BBC-Dokumentation belegt zahlreiche Fälle von Morden durch britische Militärs im NATO-geführten Krieg in Afghanistan. Bundeswehr war bei ähnlichen Fällen indirekt involviert.

Eine aktuelle Dokumentation belegt Dutzende neue Fälle von Morden an wehrlosen Gefangenen in Afghanistan durch britische Militärs. Wie die BBC berichtet, bestätigen Dokumente und Zeugenaussagen, dass eine Schwadron der britischen Spezialeinheit SAS innerhalb von sechs Monaten von Ende 2010 bis Frühjahr 2011 mindestens 54 unbewaffnete Afghanen erschoss. Die Morde wurden im Rahmen einer Art Tötungswettbewerb zwischen unterschiedlichen Schwadronen begangen; die Täter kamen gänzlich straflos davon. Die Gesamtzahl der Opfer, die mutmaßlich viel höher liegt, ist nicht bekannt. Gezielte Morde an wehrlosen Afghanen im NATO-geführten Afghanistan-Krieg haben auch Elitesoldaten aus Australien begangen. In ihrem Fall sind 39 Morde belegt – bei einer wohl erheblichen Dunkelziffer. Für Kriegsverbrechen berüchtigt sind US-Einheiten; Kriegsverbrechen wurden auch Militärs anderer Staaten vorgeworfen, darunter Polen. Deutsche Soldaten waren zumindest in die Erstellung sogenannter kill or capture-Listen involviert, die zahlreichen Mordoperationen zugrundelagen. Belangt werden kaum je die Täter, dafür aber Journalisten, die die Morde aufdecken.

„Kill or capture“

Britische Elitesoldaten haben in Afghanistan im großen Stil Gefangene und unbewaffnete Männer ermordet. Dies geht aus einem detaillierten Fernsehbericht der BBC hervor, der am Dienstag ausgestrahlt wurde. Er bezieht sich auf eine Schwadron der Spezialeinheit SAS (Special Air Service), die von Ende 2010 bis Frühjahr 2011 für sechs Monate in die Provinz Helmand entsandt worden war, um in den Dörfern dort insbesondere in Nachtaktionen tatsächliche oder angebliche Terroristen festzunehmen oder zu töten; dabei handelte es sich um die berüchtigten kill or capture-Operationen.[1] Während des sechs Monate dauernden Einsatzes kam es laut den offiziellen Berichten der Schwadron außergewöhnlich häufig vor, dass Gefangene in ihre Wohnungen zurückgeschickt wurden, wo sie angeblich versteckte Handgranaten oder Sturmgewehre aufgriffen und versuchten, die britischen Solaten zu attackieren. Bereits damals stuften nicht an den Operationen beteiligte britische Militärs die Vorfälle in internen E-Mails als „ziemlich unglaubwürdig“ ein, nicht zuletzt, weil von den angeblichen Angriffen afghanischer Gefangener kein einziger gelang bzw. kein einziger britischer Soldat verletzt wurde. Ausdrücklich wurde der Verdacht geäußert, bei den Vorfällen handle es sich um gezielte „Massaker“.

Mord als Wettbewerb

Eine offizielle Untersuchung der britischen Streitkräfte, die damals eingeleitet wurde, führte zu nichts. Die BBC hat nun in mehrjähriger Recherche zahllose Dokumente durchforstet und eine Reihe von Zeugen befragt. Sie berichtet von mindestens 54 Fällen, in denen Gefangene ermordet wurden. Zeugen bestätigen nicht nur, sie hätten gesehen, wie Unbewaffnete gezielt erschossen worden seien, sondern auch, wie SAS-Soldaten anschließend Sturmgewehre neben sie gelegt hätten, um vorzutäuschen, sie seien von ihnen angegriffen worden. Mehrere Zeugen bestätigten der BBC, zwischen einzelnen SAS-Schwadronen sei „ein Wettbewerb“ ausgetragen worden, wer die meisten Morde verübe.[2] Die Zahl der Afghanen, die von der Schwadron umgebracht wurden, die die BBC untersuchte, wird als insgesamt dreistellig beziffert. Wie der Sender berichtet, war der damalige Kommandeur der britischen Spezialkräfte, General Mark Carleton-Smith, über die Morde informiert, gab jedoch Belege nicht an die Royal Military Police (RMP) weiter, als diese eine Untersuchung der Fälle einleitete. Carleton-Smith wirkte von Juni 2018 bis Juni 2022 als Chief of General Staff und damit zugleich als ranghöchster Offizier der British Army.

