein Gremium rekrutiert und finanziert, das ohne jede demokratische Legitimation militärische Strategien – wohlgemerkt: Eroberungsstrategien – entwickelt, welche mit der geballten Medienmacht des betreffenden Konzerns in die Öffentlichkeit gebracht und verbreitet werden – in Kommentaren, bei Talk-Shows, in Parteireden und -programmen, in Schul- und Lehrbüchern, in der politischen Bildung, bei der Ausbildung der Soldaten, bei Sicherheitskonferenzen und nicht zuletzt durch den Bundespräsidenten höchstpersönlich. Zweitens empfehle ich, alternative Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und Meinungsbildung zu nutzen (und durch Spenden zu unterstützen), insbesondere solche im Internet – wobei natürlich auch hier Vorsicht und Auswahl angebracht ist. Drittens ist es unerlässlich, sich in politische Zusammenhänge einzubringen, sich mit anderen auszutauschen und zu handeln – d. h. zum Beispiel, Leserbriefe zu schreiben, Petitionen zu unterzeichnen, auf Demos zu gehen, parlamentarische Anfragen zu unterstützen, Versammlungen zu besuchen, kurz: demokratisch aktiv zu sein. Vor allem sind es Formen und Methoden der Demokratie (der Demokratie von unten!), die eine Handhabe bieten zur verbesserten Wahrnehmung und Erkenntnis von Pseudobedrohungen. Auch Coolness und klarer Verstand sind notwendig.

Wie können wir den Menschen klarmachen, dass nicht die Steigerung der Truppen das Ziel Europas sein soll, sondern der Friede und die Kooperation?

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die meisten Menschen in ihrem Innersten ebenfalls der Überzeugung sind und hoffen, dass Frieden und Kooperation die Gebote der Stunde sind. Woran sie zweifeln und verzweifeln, lässt sich mit der Frage umschreiben, ob diese Überzeugung auch die der Anderen ist, also sowohl die Überzeugung der Mitbürgerinnen, Nachbarn und Kollegen, als auch die der „Feinde“. Den Zweifel daran zu verbreiten und zu vertiefen, das macht die Wirksamkeit des Virus der Militarisierung aus. In der Tat: Die Minderheit derjenigen, die für mehr Truppen, mehr Rüstung und mehr Kriege sind, will Kampf, Konkurrenz, Unterwerfung, Macht und Profit.

Welche Ziele verfolgt die Bertelsmanngruppe wirklich? Was wissen viele nicht?

Macht und Profit sind auch das Ziel der Bertelsmann-Gruppe, ihrer Eigentümer und des Managements. Ihre Absicht ist es, die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen – notfalls militärisch. Dieses Vorgehen bestimmt auch die Politik, insbesondere die Außen- und Militärpolitik. Die Nato ist hierfür– im schlechtesten Sinne des Wortes – „vorbildlich“: Im Interesse der Überlegenheit der Ökonomie zu agieren, ist die Funktion von Entwicklungshilfe, Militärputschen, Sanktionen, Handelsabkommen, Rüstungsaufträgen, Wirtschaftssubventionen, Rating-Agenturen usw. Und wenn das alles nicht mehr zum Ziel führt, nämlich zu mehr Macht und mehr Profit, ist Krieg das immer noch bewährte Mittel der Wahl.

Wie können wir uns in Europa vom militaristischen Beispiel der USA endlich verabschieden?

Darauf eine rasche Antwort geben zu wollen, wäre leichtfertig. Als Wissenschaftler plädiere ich im Interesse einer Beantwortung dieser Frage für mehr wissenschaftliche Forschungen zum Verhältnis von USA und Europa, zur Nato, zur Bündnispolitik und zu den Souveränitätsdefiziten in den europäischen Ländern. Vielleicht ist die Frage aber auch unglücklich gestellt. Bedarf es denn auf europäischer Seite in Fragen des Militarismus eines Beispiels der USA? Ist Europa in Sachen Militarisierung unerfahren und auf das Vorbild USA angewiesen? Ich meine: Frieden und Kooperation sind eine weltumspannende Herausforderung. Ohne Erneuerung der Demokratie und ohne soziale Gerechtigkeit in den USA und bei uns in Europa sind Frieden und Kooperation nicht möglich. Es ist höchste Zeit, in der Politik die Demokratie und in der Gesellschaft Gerechtigkeit neu zu erfinden. Das scheinen mir die wirkungsvollsten Heilmittel zu sein gegen den Virus der Militarisierung.

Die Broschüre zum Thema auf der Seite des Bremer Friedensforums: Militarisierung im Digitalen Zeitalter

Der Originalartikel kann hier besucht werden