Die Ukraine kämpft um Freiheit und ihr Territorium – aber auch für geopolitische US-Interessen: Die USA wollen Russland schwächen.

Harald Kujat für die Online-Zeitung INFOsperber

upg. Medien verbreiten zunehmend Stimmen, die Verhandlungen erst dann befürworten, wenn sich Russland aus dem Donbas und der Krim zurückzieht. Wer jetzt Verhandlungen fordere, sei nicht nur ein «Putin-Versteher», sondern ein «Putin-Verehrer» und «naiver Pazifist» (FDP-Präsident Thierry Burkart). Für sein Imperium kenne Putin keine Grenzen und wolle wieder die Kontrolle über die früheren Ostblockländer (Soziologe Grigorij Judinim Interview heute ausführlich auf Infosperber).
Deshalb dokumentiert Infosperber vor allem ergänzende Stimmen, welche die Fortsetzung des Krieges für riskant halten. Heute General a.D. Harald Kujat. Er war Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster deutscher Militär der Nato. Weil sie immer noch aktuell sind, dokumentieren wir nochmals seine Aussagen aus einem Interview mit «Zeitgeschehen im Fokus» (Zwischentitel von Infosperber).

Russland sieht das nuklearstrategische Gleichgewicht gefährdet

Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, um ihre Souveränität und um die territoriale Integrität des Landes. Aber die beiden Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA.

Die Ukraine kämpft auch für die geopolitischen Interessen der USA. Denn erklärtes Ziel der USA ist es, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger in der Lage ist, ihre Vormachtstellung als Weltmacht zu gefährden: China.

Russland will verhindern, dass der geopolitische Rivale USA eine strategische Überlegenheit gewinnt, die Russlands Sicherheit gefährdet. Sei es durch Mitgliedschaft der Ukraine in der von den USA geführten Nato, sei es durch die Stationierung amerikanischer Truppen, die Verlagerung militärischer Infrastruktur oder gemeinsamer Nato-Manöver. Auch die Dislozierung amerikanischer Systeme des ballistischen Raketenabwehrsystems der Nato in Polen und Rumänien ist Russland ein Dorn im Auge, denn Russland ist überzeugt, dass die USA von diesen Abschussanlagen auch russische interkontinentalstrategische Systeme ausschalten und damit das nuklearstrategische Gleichgewicht gefährden könnten.

Die strategischen Ziele der ukrainischen Kriegsführung hat Selensky immer wieder geändert. Gegenwärtig verfolgt die Ukraine das erklärte Ziel, alle von Russland besetzten Gebiete einschliesslich der Krim zurückzuerobern.

Geplante Waffenlieferungen reichen nicht

Es gilt somit die Frage zu beantworten, ob das Mittel westlicher Waffenlieferungen geeignet ist, den von der Ukraine beabsichtigten Zweck zu erfüllen. Der ukrainische Generalstabschef General Saluschnij sagte kürzlich: «Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen, um die russischen Truppen wenigstens auf die Positionen von vor dem Angriff vom 24. Februar zurückzudrängen. Jedoch mit dem, was er erhalte, seien «grössere Operationen nicht möglich».

Das erklärt die Aussage des ukrainischen Generals Saluschnij, wonach die westlichen Waffenlieferungen den Krieg lediglich verlängern. Hinzu kommt, dass Russland die westliche Eskalation jederzeit durch eine eigene übertreffen könnte.

Nach Ansicht des US-Generalstabschefs General Mark Milley hat die Ukraine das, was sie militärisch erreichen konnte, erreicht. Mehr sei nicht möglich. Deshalb sollten jetzt diplomatische Bemühungen aufgenommen werden, um einen Verhandlungsfrieden zu erreichen. Ich teile diese Auffassung.

Zeitpunkt für Verhandlungen

Beide Kriegsparteien befinden sich gegenwärtig wieder in einer Pattsituation, die durch die Einschränkungen aufgrund der Jahreszeit verstärkt wird. Jetzt wäre also der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die Waffenlieferungen bedeuten das Gegenteil, nämlich dass der Krieg sinnlos verlängert wird, mit noch mehr Toten auf beiden Seiten und der Fortsetzung der Zerstörung des Landes. Selbst der Nato-Generalsekretär hat kürzlich vor einer Ausweitung der Kämpfe zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland gewarnt.

Verpasste Chance im letzten März und September

Eine positive Ausgangslage für eine Verhandlungslösung hatte sich Ende März vergangenen Jahres ergeben, als die Russen entschieden, vor Kiew abzudrehen und sich auf den Osten und den Donbas zu konzentrieren. Das hat die Verhandlungen in Istanbul ermöglicht. Eine ähnliche Lage entstand im September, bevor Russland die Teilmobilisierung durchführte. Die damals entstandenen Möglichkeiten sind nicht genutzt worden.

Jetzt wäre es wieder Zeit zu verhandeln, und wir nutzen auch diese Gelegenheit nicht, sondern tun das Gegenteil: Wir schicken Waffen und eskalieren. Dies ist ein Aspekt, der den Mangel an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen offenlegt.

Putin hatte am 30. September, als er zwei weitere Regionen zu russischem Territorium erklärte, ausdrücklich wieder Verhandlungen angeboten. Er hat das zwischenzeitlich mehrfach getan, jedoch die Latte höher gelegt, indem er sagte, er sei zu Verhandlungen bereit, aber unter der Bedingung, dass die andere Seite die Gebiete anerkennt, die Russland annektiert hat.

Daran sieht man, dass sich die Positionen beider Seiten immer mehr verhärten, je länger der Krieg dauert. Denn Selensky sagte jetzt seinerseits, er verhandle erst, wenn sich die Russen vollständig aus der Ukraine zurückgezogen haben.

