Versuch einer Rückführung

Von Bobby Langer

„Den jeweiligen Unsinn im Kopf daran zu hindern, über die Lippen zu kommen, ist der schnellste Weg, klüger zu werden.“ Alfred Paul Schmidt

Was für ein Thema habe ich mir da aufgehalst! Es sieht ganz danach aus, als müsste ich damit gegen eine Phalanx von Vorurteilen antreten, neuerdings auch dem, Künstliche Intelligenz sei eine feine Sache. Mithin haben meine Worte wenig Chance auf Gehör. Da es aber in meinem Umfeld, zu dem ich – vorsichtig geschätzt – tausend Personen zähle, niemanden zu geben scheint, der nicht dem einen oder anderen Vorurteil in Sachen Wissenschaft aufsitzt (mich selbst eingerechnet), scheint die Beschäftigung mit dieser Frage dennoch aussichtsreich.

Die gesellschaftlichen Gruppierungen, die „die Wissenschaft“ gerne zur Stabilisierung ihrer Argumentation hernehmen, sind zahlreich. Insbesondere hat „Fridays for Future“ immer wieder verlangt, man möge die Ergebnisse „der Wissenschaft“, in diesem Fall der Klimaforschung, ernstnehmen. Gleichzeitig halten Politiker und Manager aller Couleur mit abweichenden Expertisen dagegen. Auch Journalisten greifen auf Wissenschaft zurück, um komplexe Themen zu erklären oder Kontroversen einzuordnen. Die reinste Meinungsschlacht mit wissenschaftlichen Argumenten wurde zur Corona-Zeit geschlagen.

Als Laie ist man diesen Argumenten und Gegenargumenten meist hilflos ausgeliefert und folgt dann gerne den am plausibelsten klingenden „Beweisen“. Doch vielleicht muss man sich auf viele dieser Debatten oftmals gar nicht einlassen, vielleicht hilft ja ein Blick auf „die Wissenschaft“ aus einer Metaperspektive weiter. Da ich selbst kein Wissenschaftler bin, tue ich das notgedrungen mit einem Laienblick für Laien.

Der Übersicht zuliebe will ich folgende Abschnitte vortragen:

  • Was ist (für mich) „die Wissenschaft“?
  • Was ist (für mich) „gute“ Wissenschaft?
  • Wer beantwortet die Frage „Brauchen wir Wissenschaft?“ gerne mit „Ja“?
  • Wer beantwortet dieselbe Frage gerne mit „Nein“?
  • Wozu brauchen wir keine Wissenschaft?

Was ist „die Wissenschaft“?

Als Untertitel für diesen Essay habe ich „Versuch einer Rückführung“ gewählt, durchaus im Spiel mit dem Reinkarnationsgedanken. Dessen substanzieller Kern besteht in der Vorstellung, dass jeder Mensch letztlich nur eine Variante seiner selbst darstellt, wobei sich die Ursprungsvariante in der Vergangenheit (oder der Zukunft?) verliert. Du und ich können dieser Idee zufolge alles Lebendige gewesen sein, von der Kellerassel bis zum Leguan, sofern wir den trans-menschlichen Bereich in das Gedankenexperiment einbeziehen. Wohin bzw. worauf ließe sich Wissenschaft in diesem Sinn rückbeziehen? Benötigt ein Veilchen, ein Auerhahn oder eine Kobra „Wissenschaft“, um zu sein, was sie sind? Und wenn ja: welche? Weit hergeholt? Mag sein, aber man wird ja wohl noch fragen dürfen.

Zurück zum vertraut Menschlichen. Eines der Kern-Vorurteile in Sachen Wissenschaft besteht in der Annahme, die führenden Institutionen der Gegenwart würden auf „Wissenschaft“ beruhen. Das mag auf teamorientierte Leiterinnen von Kindergärten gerade noch zutreffen, gewiss aber nicht auf die Leiterinnen von Unternehmen oder Bundesbehörden. Und zuverlässig nicht auf führende Politiker. Der Kern wissenschaftlichen Denkens – aber dazu später –, nämlich der Zweifel, wäre ihnen allen enorm hinderlich. Das dürfte auch auf die notwendige Nachprüfbarkeit alles von ihnen Behaupteten zutreffen. Dabei berufen sie sich gar nicht so selten auf „Wissenschaft“.

