Der Machtkampf zwischen der Türkei und der EU droht erneut zu eskalieren – diesmal im Rahmen des Zypernkonflikts.

Eine nächste Eskalationsrunde im Machtkampf zwischen der EU und der Türkei zeichnet sich im Rahmen des Zypernkonflikts ab. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat zu Wochenbeginn seine Forderung vom Herbst vergangenen Jahres bekräftigt, eine Zweistaatenlösung für die Mittelmeerinsel anzustreben. Damit untergräbt Ankara die bisherige, auch von den Vereinten Nationen vertretene Position, es müsse eine Vereinigung des EU-Mitglieds Republik Zypern mit der lediglich von der Türkei anerkannten Türkischen Republik Nordzypern angestrebt werden. Erdoğan und der nordzyprische „Präsident“ Ersin Tatar verleihen der Forderung mit der Ankündigung Nachdruck, einen Teil des bisherigen militärischen Sperrgebiets Varosha für die nordzyprische Bevölkerung zu öffnen. Deutschland und die EU weisen den türkischen Vorstoß kategorisch zurück. Gleichzeitig teilt Erdoğan mit, schon bald wieder Forschungsschiffe zur Erkundung etwaiger Erdgaslagerstätten in Gewässer zu entsenden, die Zypern für sich beansprucht. Damit steht erneut Streit bevor.

Der Zypernkonflikt

Der bis heute ungelöste Zypernkonflikt geht letztlich auf den Putsch vom 15. Juli 1974 zurück, mit dem sich zyprische Militärs – unterstützt und angeleitet von der griechischen Militärdiktatur – in Nikosia an die Macht zu bringen suchten. Ihr Ziel war es, den Anschluss Zyperns an Griechenland („enosis“) durchzusetzen. Der Putsch scheiterte. Die Türkei nahm ihn jedoch zum Anlass, am 20. Juli 1974 – sich auf ihre Rolle als Schutzmacht der türkischsprachigen Minderheit berufend – auf Zypern einzumarschieren und das nördliche Drittel der Insel zu besetzen. Eine von den Vereinten Nationen kontrollierte Pufferzone trennt beide Landesteile bis heute. Der Norden konstituierte sich 1983 als Türkische Republik Nordzypern, wird jedoch bis heute einzig von der Türkei als Staat anerkannt. Der Süden, die Republik Zypern, ist seit 2004 Mitglied der EU. Offizielles Ziel ist es eigentlich, die Vereinigung des Nordens und des Südens zu erreichen. Den letzten aussichtsreichen Vorstoß unternahm im Jahr 2004 UN-Generalsekretär Kofi Annan; er scheiterte jedoch: Während zwei Drittel der nordzyprischen Bevölkerung seinem Plan zustimmten, wiesen drei Viertel der Einwohner der Republik Zypern ihn zurück. Seitdem sind zwar zuweilen neue Gespräche aufgenommen worden; ein Erfolg war und ist aber nicht in Sicht.

„Zwei getrennte Staaten“

Im vergangenen Jahr hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan begonnen, in den Konflikt offen zu intervenieren. Im November 2020 besuchte er Nordzypern und forderte dort, auf das Ziel einer Vereinigung des Nordens mit dem Süden zu verzichten und stattdessen eine offizielle Zweistaatenlösung anzustreben: Es gebe „zwei Völker und zwei getrennte Staaten auf Zypern“.[1] Erdoğan wurde dabei vom seit Oktober 2020 amtierenden „Präsidenten“ der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern, Ersin Tatar, unterstützt. Erdoğan und Tatar halten seitdem an dem Ziel fest. Erdoğan hat dies bekräftigt, als er zu Wochenbeginn aus Anlass des 47. Jahrestages der türkischen Invasion Nordzypern besuchte. Verhandlungen zur Lösung des Zypern-Konflikts könnten künftig nur noch „zwischen zwei Staaten“ geführt werden, erklärte er; dazu müsse die „Souveränität“ Nordzyperns und seine „Gleichberechtigung“ mit der Republik Zypern anerkannt werden.[2] Um seine Forderung zu untermauern, wies Erdoğan darauf hin, dass die bisherigen Gespräche seit fast 50 Jahren erfolglos geblieben und zuletzt, 2004, an der Ablehnung des Annan-Vorschlags durch die griechischen Zyprer gescheitert seien. Man könne nicht noch weitere 50 Jahre verhandeln, äußerte der türkische Präsident.

