Die ungebremste Turbo-Militarisierung Europas wird unter anderem durch eine Annahme genährt, die es zu hinterfragen gilt. Sie ist sowohl in Militärkreisen als auch in der Populärkultur im weiteren Sinne und in vielen militanten Kreisen weit verbreitet. Sie besagt, dass Gewalt ein wirksames Mittel ist, um seine Ziele zu erreichen.

Die Wirksamkeit von Gewalt ist fragwürdig.

Es gibt jedoch Grund, daran zu zweifeln.

Erstens – um es einfach, ja sogar vereinfacht auszudrücken – gewinnt in jedem gewalttätigen Konflikt eine Seite, während die andere verliert. Gewalt scheitert also mindestens in der Hälfte aller Fälle.

Zweitens kann die Reaktion derjenigen, gegen die Gewalt angewendet wird, entweder darin bestehen, sich zu fügen, sich zu beugen oder sich zu weigern und Widerstand zu leisten. Als Beispiele seien hier die Hamas, Israel, die Ukraine oder Russland genannt. Die jeweilige Reaktion ist weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Diejenigen, die Gewalt ausüben, können die Reaktion der Opfer nicht bestimmen.

Drittens endeten nur wenige Kriege im letzten Jahrhundert mit einem entscheidenden militärischen Sieg. Staaten mit größerer militärischer Leistungsfähigkeit gehen nicht unbedingt als Sieger hervor (siehe Vietnam, Afghanistan, Ukraine). Gewalt ist also nicht besonders wirksam, um politische Ziele zu erreichen. Eine größere Befähigung zur Anwendung von Gewalt ist auch keine Garantie für Erfolg.

Um es klar zu sagen: Ich behaupte nicht, dass Gewalt immer scheitert, aber sie scheitert auf jeden Fall häufiger, als man sich vorzustellen bereit ist, wenn man sie predigt oder akzeptiert. Was der Einsatz von Gewalt hingegen garantiert, ist eine Reihe von Verwüstungen: zwischenmenschliche Gewaltakte (einschließlich sexistischer Gewalt), materielle Zerstörung und Umweltzerstörung …  Gewalt zerstört: Sie quält ihre Opfer und deren Angehörige, brutalisiert ihre Täter und traumatisiert alle, die sie erleben.

Wem nützt Gewalt?

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Anwendung von Gewalt niemandem nützt. Mit der Herstellung von Waffen lassen sich beispielsweise große Gewinne erzielen. Politische Agenden und Karrieren können vorangetrieben werden. Konkurrenten können diskreditiert werden. Bestimmte Ziele können beseitigt werden. Es können Bilder von entschlossenem Handeln vermittelt werden. Pazifisten sind seit Langem darüber besorgt, wie sehr derartige Interessen Entscheidungen über Krieg und Kriegsvorbereitungen beeinflussen.

Bewaffnete Gewalt ist keinesfalls derart oft eine kluge Entscheidung, wie geglaubt wird – selbst dann nicht, wenn es um Verteidigung geht. Zudem führt sie zu einer gefährlichen Militarisierung mit autoritären Tendenzen und zweifelhaften Vorteilen.

Was also tun? Wie soll man auf Gefahren reagieren, wie sie beispielsweise von Wladimir Putins Russland ausgehen?

Eine Alternative: die Gewaltfreie zivile Verteidigung (GzV)

Nun, ich denke, es ist höchste Zeit, die GzV als Alternative zur traditionellen Verteidigungslogik wieder in den Vordergrund zu rücken, (so, wie es die Sonderausgabe von Alternatives Non-Violentes vom Dezember 2024 tut).

Seit der Studie „Why Civil Resistance Works” von Chenoweth und Stephan aus dem Jahr 2011 wissen wir, dass gewaltfreier Widerstand mindestens genauso oft erfolgreich ist wie gewaltsamer Widerstand (laut der Studie sogar doppelt so oft, auch wenn die Angaben hierzu umstritten sind). Allerdings garantiert Gewaltfreiheit keinen Erfolg (genauso wenig wie gewaltsame Methoden). Darüber hinaus befassen sich die meisten Studien zur Gewaltfreiheit mit Beispielen für Widerstand, der hauptsächlich auf nationaler Ebene stattfindet, nicht jedoch mit zwischenstaatlichen Kriegen. Daher stellt sich die Frage, ob Gewaltfreiheit als Verteidigungsmethode gegen eine militärische Invasion funktionieren könnte.