„Blooding“

Zahlreiche Morde an afghanischen Gefangenen und Zivilisten haben auch Spezialkräfte aus Australien begangen. Nachgewiesen ist dies insbesondere für eine Schwadron des Special Air Service Regiment (SASR). Demnach wurden vorzugsweise gefangene Afghanen, aber auch wehrlose, unbewaffnete Zivilisten erschossen oder anderweitig umgebracht. In einem Fall schlitzten australische Soldaten zwei 14-Jährigen, die sie ohne näheren Beweis beschuldigten, die Taliban zu unterstützen, die Kehlen auf. In anderen Fällen wurden afghanische Gefangene mit erhobenen Händen als Zielscheiben benutzt oder zum Niederknien gezwungen und von über ihnen stehenden australischen Soldaten erschossen. Im November 2020 legte der mit der Untersuchung der Verbrechen beauftragte Generalmajor Paul Brereton einen Bericht vor, in dem er 23 Fälle mit 39 Todesopfern detailliert nachweisen konnte. Wie im Fall des britischen SAS verschleierten auch die Elitesoldaten des australischen SASR ihre Morde, indem sie beispielsweise nach der Tat neben den Opfern Waffen platzierten.[3] In vielen Fällen wurden die Morde als Teil eines blutigen Initiationsrituals begangen, bei dem neu am Hindukusch eingetroffene Soldaten ihre Mordbereitschaft beweisen mussten. Das Ritual wurde „blooding“ genannt.

Sanktionen gegen die Justiz

Für Morde in Afghanistan wurden immer wieder auch US-Militärs verantwortlich gemacht. Der Versuch des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), die mutmaßlichen Verbrechen zu untersuchen, wurde von Washington unterbunden; die US-Administration verhängte sogar Sanktionen gegen die Chefanklägerin des Gerichtshofs, Fatou Bensouda. Vorwürfe, in Morde am Hindukusch verwickelt gewesen zu sein, wurden auch Soldaten aus weiteren Staaten gemacht, darunter Polen. Im April 2015 wurden vier polnische Militärs von dem Vorwurf freigesprochen, in Afghanistan gleichfalls Morde begangen zu haben. Sie hatten im Jahr 2007 eine Hochzeitsgesellschaft beschossen und dabei sechs Zivilisten umgebracht.[4]

Indirekt involviert

Anlässlich der Publikation des Brereton Report in Australien forderte eine Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Untersuchungen dieser Art müssten in allen Staaten durchgeführt werden, die Soldaten nach Afghanistan entsandt hätten.[5] Aus Deutschland ist eine solche Untersuchung nicht bekannt. Dabei sind nach Auskunft des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzel deutsche Militärs zumindest über die Verbrechen im Bilde gewesen. Neitzel berichtet, „selbst hartgesottene Soldaten des KSK“ (Kommando Spezialkräfte) seien „erschüttert“ gewesen, „als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“.[6] Aktiv waren deutsche Militärs außerdem an der Erstellung von Listen für die berüchtigten kill or capture-Operationen beteiligt, bei denen zahllose Zivilisten ums Leben kamen und zahlreiche Gefangene ermordet wurden.[7] Über hundert Zivilisten kamen darüber hinaus bei einem Bombardement zweier im Schlamm festsitzender Tanklaster in Afghanistan zu Tode, das der deutsche Oberst Georg Klein am 4. September 2009 befohlen hatte.[8] Klein wurde von der Justiz entlastet sowie anschließend bis zum Generalmajor befördert. Inzwischen wirkt er als Abteilungsleiter Einsatz im Kommando Streitkräftebasis in Bonn.

Wer bestraft wird und wer nicht

Bleiben Morde und andere Kriegsverbrechen westlicher Militärs zumeist straflos, so geraten Journalisten, die sie aufdecken, regelmäßig unter Druck. In Australien wurde im Juni 2019 im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen Journalisten, der zu den Morden des SASR am Hindukusch recherchierte, das Hauptgebäude des öffentlich-rechtlichen Senders ABC durchsucht.[9] In Großbritannien steht aktuell die BBC wegen ihres Berichts über die SAS-Verbrechen in Afghanistan sehr unter Druck. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Journalist Julian Assange, der in den Vereinigten Staaten verfolgt wird, weil er US-Kriegsverbrechen im Irak aufgedeckt hat. Assange sitzt seit 2019 im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Auslieferungshaft. Sowohl das Bundeskanzleramt unter Olaf Scholz (SPD) als auch das Auswärtige Amt unter Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) schweigen dazu.

 

[1], [2] Hannah O’Grady, Joel Gunter: SAS unit repeatedly killed Afghan detainees, BBC finds. bbc.co.uk 12.07.2022.

[3] Christopher Knaus: Australian special forces involved in murder of 39 Afghan civilians, war crimes report alleges. theguardian.com 19.11.2020.

[4] Milena Serio: Polish Soldiers Acquitted of War Crimes for Nangar Khel Incident. jurist.org 20.04.2015.

[5] Christopher Knaus: Australian special forces involved in murder of 39 Afghan civilians, war crimes report alleges. theguardian.com 19.11.2020.

[6] Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Berlin 2020. S. 547. S. auch Die Ära der Straflosigkeit.

[7] S. dazu Gezieltes Töten im großen Stil.

[8] S. dazu Die Bomben von Kunduz.

[9] S. dazu Deutschland im Indo-Pazifik (IV).

Der Originalartikel kann hier besucht werden