Es war an einem kalten Samstagabend im November, als ich über meinen Lieblingsbauernmarkt spazierte. Heute schien mein Glückstag zu sein! Als ich den Stand meines Freundes Antonio besuchte, bei dem ich jede Woche Früchte und Gemüse einkaufe, gab er mir sogar einen Kürbis zusätzlich, weil er diesen ohnehin aufgrund der strengeren Covidregeln hätte wegwerfen müssen.

Als ich mich wieder auf den Weg machte, bemerkte ich Helene (Name geändert) kaum, eine kleine, ältere Frau, die sich dem Stand von der anderen Seite her genähert hatte. Obwohl ihr sehr wohl klar gewesen sein muss, dass das Gemüse nach wie vor zum Verkauf stand, begann sie heimlich Blumenkohl in ihre Tasche zu packen – oder, um es deutlicher zu formulieren, Gemüse von Antonio zu stehlen. Als Antonio der fehlende Blumenkohl auffiel und er sie anwies, diesen zurückzulegen, bemerkte ich die Situation und drehte mich um. Obwohl man sie gerade auf frischer Tat ertappt hatte, fluchte Helene lediglich kurz und griff erneut nach ein paar Karotten auf dem Tisch, weil sie sah, dass Antonio nicht vom Verkaufsstand wegkonnte, um sie daran zu hindern. Nachdem sie sich umdrehte und rasch davonschleichen wollte, lief sie mir direkt in die Arme.

Zuerst dachte ich, ich sei im falschen Film. Wie konnte eine derartig unschuldig wirkende ältere Dame, die kaum fähig war, ohne ihren Gehstock aufrecht zu spazieren, so unhöflich sein? Mein zweiter Gedanke war, warum sich keiner der Passanten auf der Straße auch nur daran zu stören schien. Nicht einer machte Anstalten, sie davon abzuhalten, obwohl doch alle laut und deutlich hören konnten, dass mein Freund Antonio definitiv nicht einschreiten konnte.

Bevor ich fertig durchdacht hatte, welche Konsequenzen es haben könnte einzuschreiten, griff ich in ihre Tasche und legt die gestohlenen Sachen zurück auf den Tisch. Anfangs schien es so, als hätte es ihr die Sprache verschlagen. Ihr Gesichtsausdruck war alles andere als erfreut, als ich ihr, wie ihr sicherlich bereits bewusst war, erklärte, dass das per Definition Diebstahl sei und dass sie lieber diesen Kürbis haben könne, den mir eben die Person, die sie zu bestehlen gedachte, geschenkt hatte. Bevor sie Widerrede einlegen konnte, drückte ich ihr diesen schnell in die Hand – etwas, das sie offensichtlich nicht erwartet hatte. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte und sah mich an, als wäre ich ein bisschen verrückt. Dann, immer noch verwirrt, brummte sie ein paar Worte, die verdächtig nach „Du bist eine verdammte Hexe!“ klangen und stahl sich, als sie die kleine Menschenmenge bemerkte, deren Mittelpunkt wir geworden waren, beschämt davon – jedoch nicht, ohne verbittert weiteres Gemüse auf den Boden zu werfen.

Während ich immer noch ein bisschen verärgert das übrige Gemüse zusammensammelte, hielt Antonio mich an und riet mir, mich nicht darüber aufzuregen. Er kenne Helene schon. Während wir gemeinsam die übrigen Kartoffeln zusammentrugen, erzählte er mir, dass sowohl ihr Ehemann als auch ihr Sohn vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Seitdem sei sie bitter und harsch geworden. Das mag keinen Diebstahl entschuldigen, wie ich fand, ließ mich aber jedoch fast so etwas wie Mitleid mit ihr empfinden. Rechtfertigt das aber die Untätigkeit der anderen Passanten? Nein.

Schaut nicht weg!

