In diesen Tagen vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. In einem hoch angespannten politischen Klima, einem von Nationalismus, Territorial- und Machtdenken getriebenen Europa, entwickelte sich die Katastrophe nach Erschießung des österreich-ungarischen Thronfolgers in Serbien wie ein fein säuberlich aufgestelltes Dominostein Ensemble: 23. Juli Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien, 28. Juli Kriegserklärung, 1. August Kriegserklärung Deutschlands an Russland, 3. August Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich, 4. August Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland.

Alle Nationen hatten ihre eigenen Interessen, alle waren sie überzeugt, es wäre leichtes Spiel: nur mal kurz aufräumen, die anderen Nationen in die Schranken weisen, Gerechtigkeit und Genugtuung herbeiführen.

Die alte Ordnung bricht zusammen

Geblendet von der Propaganda zogen die Menschen singend und stolz die Fahnen schwenkend in den Krieg. Der Endsieg schien nah. Sebastian Haffner beschreibt seine Erinnerungen als 11 jähriger Schuljunge so wie es für viele zuhause Gebliebene erschien, die den Krieg als großes Abenteuerspiel wahrnahmen: „Der Endsieg, die große Summe, zu der sich all die vielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeidlich einmal zusammenaddieren mußten, war für mich damals ungefähr das, was für den frommen Christen das Jüngste Gericht oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias war. Es war eine unvorstellbare Steigerung aller Siegesnachrichten, in der Gefangenenzahlen, Landeroberungen und Beuteziffern vor Ungeheuerlichkeit sich selbst aufhoben.“

Doch Erich-Maria Remarque schreibt in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ aus Sicht des jungen Freiwilligen: „Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum und unter ihm stürzte die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten. Während sie noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende; – während sie den Dienst am Staate als das Größte bezeichneten, wussten wir bereits, dass die Todesangst stärker ist. […] wir unterschieden uns jetzt, wir hatten mit einem Male sehen gelernt. Und wir sahen, dass nichts von ihrer Welt übrigblieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein.“ 17 Millionen sollten bis zum Ende des grauenvollen Spektakels ihr Leben lassen, die anderen traumatisiert und bis auf die Knochen demoralisiert, gebrochen nach Hause zurückkehren. Die alte Ordnung mit ihren Monarchien ging genauso zu Ende wie die bis dahin herrschende Staatenordnung, aber auch die Generationen und Traditionen brachen auseinander.

Siegerpolitik gewinnt über Versöhnungspolitik

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bot sich erstmals die Möglichkeit, den eigenbrötlerischen Nationalismus zu ersetzen gegen einen starken Völkerbund und die rachedürstende Vergeltung gegen eine Politik der Versöhnung. Doch die Chance versandete in den alten Mechanismen der Siegerpolitik. Das „14 Punkte Programm“ von Wilson wurde bei den Versailler Verhandlungen aufgeweicht und der Völkerbund schwächelte bereits in den Anfängen.

Stefan Zweig schreibt 1940 in seinem Essay „Wilson versagt“ eindrücklich wie der US Präsident Woodrow Wilson sich verzweifelt bemühte, einen „gerechten Frieden“, einen Frieden der Versöhnung, durchzusetzen gegen den „harten Frieden“, wie ihn die europäischen Mächte forderten, welche getrieben wurden von den Militärs, die Machtverlust befürchteten, und durch die Industrie, die nach Land- und Ressourcengewinn durch Reparationszahlungen gierte. Schliesslich gibt er, bedrängt von allen Seiten, auf. Stefan Zweig schreibt: „Eine Entscheidung ist an diesem historischen unwiederbringlichen Tag gefallen, die weit hinaus reicht über Jahrzehnte und Jahrhunderte, und deren Schuld wir abermals mit unserem Blut, unserer Verzweiflung, unserer machtlosen Verstörung bezahlen.“

Der Norweger Frithjof Nansen, einer der stärksten Verfechter einer Versöhnungspolitik damals, fragte: „Soll der künftige Völkerbund nur eine Fassade der alten Geheimdiplomatie und Gewaltpolitik sein?“ Er forderte, dass alle Länder ein Promille ihrer Ausgaben für Waffen, für den Frieden investierten. Er begrüsste das Beispiel Dänemarks, welches ausgehungerte Kinder aus Deutschland und Frankreich aufnahm, um sie aufzupäppeln. Währenddessen gab der Völkerbund seine Mittel dafür aus, die „rote Gefahr“ durch Aufrüstung in osteuropäischen Ländern zu bekämpfen.

Im großen russischen Hunger 1921/22 – damals starben schätzungsweise acht Millionen Menschen –  kämpfte Nansen im Völkerbund verzweifelt darum, dass westliche Länder wenigstens die Transportkosten aufbrächten, um den Überschuss der Ernten in Amerika nach Osten zu schaffen: „Doch ersparen Sie uns Heuchelei. Die Regierungen sind im Augenblick nicht in der Lage, fünf Millionen Pfund zu geben? Die Hälfte des Betrages, den ein Schlachtschiff kostet, um die Hungersnot in Russland zu bekämpfen?“ Der Völkerbund blieb dabei, er wollte die kommunistische Herrschaft nicht unterstützen. „Ehe wir den Sowjets helfen, möge der russische Bauer verhungern.“ sagte ein serbischer Delegierter offen, die anderen verloren sich in diplomatischem Geplänkel.

Die Abwehrpolitik gegen die Sowjetunion sollte dann auch das weitere Schicksal bestimmen. So nahm man lange Zeit Hitler hin als ein erwünschtes Bollwerk gegen den Bolschewismus. Heute wissen wir, was folgte. Was wäre geschehen, wenn sich damals eine Versöhnungspolitik durchgesetzt hätte?

Und heute?

Diese 100 jährigen Gedenktage kommen zu einem Zeitpunkt, an welchem man erschreckend ähnliche Beobachtungen machen kann im politischen Treiben Europas wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Das europäische Bündnis, der Garant für zumindest innerterritorialen Frieden seit dem zweiten Weltkrieg, wird von einigen Politikern und einem großen Teil der Bevölkerung angezweifelt, nationalistische, europafeindliche Parteien haben überall Aufschwung, und wieder bricht am Rande Europas ein Konflikt los, bei welchem sich die Hauptakteure USA, Europa und Russland in ihrer Arroganz Haß auf den Gegner schüren und mit ihrer Gier nach Einfluss und Stärkebeweis uns wieder in Richtung eines grauenvollen Krieges zerren.

Die Verbindung von Lüge und Krieg kennen wir bis heute. Es sind bis dato überhaupt kaum Lehren aus dem Ersten Weltkrieg gezogen worden, auch nicht aus der Praxis demütigender Friedensschlüsse, die Revanchegelüste provozieren.“ So schreibt zum Beispiel Jens Jessen im Januar in der Zeit und viele werden ihm zustimmen.

Wir sollten also in diesen Tagen nicht nur der vielen Opfer des Ersten Weltkrieges gedenken, sondern auch der verpassten Möglichkeiten, die die Gräuel ein weiteres Mal sinnlos gemacht haben und uns bis heute blutig verfolgen.