Wenn das nicht mal drei Begriffe sind, die uns suggerieren, wir wüssten, was damit gemeint ist. Am wenigstens können wir mit dem «Guten» anfangen. Gut sind Kinder, gut ist der Wellensittich im Käfig, die schnurrende Katze, der Hund, der beim Kraulen alle Viere von sich streckt. Gut sind auch das neue Auto und das neue Handy. Und gut ist natürlich auch der liebe Gott.

Nur glaubt an den so gut wie keiner mehr. Das Gute wirkt banal und ist deshalb, so das allgemeine Vorurteil, nichts Ernstzunehmendes, es sei denn das Böse wird zum Guten umgemünzt. «Gut» ist dann die Kollegin, die im Vergleich zu mir den Kürzeren gezogen hat; «gut» ist die Versicherung, die nicht bemerkt hat, dass mir eine derart hohe Summe gar nicht zusteht; und «gut» ist der besiegte Feind, die zerstörte feindliche Stadt. Wer kennt nicht den Satz: «Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.»

Das Böse hingegen buhlt ständig um unsere Aufmerksamkeit: der Ukrainekrieg, der Sturm Melissa, das Elend von Gaza, die Gräueltaten in Darfur, Guantanamo, der Teufel. Ob man das alles als «böse» bezeichnen darf oder lieber – beschwichtigend – als schlecht, verwerflich, abscheulich oder einfach nur «ungut», darüber lässt sich trefflich und endlos diskutieren. Ich halte das an dieser Stelle für müssig. Jeder weiss, was ich meine. Aber warum schenken wir all diesen Gräueln so viel Aufmerksamkeit? Warum halten wir’s mehr mit dem Teufel als mit dem lieben Gott?

Bambis Entkommen

Meiner Meinung nach ist die Evolution daran schuld. Lassen Sie mich das anhand eines Rehs erklären. Stellen Sie sich einen sonnigen Herbstmorgen oder -abend vor. Unser Reh, wir nennen es der Einfachheit halber Bambi 2.0, steht auf der Lichtung, geniesst die Sonnenstrahlen auf seinem Fell und äst und kaut gemütlich vor sich hin. Dennoch bleibt es aufmerksam, denn die Welt ist nicht nur lecker.

Plötzlich unterbricht Bambi 2.0 seinen Schmaus und flüchtet in weiten, federleichten Sprüngen nach rechts. Was ist geschehen? Bambi hat links eine gefährliche Bewegung bemerkt. Ein junger Wolf, noch unerfahren, hatte sich etwas zu schnell zum Waldrand geschlichen. Flüchtet unser Reh also bei jeder Bewegung? Nein, durchaus nicht. Bevor der Wolf kam, hatte der Wind ordentlich an den Zweigen gerüttelt. Nicht nur zehn, nein, Hunderte von Blättern waren zu Boden gewirbelt, Hunderte von Bewegungen hatten stattgefunden, und doch blieb Bambi 2.0 entspannt. Warum? Weil es diese Bewegungen seit Monaten als harmlos eingeordnet hatte und daran gewöhnt war. Erst die eine, ungewöhnliche Bewegung am linken Waldrand hat seine Flucht ausgelöst.
Nur kein Stress

Bambi 2.0 sollte dem Wolf dankbar sein. Wäre es nicht vor ihm geflüchtet, wäre es jetzt tot. Die ganze Zeit hatte nämlich ein Wilderer reglos mit gespannter Flinte am Waldrand auf den rechten Augenblick gelauert. Eine Minute später hätte er abgedrückt. Warum hatte Bambi 2.0 ihn nicht entdeckt? Ganz einfach: Der Mann hatte sich nicht bewegt. Womit wir bei der Evolution wären. Die hat die Tiere gelehrt, dass alles, was sich bewegt, gefährlich sein kann. Alles, was sich bewegt, wird deshalb analysiert, kategorisiert, bewertet. Ein stehender Baum ist unbedenklich. Aber wehe, er fällt.

Die Evolution hat das ganz vernünftig eingerichtet: Haben Tiere einmal eine Situation musterhaft als «harmlos» erkannt – bzw. das von ihren Eltern erlernt –, können sie sich für den Rest ihres Lebens viel Stress ersparen. Sie können einen Grossteil aller Bewegungen negieren und sich dem Guten widmen, dem Genuss und der Lebensfreude. Müssten sie jede Bewegung um sie herum ständig neu bewerten, so würde Stress das ganze, bislang so entspannte, Tierreich erfassen. Die Tiere bräuchten Smartphones, um Termine zu machen. Womit wir beim Menschen wären.

Gefahrvolle Welt

Auch wir wollen fressen, verdauen, uns fortpflanzen und schlafen. Aber wir haben uns eine Welt voller Gefahren eingerichtet, die Gefahr gehört zum Alltag. Bei der Fahrt zum Supermarkt kann ein tödlicher Unfall passieren, in der Fussgängerzone können wir umgerempelt werden und uns am Randstein das Genick brechen, wir können bestohlen, bedroht, ja sogar angegriffen werden. Der Bildschirm kann explodieren, eine vergessene Herdplatte einen vernichtenden Küchenbrand auslösen. Wir können in der Badewanne einschlafen und ertrinken, und unser Kind läuft auf dem Schulweg selbstverständlich Gefahr, von Triebtätern missbraucht zu werden. Also müssen wir, ja wir müssen es zur Schule fahren, zum Kindergarten, zum Sportverein, zum Orgelunterricht.