Wer kennt nicht eine ähnliche Geschichte, in der andere oder vielleicht sogar man selbst in die Rolle der Person schlüpft, die ähnlich wie die oben genannten Passanten aktiv „wegguckt“? Dabei kann der Kontext stark variieren. Generell bedeutet wegzusehen, nicht zu reagieren, wenn man eigentlich gebraucht wird – vielleicht sogar verpflichtet ist, einzuschreiten. Man sieht einerseits weg, wenn man im persönlichen Umfeld blind und taub für mögliche Probleme zu sein scheint. Man kann zum Beispiel die Nachbarin warum auch immer ignorieren, deren Prellungen am ganzen Körper vielleicht eine ganz andere Geschichte erzählen würden als die, welche die Familienidylle zu vermitteln scheint – wenn man der Sache nur nachgehen (wollen) würde. Niemand verlangt, dass man sich selbst zwischen ihren vermutlich gewalttätigen Ehemann und sie stellt, aber was kostet es, Fragen zu stellen und subtilere Wege zu finden, ihr zu helfen?

Ähnlich sieht man weg, wenn man einen betrunkenen Teenager, der einen unschuldigen Obdachlosen verprügelt, nicht davon abhält, es als nicht so schlimm abtut oder gar als harmlose jugendliche „Spinnerei“ schönredet. Niemand rät, direkt einzuschreiten, was aber kostet es, die Polizei zu rufen? Relativ wenig, wenn man bedenkt, welche Vorwürfe man sich wohl ein Leben lang machen würde, wenn eben dieser Obdachlose später an den inneren Verletzungen sterben würde. Muss denn immer erst der Ernstfall eintreten, bevor man sich verantwortlich fühlt?

Ein extremes Beispiel dafür, dass Nichteinschreiten fatale Konsequenzen haben kann, ist die brutale Ermordung von Catherine „Kitty“ Genoveses, welche inzwischen traurige Berühmheit erlangt hat. Die New Yorkerin wurde im Jahre 1964 ausgeraubt, vergewaltigt und anschließend auf brutalste Art und Weise vor ihrem Appartment in Queens, NYC niedergestochen, während einige Leute zusahen oder -hörten, aber nicht eingriffen.¹

Ein ganz anderer Kontext, in dem Wegsehen jedoch nicht weniger fatale Folgen hat und haben wird, betrifft politische Themen. Ist es nicht allerhöchste Zeit, sich beispielweise der sozialen Verantwortung für das Klima bewusst werden zu wollen? Man kann nicht weiter wegsehen und beispielweise Klimaziele des wirtschaftlichen Benefits wegen kompromittieren – die Zeit hierfür bleibt schlichtweg nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Verantwortung gegenüber wirtschaftlich benachteiligten Gruppen/Ländern. Wie drastisch sich der Businessplan so manchen multinationalen Konzerns wohl veränderte, wenn die Führungsriege eines Tages als einfache Arbeiter im „Dormitory Labour Regime“ ² aufwachen würde?

„Wegsehen“ kann unglaublich viele Formen annehmen.

Die eigentlich interessante Frage ist, warum man es dennoch tut. Warum schreitet man oft nicht ein oder steht für gewisse Dinge auf, obwohl man doch sehr wohl weiß, was gerade vor sich geht?

Die falschen Prioritäten?

Einerseits mag die Tatsache, dass viele die Welt vor allem durch eine subjektive Linse kreieren, schuld daran sein, dass wir taub und blind für, vielleicht gar desinteressiert an den Konsequenzen unseres Nichthandelns werden, wenn diese uns nicht direkt betreffen. Wie viele Passanten auf dem Bauernmarkt beispielsweise haben sehr wohl erkannt, dass es sich hier um Diebstahl handelte und aus genau diesem Grund nicht eingegriffen? Wie viele haben wohl nicht gehandelt, nachdem eigentlich sehr selbst-fokussierte Fragen wie „Geht mich das wirklich etwas an?“, „Habe ich wirklich Zeit für das?“ oder „Was bringt mir das?“ aufkamen? Wer weiß, ob ich eingegriffen hätte, hätte ich Antonio nicht gekannt.

Was aber zeigt diese Haltung über die zugrundeliegenden Prinzipien auf? Sollten unsere Handlungen nicht davon geleitet werden, was wir für richtig empfinden und sich nicht an selbst-fokussierten Prinzipien orientieren? Das bedeutet nicht, dass man nicht weise handeln soll – letztendlich ist niemandem geholfen, wenn man andere und sich selbst unnötigen Gefahren aussetzt. Es soll aber daran erinnern, dass wir uns alle ein bisschen mehr verantwortlich für das fühlen sollten, was um uns herum geschieht und dass wir nicht desinteressiert auf Autopilot oder selbstoptimierend auf Rosinenpickmodus fahren sollten – etwas, das jeder von uns sicherlich, wenn man ehrlich reflektiert, in irgendeiner Art und Weise zu einem gewissen Grad macht.