Ein weiteres, beinahe schon verstörendes Vorurteil in Sachen Wissenschaft gründet auf der Annahme, logisches Vorgehen sei gleichbedeutend mit wissenschaftlichem Vorgehen. Viele schlagende Männer (oder Eltern) finden es „nur logisch“, unter den gegebenen Umständen zuzuschlagen. Und wer geschlagen wird, muss zurückschlagen, ist doch logisch, nicht wahr? Klingt irgendwie wissenschaftlich korrekt. Auch das Argument, ein Stein fiele deshalb zur Erde, weil die Erde ihn liebhat, birgt eine charmante Logik. Zwingend logisch erscheint uns folgender wissenschaftliche Gottesbeweis (ein Widerspruch in sich?): Jeder Wirkung geht eine Ursache voran. Also hat alles, was zu existieren beginnt, eine Ursache; da auch das Universum irgendwann zu existieren begonnen hat, muss es eine Ursache geben, die dem Universum und seinen Eigenschaften des Materiellen, Räumlichen und Zeitlichen vorausging und mächtig genug war, das Universum zu erschaffen. Hm, … denk, denk!

Was ist „gute“ Wissenschaft?

Wissenschaft, die sich dessen bewusst ist, dass sie den „Versuch eines Orientierungssystems in einer sinnleeren Zeit“ darstellt, würde ich als „gute Wissenschaft“ bezeichnen. Und um die Sache gleich mal von der anderen Seite her zu betrachten: Eine Wissenschaft, die glaubt, ohne den „Versuchsaspekt“ auszukommen und sich als „Orientierungssystem durch eine sinnleere Zeit“ behauptet, eine Wissenschaft also, die sich Absolutheitsansprüche anmaßt, ist eine „schlechte Wissenschaft“.

Historisch gesehen war Wissenschaft ein Ausdruck des Widerstands unseres Geistes gegen die Fundamentalismen und die Indoktrination von Potentaten, ganz egal, ob es sich dabei um Kirchenführer oder weltliche Fürsten handelte, die einen Gottes-Gnaden-Status für sich beanspruchten. Und ganz egal, in welchem Kulturraum. Deshalb ist auch der Ausdruck „freie Wissenschaft“ ein weißer Schimmel. Apropos „Schimmel“. Alle politischen Bestrebungen, Wissenschaftlern bzw. Denkern Scheuklappen anzulegen – Wissenschaft also ideologisch einzuhegen bzw. Denk- oder Meinungsvorschriften zu erlassden, egal ob in Ost oder West –, sind Hinweise auf die Rückkehr einer mittelalterlichen Denkhaltung. Das gilt auch für alle Institutionen und Instanzen, die eine bestimmte wissenschaftliche Meinung erzwingen wollen. Sie widersprechen dem Geist guter Wissenschaft und gehören auf den Misthaufen der Geistesgeschichte.

Zusammenfassend: Wissenschaft ohne den revolutionären Geist des Zweifels vergisst ihren eigenen höheren Zweck, nämlich Geist und Wissen in Richtung des Möglichen, ja vielleicht sogar des Undenkbaren zu öffnen. Wissenschaftler ohne diesen revolutionären Impuls sind nicht mehr Pioniere, sondern Konservatoren; sie verhalten sich wie Wissensfunktionäre oder -bürokraten. Gute Wissenschaft weiß um das Hypothetische allen Wissens, das vielleicht (oder sogar hoffentlich) morgen schon durch eine gültigere Alternative ersetzt wird. Dazu gehört auch der Anspruch – vorsicht, jetzt wird’s umstürzlerisch! –, die eigenen Axiome zu hinterfragen.

Frage: „Brauchen wir Wissenschaft?“ – Antwort: „Ja“

Verlieren wir uns gelegentlich in hitzigen Gedankengefechten, dann kann die Frage weiterhelfen: „Ist das wirklich so? Oder lässt sich die Sache vielleicht noch aus einem anderen Blickwinkel betrachten?“ Auch die Frage: „Was richtet mein Insistieren beim anderen an?“, bringt zur Besinnung. Persönlich würde ich sagen: Wir brauchen gute Wissenschaft – und Empathie –, um die Säulen unserer Wolkenkuckucksheime auf eine solide Bodenplatte zu stellen, auf schlechte Wissenschaft – und Rücksichtslosigkeit – können wir liebend gern verzichten. Nur: Gelegentlich scheint mir die schlechte Variante den Zeitgeist besser zu bedienen und wird deshalb bevorzugt in Anspruch genommen.