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass diese Gefahren zwar existieren, aber vorwiegend in der Theorie, im Kopf. Unser Gehirn kann nicht unterscheiden zwischen realer und eingebildeter Gefahr; denn beides erreicht uns in Form elektrischer und chemischer Signale; weshalb uns jede Gefahr, die uns als Gedanke aus den Tiefen des Unbewussten, aus Ängsten oder gar Traumata anspringt, wie Bambi 2.0 reagieren lässt: Wir reagieren mit Flucht. Oder wir erstarren. Oder werden aggressiv, um die Einbildung, den Sturm im Wasserglas, abzuwehren.

Stress muss sein. Oder? 

Die Evolution hat uns darauf abgerichtet, Gefahren zu bemerken und ernst zu nehmen. Eine Gefahr ist alles, was mir schaden kann an Leib und Leben, an körperlicher und geistig-seelischer Gesundheit. Und die Summe aller Gefahren ist nun mal das Böse. Kein Wunder also, dass wir uns vom Bösen umgeben wähnen, dass wir an Verkehrsunfällen stehen bleiben und glücklich darüber sind, dass es nicht uns erwischt hat.

Sich mit dem Bösen bzw. Schlechten, Verwerflichen, Abscheulichen oder Unguten zu beschäftigen, ist ganz normal. Schliesslich ist unser Verhalten der Evolution geschuldet. Deshalb erscheint es uns nur logisch und sinnvoll, wenn die Polizei immer mehr Rechte erhält, uns zu belauschen, auf dass sie dem Bösen Einhalt gebietet; wenn die Presse ausdauernd vom Schlimmsten berichtet und damit lediglich einer evolutionären Notwendigkeit gehorcht. Und wenn wir Kriege führen, so doch nur, um all das Böse auf der Welt abzuwehren. Daran glauben wir felsenfest und unerbittlich. Dass so ein Leben nicht stressfrei geschehen kann, ist ja wohl einzusehen, weshalb wir Stress als lebensimmanente Selbstverständlichkeit betrachten.

Von Bambi lernen

Ganz anders das uns überlegene Bambi 2.0. Es geniesst sein Leben in vollen Zügen, macht sich keine Gedanken über Schulabschlüsse oder das Leid der Welt, schlägt sich nicht mit dem Finanzamt herum und konzentriert sich auf das Gute, von dem weit mehr vorhanden ist als vom Bösen. Tiere sind realistisch, es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Bambi 2.0 weiss: Aus der Wiese spriessen weit mehr Kräutlein, als es jemals verzehren kann. Und sollte irgendwann doch einmal der Wolf zum Zug kommen, so reicht Bambi ihm das zarte Hälschen zum Biss, denn bis zu diesem Augenblick hatte es ein wundervolles, ein köstliches Leben. Dann ist das eben so, und nicht einmal der Wolf erscheint Bambi böse. Doch gibt es erstaunlich wenige Wölfe in Bambis Umgebung; und von fehlgelaufener Jagd frustrierte Wölfe halten sich lieber an Mäuse und Hasen als an Bambis. Tatsächlich sagen uns Statistiken, dass nur zwischen ein und fünf Prozent aller Rehe Raubtieren zum Opfer fallen.

Lohnt es sich da nicht, von Bambi zu lernen? Sich also auf das Gute, Wahre und Schöne zu konzentrieren, zumal auch wir nur von wenigen Wölfen umgeben sind – die eingebildeten ausgenommen. Der Spruch: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück» trifft auch auf das Böse zu. Je mehr ich davon im Wald vermute, ja mit Sicherheit annehme, desto mehr Trolle, Orks und Untote entstehen dort. Und umgekehrt.

Ich, beispielsweise, habe heute nur Gutes erlebt: Ich habe mit meinem Sohn einen unfallfreien Morgenspaziergang gemacht, habe mich weder bei Frühstück noch beim Mittagessen ernsthaft verschluckt; ich habe einen köstlichen Darjeeling in perfekter Stärke getrunken, ohne mir die Zunge zu verbrennen; ich habe ein Mittagsschläfchen genossen und bin vor dem Wecker aufgewacht. Und auf der Tastatur für diesen Essay habe ich alle Tasten gefunden, ohne mir auch nur einen einzigen Finger zu verstauchen; ich sehe abends einem Glas Wein entgegen, von dem ich jetzt schon weiss, dass er nicht in Essig umgeschlagen sein wird. Genau genommen könnte ich hier wenigstens von zwanzig weiteren guten Dingen dieses Tages berichten, aber ich will ja niemanden länger langweilen als nötig.

Auch die Tatsache, dass mir bei den Überlegungen zu diesem Essay zuerst Bambi eingefallen ist und nicht der böse Wolf, dient meiner Erheiterung. Irgendetwas hat mich da positiv geframt, wie das wohl in Neusprech heisst. Und das kann ja wohl nur das Gute gewesen sein. Oder?

Der Artikel wurde erstmals auf Zeitpunkt.ch veröffentlicht: https://www.zeitpunkt.ch/das-gute-das-boese-und-die-evolution

Der Originalartikel kann hier besucht werden