Varosha

Um den Druck zu erhöhen, nutzen Erdoğan und der nordzyprische „Präsident“ Tatar einen bis vor kurzem weitgehend in Vergessenheit geratenen Stadtteil der Stadt Famagusta, Varosha. Famagusta (türkisch: Gazimağusa) gehört zu Nordzypern. Varosha war bis 1974 wegen seiner Badestrände prominent. 1974 flohen die rund 40.000 griechischsprachigen Zyprer, die in dem Stadtteil lebten, vor den türkischen Truppen. Seitdem ist das Viertel, das unmittelbar an die Pufferzone grenzt, unbewohnt und militärisches Sperrgebiet. Der Zustand ist in Resolutionen des UN-Sicherheitsrats bestätigt worden; ergänzend hieß es stets, den aus Varosha geflohenen griechischsprachigen Zyprern müsse ihr dortiges Eigentum zurückgegeben werden. Erdoğan und Tatar haben bereits im Herbst 2020 eine partielle Öffnung des Strandes durchgesetzt; Erdoğan hielt dort im November vergangenen Jahres eine Veranstaltung ab.[3] Bei seinem Besuch Anfang dieser Woche hat er Plänen seine Unterstützung zugesagt, einen kleinen Teil Varoshas zu öffnen; die Rede ist von nicht näher definierten „3,5 Prozent“.[4] Der Außenstehenden eher nichtig erscheinende Schritt hat praktische Konsequenzen und kann daher, anders als die nur verbale Forderung nach Zweistaatlichkeit, von der EU nicht übergangen werden.

„Inakzeptabel“

Berlin und die EU haben umgehend reagiert. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts forderte, „die Kontrolle über den Ort“ Varosha müsse der UN-Mission in Zypern (United Nations Peacekeeping Force in Cyprus, UNFICYP) übertragen werden; Erdoğans Vorgehen gefährde „die Fortschritte der letzten Monate in den EU-Türkei-Beziehungen“.[5] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, Brüssel werde eine Zweistaatenlösung „nie anerkennen“.[6] Der Außenbeauftragte der Union, Josep Borrell, nannte den türkisch-nordzyprischen Vorstoß eine „inakzeptable einseitige Entscheidung“. Auch Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian wies jeglichen Gedanken an eine Zweistaatenlösung zurück und sprach von einer „Provokation“. US-Außenminister Antony Blinken schloss sich an und stellte in Aussicht, die USA würden gemeinsam „mit gleichgesinnten Partnern“ die „besorgniserregende Situation an den UN-Sicherheitsrat“ verweisen und „auf eine entschlossene Reaktion drängen“.[7] Damit freilich stünde die von Erdoğan geforderte Zweistaatenlösung auf der Tagesordnung der internationalen Diplomatie.

Warnschüsse

Die aufgeladene Debatte entzündet sich zu einem Zeitpunkt, zu dem der Zypern-Konflikt ohnehin neue Wellen zu schlagen beginnt. Ende vergangener Woche kam es zu einem Zusammenstoß, als ein türkisches Patrouillenboot Warnschüsse auf ein Schiff der zyprischen Küstenwache abgab, das sich offenbar der Demarkationslinie zwischen der Republik Zypern und Nordzypern näherte. Die türkische Seite streitet die Warnschüsse ab.[8] Schon zu Monatsbeginn hatte Erdoğan mitgeteilt, wieder Forschungsschiffe zu Probebohrungen auch in Gewässer schicken zu wollen, die die Republik Zypern für sich beansprucht.[9] Entsprechende Schritte hatten im vergangenen Jahr zu teilweise schweren Konfrontationen geführt (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Freilich ist die türkische Regierung in der Lage, die Spannungen anzuheizen, weil die EU – vor allem auf deutschen Druck – an ihrem Flüchtlingspakt mit Ankara festhält und deshalb ihrerseits nicht ungehemmt eskalieren kann. Die seit Jahren unübersehbare Unfähigkeit Berlins und Brüssels, den türkischen Machtzuwächsen nicht nur im östlichen Mittelmeer, sondern etwa auch in Syrien, in Libyen oder im Südkaukasus etwas entgegenzusetzen, weist zudem auf die Schwächung Westeuropas im Rahmen des allgemeinen Abstiegs des Westens hin.

 

[1] Erdogan fordert dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung für Zypern. dw.com 15.11.2020.

[2], [3] Erdogan fordert erneut Zwei-Staaten-Lösung für Zypern. n-tv.de 20.07.2021.

[4] EU, US reject Erdogan’s plans for a two-state solution in Cyprus. euractiv.com 21.07.2021.

[5] Zypern-Konflikt wird Fall für den Sicherheitsrat. tagesschau.de 21.07.2021.

[6] EU, US reject Erdogan’s plans for a two-state solution in Cyprus. euractiv.com 21.07.2021.

[7] Zypern-Konflikt wird Fall für den Sicherheitsrat. tagesschau.de 21.07.2021.

[8] Zypern: Türkisches Patrouillenboot feuert Warnschüsse ab. orf.at 16.07.2021.

[9] Gerd Höhler: Wieder droht Gas-Ärger im Mittelmeer: Erdogan kündigt neue Bohrungen an. rnd.de 05.07.2021.

[10] S. dazu Eskalation im Mittelmeer und Eskalation im Mittelmeer (II).

Der Originalartikel kann hier besucht werden