Angst?

Ein anderer Grund, warum man „wegschaut“, erscheint nachvollziehbar: Angst. Die Angst beispielsweise, seinen guten Ruf zu verlieren, wenn man sich für einen Klassenkameraden in der Schule einsetzt, der unter den Schikanen anderer leidet – eine Angst, die viele Schüler sicherlich allzu gut kennen. Aber rechtfertigt diese, sich nicht für jenen einzusetzen? Im Grunde erscheint diese Angst sogar ziemlich unvernünftig, wenn man sich einmal selbst in die Situation dieser Person versetzt. Oder die Angst vor politischer Verfolgung im Zuge von Nachforschungen und Veröffentlichung heikler Themen – eine Angst, die viele Journalisten und Menschenrechtsaktivisten tagtäglich aufs Neue erfahren. Wenn diese Art von Angst sich traurigerweise auch selbst im 21. Jahrhundert oft als begründet herausstellen mag, sollte sie nicht davon abhalten, dass die Wahrheit ans Licht kommt und beispielweise Menschenrechtsverletzungen berichtet werden. Oder die Angst davor, Schikane oder gar körperliche Gewalt zu erfahren, wenn man sich für Minderheiten wie die LGBT-Gemeinschaft, religiöse Gruppen oder Flüchtlinge einsetzt – eine Angst, die eigentlich vollends unnötig sein sollte, jedoch in vielen Fällen immer noch sehr real ist.

Step up! Ein Aufruf zu mehr Zivilcourage und sozialer Verantwortung

Schweigen erlaubt Gewalt (Picture: Anete Lusina via pexels.com).

Einige Ängste mögen vernünftig erscheinen – viele jedoch bei genauerer Betrachtung nicht.
Schlimmstenfalls kann das dazu führen, dass man durch Angst gelähmt stillschweigend gewisse Ideale unterstützt, die man auf der anderen Seite vielleicht gar ablehnt. Lasst uns ein sehr extremes Beispiel wählen und uns hinterfragen, inwieweit man Leute dafür verurteilen kann, Systeme wie das Naziregime nicht verhindert zu haben. Inwiefern kann man keine Fragen stellen, wenn Leute zu verschwinden beginnen, wenn Konzentrationslager gebaut und Widerstandskämpferinnen wie Sophie Scholl ermordet werden? Kann man sich die Hände einfach reinwaschen, wenn man nicht wissen will, um nicht handeln zu müssen? Oder nicht glauben und somit handeln zu wollen – aus Angst? Kann man in gleicher Weise die Verantwortung an die mysteriösen Anderen abgeben, indem man Fragen wie „Was geht das mich (oder mein Land) an?“ stellt? Sicherlich nicht. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass unsere Handlungen, aber auch all jene, die wir unterlassen, Konsequenzen nach sich ziehen – manchmal eben Konsequenzen, die man nicht erwartet hätte.

Step up! Ein Aufruf zu mehr Zivilcourage und sozialer Verantwortung

(Bilder: Nitish Meena via unsplash.com; Pavel Daniljuk and Markus Spiske via pexels.com)

Wo ertappt man sich vielleicht manchmal selbst, wenn man durch Nichthandeln stillschweigend zustimmt oder vielleicht sogar seine Prinzipien kompromittiert, ohne es zu merken? Was auch immer es ist, step up! Schließ Dich zum Beispiel der Klimakampagne an! Unterschreibe endlich die Petition für faire Löhne! Sei aufmerksam in Deinem persönlichen Umfeld – und handle, wenn notwendig. Die Zeit läuft – was auch immer es ist, handle!

1 Goldberg, N., (2020). Column: The urban legend of Kitty Genovese and the 38 witnesses who ignored her
blood-curdling screams, (online); Verfügbar über: https://www.latimes.com/opinion/story/2020-09-10/urban-legend-kitty-genovese-38-people (10. Nov 2021).
2 Ngai, P. and Smith, C., (2007). Putting transnational labour processes in its place: the dormitory labour
regime in post-socialist China. Work, employment and society, 21(1), pp.27-45.