Laut zwei namhaften israelischen Genozid-Spezialisten ist Israel daran, im Gazastreifen einen Völkermord zu begehen.

Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber

Seit Anfang März schneidet Israel das hermetisch abgeschlossene Gaza von Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Grundversorgung ab. Die verzweifelte, ständig zur Flucht gezwungen Zivilbevölkerung soll eben der Hamas endlich Widerstand leisten, meinten israelische Regierungsvertreter.

Gleichzeitig bombardiert Israel praktisch täglich weiter. Über diesen Krieg in Gaza und die dortige ethnische Säuberung berichten viele Medien nur noch am Rande. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen Schicksale von Verletzten und Getöteten in der Ukraine.

Zwei israelische und jüdische Genozid-Spezialisten rufen dazu auf, den Krieg in Gaza als fortschreitenden Völkermord zu betrachten. Der Genozid-Forscher Professor Omer Bartov kritisiert namentlich Deutschland, weil es zur obersten Staatsmaxime die Sicherheit Israels erklärt und nicht das humanitäre Völkerrecht.

«Es braucht kein Auschwitz für einen Völkermord»

Ende 2023, zwei Monate nach dem Massaker der Hamas und dem massiven Gegenschlag Israels, hatte Bartov den Vorwurf des Völkermords noch zurückgewiesen.

Am 25. Januar 2025 begründete Barton seine Meinungsänderung in einem Interview mit dem «Spiegel». Hier einige Auszüge:

«Wenn man sagt, dass Israel in Gaza einen Völkermord begangen hat, lautet die Antwort stets sofort, dass es dort kein Auschwitz gibt. Aber ich finde, dass das völlig irrelevant ist, denn nicht alle Völkermorde sehen aus wie der Holocaust. Es gab auch einen Völkermord in Ruanda oder in Bosnien oder in Kambodscha.
Es gab zahlreiche Äußerungen von israelischen Politikern und Militärs in Machtpositionen, die zur Ausrottung aufriefen und die palästinensische Bevölkerung etwa als ‹menschliche Tiere› bezeichneten.
Die Bevölkerung dort zu dehumanisieren, ist Teil der Anstiftung zum Völkermord. Insbesondere nach dem Einmarsch nach Rafah im Mai 2024 konnte man auch die systematische Zerstörung von Wohnungen und Infrastruktur erkennen, dazu von Universitäten, Moscheen, Schulen, also von allem, was ein Volk als Lebensgrundlage braucht. Und im Oktober begann die Armee dann sogar damit, den nördlichen Gazastreifen zu entleeren. Es gibt ein Muster, das auf einen Völkermord hindeutet.
Momentan zieht Deutschland aus seiner Vergangenheit die falschen Lehren: Nicht Israels Sicherheit sollte Deutschlands Staatsräson sein, sondern das humanitäre Völkerrecht sollte die wichtigste Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg sein. Die deutsche Regierung und ein Großteil der intellektuellen und akademischen Elite haben sich so sehr der Vorstellung verschrieben, dass sie Israel um jeden Preis unterstützen müssen, dass sie damit zur Schwächung der israelischen Demokratie beitragen.»


«Wachsender Konsens, dass es ein Genozid ist»

Der israelische Holocaust-Forscher Amos Goldberg hält Genozid-Vorwürfe ebenfalls für stichhaltig, auch wenn Gaza nicht Auschwitz sei.

Goldberg erklärte in der «Frankfurter Rundschau», warum er Genozid-Vorwürfe für stichhaltig hält, auch wenn Gaza nicht Ausschwitz sei:

