von Nicolas Paz* von der katholischen Initiative für Gewaltfreiheit

Wir leben in einer Welt und in einer Kultur, die Gewalt rechtfertigt. Gaza, die Ukraine und die Wiederaufrüstung Europas sind lediglich die sichtbarsten Beispiele. Trotzdem dürfen wir andere Teile der Welt nicht vergessen, die ebenfalls unter der Gewalt leiden und weitgehend unsichtbar bleiben – Orte wie der Sudan, Myanmar oder die Demokratische Republik Kongo. Kann gewaltfreier Widerstand angesichts dieser Gegebenheiten noch eine wirksame Antwort bieten?

Der Begriff „ Gewaltfreiheit“ wurde von Gandhi eingeführt. Er leitet sich vom Sanskrit-Wort ahimsa ab und bedeutet, dass der Wunsch zur Gewalt völlig fehlt. Er stellt eine Antwort auf  komplexe, gewalttätige sozialpolitische Szenarien dar – eine Lösung, die sich auf Solidarität und auf eine zielführende Zukunftsvision in Zeiten von Konflikten stützt. Das Wort Gewaltfreiheit ist nicht allgemein anerkannt, aber wir waren nicht in der Lage, einen anderen Begriff zu finden, der den Tiefgang des Konzepts wirklich erfasst.

Über gewaltfreien Widerstand zu sprechen, mag utopisch oder einfach nur naiv klingen, insbesondere wenn die Konflikte schwerwiegend sind oder der „Feind“ bereits zu Gewalt gegriffen hat. Doch was sagen die aktuellen Studien zu diesem Thema?

Forschungen der Professorinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan widerlegen die gängige Meinung, welche der Gewalt den Vorzug gibt. Ihre Arbeit zeigt, dass „ historisch gesehen gewaltfreie Widerstandskampagnen ihre Ziele effektiver erreicht haben als gewaltsame Widerstandskampagnen.“

Nicht nur Gandhi und Martin Luther King Junior

„Dies war sogar unter Bedingungen der Fall, unter denen die meisten Menschen vermuten würden, dass der gewaltlose Widerstand sinnlos ist “,  betonen die Wissenschaftler.

Abgesehen von Bezugnahmen auf historische Figuren wie Gandhi oder Martin Luther King Jr. sind wenige Menschen mit den Werkzeugen des gewaltfreien Widerstands vertraut.

Mit Ausnahme von Aktivisten, die sich der Gewaltfreiheit fest verpflichteten, und den Wissenschaftlern und Forschern, die sich damit befassten, hatte das breite Publikum wenig  Zugang zu Untersuchungen, wie denen des Professors und Forschers Felipe Daza. Sein über den Zeitraum von Februar bis Juni 2022 erstellter Bericht dokumentiert 235 gewaltfreie Maßnahmen des zivilen Widerstands in der Ukraine gegen die russische Invasion.

Eine Karte des gewaltfreien Widerspruchs in der Ukraine und darüber hinaus

Die Forschungsarbeit von Professor Daza enthält eine interaktive Karte, die diese Aktionen und ihre geografische Verteilung deutlich macht. Als Beispiele für diese Bemühungen zeigt der Bericht den Boykott von multinationale Unternehmen auf, sowie Protestschmierereien, symbolische Handlungen, Sitzstreiks von Angestellten des öffentlichen Dienstes, ziviler Ungehorsam und Störungen der Kommunikationsstruktur der russischen Armee.

Dasselbe gilt für die von Professor Isak Svensson erstellte Publikation Dem Kalifat ins Auge sehen, die von großflächigem und vielfältigem gewaltlosen Widerstand gegen den Islamischen Staat berichtet.

Gene Sharp belegte in seinem klassischen Werk Von der Diktatur zur Demokratie  198 Formen gewaltfreier Maßnahmen. Michael A. Beer erweiterte Sharps Arbeit und katalogisierte insgesamt 346 Formen.

Im  Widerspruch zu Mythen und vorgefassten Meinungen belegen diese Hinweise, dass wir nicht von etwas Passivem sprechen, was sich auf Proteste oder gute Absichten und Vorträge beschränkt.  Gewaltfreiheit besteht aus einem kompletten Satz an wirksamen Strategien, Taktiken, Methoden und Werkzeugen.

Zusätzlich zur bestehenden Geschichtsschreibung, Philosophie und Theologie der Gewaltfreiheit gibt es einen wachsenden Bestand an theoretischem und praktischem Wissen, das durch empirische Untersuchungen gestützt wird.

Ein Unterricht über Gewaltfreiheit in Schulen und Universitäten würde dazu beitragen, die kollektive Vorstellung bezogen auf Gewalt und Gewaltfreiheit zu verändern.

Die umfangreiche Geschichte der Gewaltfreiheit

Die Schüler sollten die Möglichkeit haben, aus früheren Erfahrungen mit Gewaltfreiheit zu lernen und darüber nachzudenken. Zum Beispiel die Lehrerstreiks in Norwegen, um die Umsetzung des nationalsozialistischen Lehrplans während des Zweiten Weltkriegs zu verhindern, oder die „People Power Revolution“ auf den Philippinen, die in den 1980er Jahren eine Diktatur stürzte. Ganz zu schweigen von der serbischen Bewegung Otpor, die im Jahr 2000 zum Sturz von Milosevic beitrug.

Andere neuere Beispiele sind ebenso von Bedeutung, wie der gewaltfreie Kampf um die Verschwundenen in El Salvador, Mexiko und in anderen lateinamerikanischen Ländern, oder der gewaltfreie Widerstand gegen den Wahlbetrug in Venezuela.

Im heutigen Klima des Militarismus – wo Krieg und Gewalt unvermeidbar scheinen – ist es erst recht notwendig, dieses Wissen sowie die Wirksamkeit gewaltfreier Strategien und Mittel für ein breiteres Publikum, und insbesondere für die Entscheidungsträger in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung sichtbar und zugänglich zu machen.

Anderenfalls würden wir dem Wissen den Rücken kehren und uns von einer mythologischen, pseudowissenschaftlichen Denkweise über Krieg und Gewalt leiten lassen.

Ein militärisches Zeugnis zugunsten der Gewaltfreiheit

Hauptmann Daniel Moriarty, ein Sonderbeauftragter für zivile Angelegenheiten der US-Streitkräfte mit Erfahrung in Afghanistan und am Persischen Golf, erklärte bereits 2022, dass der Nutzen von gewaltfreiem zivilen Widerstand erheblich unterbewertet wird.

„Trotz seiner historisch gesehen höheren Erfolgsquote als bei bewaffnetem Widerstand oder Aufständen nimmt er in militärischen Veröffentlichungen über Widerstand einen unbedeutenden Platz ein,“ vermerkte er p, der vom Verband für zivile Angelegenheiten veröffentlicht wurde.

Wissenschaftliche Beweise widerlegen den Volksglauben: die Strategien und Werkzeuge des gewaltfreien Widerstandes sind wirksamer als gewaltsame Methoden. Und noch immer leben wir in einer gewalttätigen Welt. Genau deshalb ist es ein Fehler, die Beiträge der Gewaltfreiheit unbeachtet zu lassen.

*Außerordentlicher Professor, Mediator, Priesterliche Universität Salamanca. Direktor der katholischen Initiative für Gewaltfreiheit. Mitglied von Pax Christi International.

Dieser Artikel ist in The Conversation erschienen

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!