Die Antwort „Ja, wir brauchen die Wissenschaft“ (mit Artikel) erschallt aber oft auch aus modrigen Ecken, wo man Wissenschaft vor einen ideologischen Karren spannen möchte oder auch spannt. Wird ein Wissenschaftler auf diesem Karren mit Renommee, Preisen oder lukrativen Posten belohnt, so wird das wackelige Gefährt – ungeachtet des Zuggauls und seines Stalls – gerne bestiegen. Am Ende kommt dabei dann zum Beispiel ein Wirtschaftsnobelpreis heraus, der dem Neoliberalismus das Wort spricht, oder ein Friedensnobelpreis für eine Rüstungsgüter produzierende Wirtschaftsgemeinschaft. Wer sich auf die Wissenschaft beruft, um die eigene Position zu zementieren, statt ihre Fragwürdigkeit prinzipiell zuzulassen (im Idealfall sogar dazu einzuladen), ist also mit Vorsicht zu genießen. Was nicht gegen Wissenschaft spricht.

Persönlich müsste ich die Frage, ob wir Wissenschaft brauchen, mit einem „Jein“ beantworten. Denn vor einer Antwort, so scheint mir, benötigen wir Wissenschaft zur Beurteilung der Befürchtung, das Schiff der westlichen Zivilisation würde tatsächlich auf einen Eisberg zuhalten. Am liebsten erhielte ich die Antwort von mehreren, von niemandem bezahlten und unkorrumpierten Privatgelehrten. Wäre ihre Antwort ein „Nein“, könnte ich mich Wichtigerem zuwenden, wäre es ein klares „Ja, so ist es“, dann brauchten wir Wissenschaft mehr denn je. Denn so verfahren, wie die Situation dann ist, können uns nur neutrale Fachleute dabei helfen, dem Schlamassel zu entrinnen, den wir uns eingebrockt haben. Wo die aber hernehmen?

Frage: „Brauchen wir Wissenschaft?“ – Antwort: „Nein“

Nicht überraschend, aber doch verblüffend ist die Tatsache, dass manche Gruppen, und zwar die jeweils selben, diese Frage mal mit „Ja“ und mal mit „Nein“ beantworten, je nachdem, welche Position der wissenschaftlichen Meinungsführer ihnen besser in den Kram passt.

Ein vehementes „Nein“ bekommen wir von all jenen um die Ohren, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, so dass ihnen alles Andersmeinende zuverlässig als Unsinn erscheint. Solchen Wahrheitsmonopolisten ist Wissenschaft alles zwischen Frechheit und Drohung.

Eine angemessenere Reaktion wäre ein „Nein“, das uns zu der einschränkend vernünftigen Frage führte: Wofür eigentlich?“ Denn zumindest darüber besteht in allen Lagern große Einigkeit: Für die Einschätzung einer realen Gefahr, etwa eines Tsunami-auslösenden Seebebens, ist die Einrichtung seismischer Messpunkte am Meeresboden sinnvoll. Oder für die Einschätzung eines erwartbaren Nutzens: Ohne Hahn keine Küken. Fehlt ein plausibles „Wofür“, wird Wissenschaft zum reinen Selbstzweck. Akzeptiert man freilich das Ausloten neuer Profitmöglichkeiten als ausreichenden Grund für wissenschaftliche Forschung, dann gibt es kein Halten mehr. Ich fürchte, in diesem Fall läge mir das „Nein“ als Antwort näher.

Ein weiteres Bedenken gegenüber Wissenschaft und Expertentum wäre dieses: Schon der durchschnittliche Physiklehrer am Gymnasium tut sich schwer mit den Feinheiten von Quantentheorie oder Chaosphysik. Wie will also unsereins beurteilen können, ob jemand ein wohlmeinender Experte ist oder ein Expertentum vorschützender Quacksalber? Auf so eine undurchschaubare Wissenschaft kann ich gut verzichten. Da halt ich’s dann lieber mit der Fuzzy Logic, mit der unser Gehirn ohne alle mathematischen Kenntnisse sein unscharfes Wissen ganz gut in den Griff bekommt – freilich mit einem wissenschaftlichen Vorbehalt: Alles Irren ist nämlich menschlich, wie schon Seneca wusste. Was nicht für KI spricht.

Wozu brauchen wir keine Wissenschaft?

Gleich mal eine steile These zu Beginn: Für die meisten Aspekte und Situationen des täglichen Lebens ist Wissenschaft so überflüssig wie ein Kropf. Umgekehrt: Wenn wir uns eines Sachverhalts allzu sicher sind, wenn wir ihn für quasi gottgegeben halten (also eine Art innere Feudalhaltung dazu einnehmen), dann schadet es nicht, die wissenschaftliche Brille aufzusetzen für eine Art Faktencheck.