Ein tatsächliches Beispiel für ein Land, das sich mithilfe der GzV verteidigt hat, ist nicht gegeben. Eventuell Litauen während des Zusammenbruchs der UdSSR. Es gibt jedoch unzählige Beispiele für Völker, die sich oft relativ spontan gegen autoritäre und kolonialistische Regime, damit also auch gegen Besatzungsregime, gewehrt und diese besiegt haben.

Der Fall der Ukraine: ein alternatives Szenario.

Kehren wir für einen Moment zum Krieg in der Ukraine zurück. Zwischen dem Euromaidan 2013/14 und 2022 hat sich die Ukraine der NATO angenähert und ihr Militärbudget verdoppelt. Was wäre, wenn in diesen Jahren derselbe Aufwand an Zeit, Geld und Verwaltungskapazitäten für die Ausbildung aller Ukrainer im gewaltfreien Widerstand aufgewendet worden wäre? Was wäre, wenn die Ukraine und ihre Verbündeten ebenso viel in eine Kultur des gewaltfreien Widerstands investiert hätten wie in eine militärische Reaktion? Der Verlauf der Ereignisse wäre für die Ukrainer riskant, ungewiss und schwierig gewesen. Aber sind wir sicher, dass das Ergebnis schlechter ausgefallen wäre als diese Realität der zerstörten Städte, der vertriebenen Bevölkerung und den mehr als 200.000 Todesopfern, die der Krieg bisher gefordert hat – ganz zu schweigen vom nach wie vor ungewissen Ausgang desselben und der Gefahr einer nuklearen Eskalation? (Diese Frage ging ich in einem Artikel nach, der im Januar auf Englisch erschienen ist.)

Aufbau einer echten Bürgerwehr

Solange wir die GzV nicht ausprobiert haben, werden wir keinen Beweis dafür haben, dass sie funktioniert. Um sie jedoch einzuführen, würde es ausreichen, die Ausbildung aller Bürger in Methoden des gewaltfreien Widerstands zu organisieren und dies zu finanzieren. Die Staaten verfügen über die notwendigen administrativen und finanziellen Möglichkeiten. Dies wäre viel kostengünstiger als das Programm zur Wiederaufrüstung Europas. Es würde die mit dieser ungebremsten Militarisierung einhergehenden Gefahren vermeiden. Und nebenbei würden unsere Demokratien in die Lage versetzt, dem Aufstieg des Faschismus besser zu widerstehen und gegen den Klimawandel, Sexismus usw. vorzugehen.

Fazit: Neue Horizonte eröffnen.

Für mich ist die aktuelle Situation daher eine Gelegenheit, dafür zu werben, zumindest einen Teil der für die Verteidigung zugesagten Mittel dafür zu verwenden, alle Bürger in GzV zu schulen. Dies würde vielversprechendere und weit weniger beängstigende Perspektiven eröffnen als die, die uns unsere Politiker vorgaukeln wollen.

Alexandre Christoyannopoulos

 


Alexandre Christoyannopoulos ist Dozent für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Loughborough. Er ist Autor der Bücher Tolstoy’s Political Thought (2020) und Christian Anarchism (2010) sowie zahlreicher Artikel und Kapitel über Leo Tolstoi, religiösen Anarchismus, Pazifismus und Anarcho-Pazifismus. Er ist Chefredakteur des Journal of Pacifism and Nonviolence. Die vollständige Liste seiner Veröffentlichungen ist auf seiner Website verfügbar.

https://sites.google.com/site/christoyannopoulos/publications-by-theme.

Siehe auch den im April letzten Jahres in Pressenza erschienenen Artikel über die GzV: https://www.pressenza.com/fr/2025/04/defense-civile-non-violente-dcnv-histoire-dune-notion/

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!