Damit wird eine Lösung immer schwieriger, aber sie ist noch nicht ausgeschlossen.

Angela Merkel hatte Russland bewusst getäuscht

Was Merkel sagte, ist eindeutig. Sie habe das Minsk II-Abkommen nur ausgehandelt, um der Ukraine Zeit zu verschaffen. Und die Ukraine habe diese auch genutzt, um militärisch aufzurüsten. Der ehemalige französische Präsident Hollande bestätigte dies.

Russland bezeichnet das verständlicherweise als Betrug. Merkel bestätigte, dass Russland bewusst getäuscht wurde. Das kann man bewerten, wie man will, aber es ist ein eklatanter Vertrauensbruch und eine Frage der politischen Berechenbarkeit.

Man kann auch nicht wegdiskutieren, dass die Weigerung der ukrainischen Regierung noch wenige Tage vor Kriegsbeginn, das Abkommen umzusetzen – in Kenntnis dieser beabsichtigten Täuschung – einer der Auslöser für den Krieg war.

Die Bundesregierung hatte sich in der Uno-Resolution dazu verpflichtet, das «gesamte Paket» der vereinbarten Massnahmen umzusetzen. Darüber hinaus hat die Bundeskanzlerin mit den anderen Teilnehmern des Normandie-Formats eine Erklärung zur Resolution unterschrieben, in der sie sich noch einmal ausdrücklich zur Implementierung der Minsk-Vereinbarungen verpflichtete.

Das ist ein eindeutiger Völkerrechtsbruch. Der Schaden ist immens. Man muss sich die heutige Situation einmal vorstellen. Die Leute, die von Anfang an Krieg führen wollten und immer noch wollen, sagten immer, mit Putin kann man nicht verhandeln. Er hält die Vereinbarungen so oder so nicht ein. Jetzt stellt sich heraus, wir gehören ebenfalls zu diejenigen, die internationale Vereinbarungen nicht einhalten.

Ich war immer der Ansicht, dass man diesen Krieg verhindern muss und dass man ihn auch hätte verhindern können. Dazu habe ich mich im Dezember 2021 öffentlich geäussert. Und Anfang Januar 2022 habe ich Vorschläge veröffentlicht, wie in Verhandlungen ein für alle Seiten akzeptables Ergebnis erzielt werden könnte, mit dem ein Krieg doch noch vermieden wird. Leider ist es anders gekommen. Vielleicht wird einmal die Frage gestellt, wer diesen Krieg wollte, wer ihn nicht verhindern wollte und wer ihn nicht verhindern konnte.

Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird ein Verhandlungsfriede

Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen Verhandlungsfrieden zu erzielen. Die russische Annexion von vier ukrainischen Gebieten am 30. September 2022 ist ein Beispiel für eine Entwicklung, die nur schwer rückgängig gemacht werden kann.

Deshalb fand ich es so bedauerlich, dass die Verhandlungen, die im März 2022 in Istanbul geführt wurden, nach grossen Fortschritten und einem durchaus positiven Ergebnis für die Ukraine abgebrochen wurden. Russland hatte sich in den Istanbul-Verhandlungen offensichtlich dazu bereit erklärt, seine Streitkräfte auf den Stand vom 23. Februar zurückzuziehen, also vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine. Jetzt wird immer wieder der vollständige Abzug als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert.
Die Ukraine hatte sich verpflichtet, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten und keine Stationierung ausländischer Truppen oder militärischer Einrichtungen zuzulassen. Dafür sollte sie Sicherheitsgarantien von Staaten ihrer Wahl erhalten. Die Zukunft der besetzten Gebiete sollte innerhalb von 15 Jahren diplomatisch, unter ausdrücklichem Verzicht auf militärische Gewalt gelöst werden.

Doch nach zuverlässigen Informationen hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit.
Die Verhandlungen in Istanbul waren bekannt, auch dass man kurz vor einer Einigung stand, aber von einem Tag auf den anderen hat man nichts mehr gehört.

Foreign Affairs und Responsible Statecraft, zwei renommierte Zeitschriften, veröffentlichten dazu sehr informative Berichte. Der Artikel in Foreign Affairs war von Fiona Hill, einer ehemals hochrangigen Mitarbeiterin im nationalen Sicherheitsrat des Weissen Hauses. Sehr detaillierte Informationen wurden bereits am 2. Mai auch in der regierungsnahen Ukrainska Pravda veröffentlicht.

Als Putin am 21. September die Teilmobilmachung verkündete, erwähnte er zum ersten Mal öffentlich, dass die Ukraine in den Istanbul-Verhandlungen im März 2022 auf russische Vorschläge positiv reagiert habe. «Aber», meinte er wörtlich, «eine friedliche Lösung passte dem Westen nicht, deshalb hat er Kiew befohlen, alle Vereinbarungen zunichte zu machen».

Meine Erfahrungen mit Verhandlungen mit Russland

Ich habe viele Verhandlungen mit Russland geführt, beispielsweise über den russischen Beitrag zum Kosovo-Einsatz der Nato. Die USA hatten uns darum gebeten, weil sie mit Russland zu keinem Ergebnis kamen. Russland war schliesslich bereit, seine Truppen einem deutschen Nato-Befehlshaber zu unterstellen.

In den 90er Jahren entstand eine enge politische Abstimmung und militärische Zusammenarbeit zwischen der Nato und Russland, seit 1997 durch den Nato-Russland-Grundlagenvertrag geregelt.

Die Russen sind harte Verhandlungspartner, aber wenn man zu einem gemeinsamen Ergebnis kommt, dann steht das und gilt auch.