«Eines vorweg, der 7. Oktober war ein Trauma. Es waren abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, was auch der Internationale Strafgerichtshof in seinen Haftbefehlen gegen die (inzwischen toten) Hamas-Anführer anerkannt hat. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie schockierend das Geschehen für mich persönlich war. Es hat mich ein halbes Jahr gekostet, den ersten Artikel zu schreiben, der besagte, ja, in Gaza findet ein Genozid statt.
Mein Argument ist ein zweifaches: Historisch gesehen und der UN-Konvention von 1948 zufolge handelt es sich bei einem Genozid um die Zerstörung eines Kollektivs, nicht unbedingt aller Mitglieder. Nach allem, was passiert ist, existiert Gaza nicht mehr als politisches, soziales, nationales Kollektiv. Man muss die Zahlen nicht wiederholen, aber auszugehen ist von 60’000 Toten, inklusive der unter Trümmern Begrabenen, sowie 110’000 Verletzten.
Laut UN-Konvention ist auch das Herbeiführen von Bedingungen für massenhaften Tod ein Genozid-Akt. Zerstörte Krankenhäuser, das Aushungern und Blockieren von humanitärer Hilfe sind ein Teil davon, genauso wie dem Boden gleich gemachte Städte wie Jabalyia und Rafah. Daraus entsteht ein Bild des Genozids.
Das muss nicht dem Holocaust entsprechen, als die Deutschen jedes einzelne Individuum verfolgt haben. Aber es ist genau wie Raphael Lemkin, der jüdisch-polnische Jurist, der eine treibende Kraft hinter der Genozid-Konvention war, das Wort Genozid geprägt und verstanden hat.
Die Genozid-Konvention verlangt den Nachweis einer Absicht. Hier haben wird hunderte, wenn nicht tausende aufgezeichnete, genozidale Äußerungen, die seitens Politikern (Premier und Präsident inklusive), Medienleuten, Offizieren und einflussreichen Rabbinern seit jenem 7. Oktober fielen. Wie etwa: ‹Wir werden Gaza zerstören. Wir bomben es zurück ins Steinzeitalter. Es gibt keine Unschuldigen in Gaza … .› Man hat also die Absicht, unfassbare Zerstörung und Vernichtung der gesamten sozial-politisch-kulturellen Einheit. Deshalb gibt es unter Rechtswissenschaftlern und führenden Menschenrechtsorganisationen wachsenden Konsens, dass das, was in Gaza geschieht, Genozid ist.
Historiker wissen, dass es keinen klaren Schnitt zwischen ethnischer Säuberung und Genozid gibt. Beides kommt oft zusammen, wie seinerzeit im Fall der Armenier, der Rohingyas und auch im Holocaust.»


«Kein Zweifel am Völkermord»

Der Journalist und Autor Arn Strohmeyer beschäftigt sich seit Längerem mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Er fordert eine Änderung der deutschen Politik zu Israel:

«Israel hat im Gazastreifen einen Völkermord begangen, daran besteht kein Zweifel – das bestätigen internationale Menschenrechtsorganisationen, Völkerrechtler und israelische Holocaust-Historiker. Der Internationale Gerichtshof (IGH) prüft den Vorwurf noch, aber es ist sicher, wie sein Votum ausgehen wird. Israel hat mit seinem brutalen Vorgehen in Gaza skrupellos Menschenrechte und Völkerrecht gebrochen – und hat sich dabei rechtfertigend sogar noch auf den Holocaust berufen, weil es ja mit der Hamas „Nazis“ bekämpfe. Der italienische Historiker Enzo Traverso merkt dazu empört an: „Die Erinnerung an einen Holocaust zu mobilisieren, um einen anderen Genozid in der Gegenwart zu billigen, ist etwas Neues und historisch nie Dagewesenes!“ Schlimmer kann man den Holocaust also nicht missbrauchen!
Das genau ist auf den Punkt gebracht das humane und moralische Desaster, das Israel mit seinem Genozid angerichtet hat. Aber in dieses moralische Desaster ist auch die deutsche Politik tief verwickelt, da sie durch die vorbehaltlose moralische und materielle Unterstützung (Waffenlieferungen) eine große Mitschuld an diesem Völkermord trägt. Als Täterland des Holocaust hätte Deutschland die eigentliche Botschaft des Holocaust vertreten müssen: eine Ethik der Humanität und Gleichheit für alle Menschen – und die Ablehnung von Gewalt und Krieg. Deutschland hat das nicht getan, sondern sich bedingungslos hinter Israels genozidale Politik gestellt. Es hat damit wie Israel den Holocaust verraten und sich auf die falsche Seite der Geschichte gestellt.»


Verweigerung von Nahrungsmitteln und Medikamenten

Andreas Zumach, Völkerrechtsspezialist und langjähriger Korrespondent bei der Uno in Genf, weist darauf hin, dass – seit dem Januar-Interview mit Omer Bartov im «Spiegel» – die israelische Regierung und Militärführung die Angriffe auf Krankenhäuser sowie auf Lieferungen humanitäre Versorgung der Gaza-Bevölkerung intensiviert hätten. Zudem habe die Regierung («Verteidigungsminister» Katz und andere) ausdrücklich erklärt und zu rechtfertigen versucht, dass und warum sie sämtliche humanitären Lieferungen in den Gaza-Streifen unterbindet – auch überlebensnotwendige wie Nahrungsmittel und Medikamente. Das erfülle Kriterien der Genozid-Konvention von 1948.

Der Originalartikel kann hier besucht werden