Beispiel: Ich gehe jeden Tag zur Arbeit; die gefällt mir zwar nicht, schlägt mir manchmal sogar auf den Magen, „aber das Leben ist eben kein Ponyhof“. Wissenschaftlich betrachtet müsste ich diesen scheinbar gottgegebenen Glaubenssatz anzweifeln. Ich könnte mich fragen: Ist das der richtige Job für mich (mit allerlei Zusatzfragen, die sich folgerichtig daraus ergeben)? Bzw. bin ich der Richtige für diesen Job (dito)? Was gefällt/missfällt mir an meinem Job? Passt er zu meinen Werten? Stehen meine Leistung und mein Ertrag in einem angemessenen Verhältnis? Was könnte ich tun, damit mir meine Arbeit besser gefällt (Arbeitsplatz, Motivation, Kollegen, Gespräch mit Vorgesetzten etc.)? Welche gewöhnlichen (oder auch ungewöhnlichen) Jobalternativen bieten sich? Wie viel Geld brauche ich wirklich? Würde ich diese Fragen aufrichtig beantworten (und es gibt bestimmt einige mehr), könnte sich meine innere Haltung zu meiner Arbeit ändern, mit Auswirkungen auf mein Wohlbefinden, meine Partnerschaft, Familie etc. – und auf den Ponyhof.

Aber zurück zur Eingangsthese: Aspekte und Situationen des täglichen Lebens, für die ich keine Wissenschaft brauche, sind zum Beispiel: Fühle ich mich nachts wohl auf meiner Matratze? Geht es mir nach acht Stunden Schlaf besser als nach sieben Stunden? Hilft Mundpflege gegen Mundgeruch? Muss ich dreimal im Jahr Urlaub machen? Muss es per Flieger sein? Bin ich zu dick oder zu dünn? Bewege ich mich genug? Ist meine Partnerschaft in Ordnung? Wie komme ich mit meinen Eltern, Freunden, Kolleginnen klar? Anfangs hilft – auch wenn das nicht gerade zeitgemäß ist – die Frage: Ist mein Gewissen ein sanftes Ruhekissen? Wirklich und immer? Und dann: Was muss ich tun, damit es sanfter wird? Habe ich meine Freunde vernachlässigt? Bin ich wirklich gut zu mir? Nehme ich mehr, als ich gebe?

Solche Fragen kann keine Wissenschaft beantworten. Und doch sind sie relevanter für mein Leben und mein Wohlbefinden als die Frage, ob ein Präsident aus dunklen Quellen bezahlt wird oder nicht.

Wissenschaftlich betrachtet hat der (vorübergehend) Recht, der ein Experiment en détail wiederholen kann und dabei nachweislich zu abweichenden Ergebnissen kommt. Aber auch darüber braucht man sich letztlich nicht zu streiten, sondern kann sich zusammensetzen und die Fakten vergleichen. Irgendwie lässt sich die Differenz garantiert erklären. Denn im Vordergrund wissenschaftlichen Denkens steht die Neugier und nicht das Recht-haben-Wollen.

Ein Schluss zum Schluss

Zu guter Letzt eine metaphorische Anmerkung, von der ich nicht genau weiß, ob sie wissenschaftlich ist (das können Sie ja selbst beurteilen):

Wenn mich nachts schon mehrfach ein beunruhigendes Knarren im Gebälk meines Hauses geweckt haben sollte, dann läge es nahe, wenigstens zwei Statiker zu befragen, ob ich in meinem Bett noch sicher bin. Sagt der eine „hü“ und der andere „hott“, so würde ich mindestens zwei weitere befragen. Kämen schließlich zehn Statiker zu dem Schluss, dass mir das Dach möglicherweise schon morgen auf den Kopf fällt, würde ich vorerst meinen Schlafplatz zu einem Freund verlegen. Das würde ich auch dann tun, wenn einer der Statiker meinte, er halte es für unwahrscheinlich, dass ich von meinem eigenen Haus erschlagen werde. Auch meine Frau und meine Kinder würde ich auslagern. Sie nicht? Und doch kenne ich allerlei Leute, die lieber dem einen Statiker Glauben schenken als tausend anderen, nur weil dieser eine sie in dem eitlen Glauben bestärkt, die große Mehrheit liege daneben, er habe das schon immer gewusst. Das ist eine religiöse und keine wissenschaftliche Haltung.

Es ist gar nicht so einfach mit der Wissenschaft. Nicht sie scheint mir das Problem, sondern unser Umgang damit. Denn meist möchten wir unsere Grundannahmen nicht überprüfen lassen, nicht einmal von uns selbst. Dazu gehört auch, ganz im Ernst, die Eingangsfrage: „Benötigt ein Veilchen, ein Auerhahn oder eine Kobra „Wissenschaft“, um zu sein, was sie sind?“ Und Sie?