Im Rahmen einer Reihe von Interviews für die Agentur Pressenza mit Abgeordneten der europäischen Parteien, die im Europäischen Parlament für die Abschaffung von Patenten für Impfstoffe, Pharmazeutika und Diagnostika im Zusammenhang mit der Pandemie stimmen, unterhalten wir uns mit Dimitris Papirodimoulis, Mitglied der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament (GUE/NGL) und Vizepräsident des Europäischen Parlaments.
Marianella Kloka: Wie einfach war es die Ergebnisse dieser Wahl zu erlangen?
Dimitris Papadimoulis: Es war überhaupt nicht einfach: Das war monatelange Arbeit. Wir fingen zu Beginn der Pandemie an, letzten Frühling. Die gesamte Euro-Linke hat sich selbst das Ziel gesteckt, den erwarteten Impfstoff zu einem öffentlichen Gut zu machen und den Patentschutz auszusetzen, so wie es bereits vor Jahren im Zusammenhang mit HIV/ AIDS geschah. Es brauchte viel Zeit, Argumente, Termine und Gespräche mit Bürger:innengruppen und Wissenschaftler:innen um einen breiten Konsens zu finden. Dies führte am vergangenen Mittwoch dazu, dass der Änderungsantrag der Euro-Linksfraktion zugelassen wurde und eine große Mehrheit für den Beschluss des Änderungsantrags stimmte. Der Änderungsantrag wurde verabschiedet, weil er von drei Fraktionen unterstützt wurde – der Linken, den Sozialisten und den Grünen, sowie von einzelnen Abgeordneten der Mitte-Rechts- und Rechts-Fraktionen. Wir haben also eine erste Schlacht gewonnen; noch nicht den Krieg.
Zwingt dieser Beschluss die Europäische Kommission zum Handeln?
Das Europäische Parlament besitzt keine gesetzgebende Macht. Wir erhöhen lediglich den politischen Druck. Nicht nur das Europäische Parlament sondern auch die tatsächliche Lage in der Bevölkerung bedeuten Druck für die Kommission. Die Impfraten sind gering im Vergleich mit dem Vereinigten Königreich und mit den USA. Vor diesem Hintergrund und aufgrund des Drucks seitens des Europäischen Parlaments, hat die Kommission also vor wenigen Tagen versprochen, einen neuen Plan vorzustellen, der die Impfstoffproduktion und damit die Impfung beschleunigen soll. Entscheidend ist es, den Druck der Bürger:innen selbst auf die führenden Eliten und auf die Kommission zu erhöhen. Alle in den EU-Ländern durchgeführten Umfragen zeigen, dass die Mehrheit die Aufhebung des Patentschutzes, temporär und speziell für diesen Fall unterstützt. Die Menschen verstehen, was die Experten und die WHO sagen: Wenn wir die Pandemie nicht eindämmen, wird sich die Wirtschaft nicht erholen.
Was kommt als nächstes?
Wir werden diese neue Impfstrategie im Juni im Plenum diskutieren und erneut abstimmen. Die Impfstoffproduktion muss unserer Meinung nach oberste Priorität haben, um die Rate der Impfungen zu erhöhen. Um dies zu erreichen, ist die vorübergehende Aufhebung des Patentschutzes ein zentrales Instrument, denn andernfalls werden die ärmsten Gebiete der Welt, die nicht ausreichend geimpft sind, zu Laboratorien für aggressive Mutationen des Coronavirus. Dies stellt ein enormes Risiko für das Wiederaufflammen der Pandemie dar, auch in den reichsten Ländern mit einer viel höheren Impfrate, wie den USA, Großbritannien und Europa. Nicht nur die öffentliche Gesundheit ist gefährdet, sondern auch die Wirtschaft und der soziale Zusammenhalt. Die einzigen, die von einem solchen Szenario profitieren, sind die großen Pharmakonzerne. Und hier gibt es noch etwas, das paradox, um nicht zu sagen ungerecht und unmoralisch ist. Natürlich wurden diese in Rekordzeit produzierten Impfstoffe – und diesen Erfolg müssen wir den Wissenschaftlern hoch anrechnen – mit reichlich öffentlichen Geldern finanziert. Es ist daher nicht hinnehmbar, dass Biotechnologie, die mit reichlich öffentlichen Mitteln gefördert wurde, durch exklusive, private Rechte geschützt werden soll. Sogar der achtzigjährige Joe Biden sagt das, und ich glaube nicht, dass irgendjemand ihn für radikal hält.
Einige einflussreiche Spitzenpolitiker:innen innerhalb der EU haben sich öffentlich gegen Bidens Vorschlag ausgesprochen. Sind die demokratischen Prozesse innerhalb des Europäischen Parlaments eine Reaktion auf diese Äußerungen?
Die europäische Führung muss leider als unzureichend befunden werden. Ihre Unzulänglichkeit ist tragisch. Frau Merkel beeilte sich, „NEIN“ zu Bidens Vorschlag zu sagen, und Frau Ursula von der Layen revidierte sofort ihre Aussage, dass die Kommission offen für Gespräche mit den USA sei. Leider sind es auch wirtschaftliche Interessen, die die Ansichten der europäischen Politiker:innen bestimmen. Die Lobbys der großen Pharmakonzerne sind sehr mächtig, sie zahlen viel Geld in Richtung Brüssel und bombardieren uns mit den Argumenten der Konzerne, die mit viel öffentlichem Geld riesige Gewinne machen. Die Argumente von Frau Merkel sind eins zu eins die Argumente der Pharma-Lobby. Der Grund ist einfach zu verstehen: BioNTech war ein kleines, mittelständisches Pharmaunternehmen. Nach der Entdeckung des m-RNA-Impfstoffs schoss sein Marktwert auf über 30 Mrd. Euro und ist damit höher als der der Deutschen Bank. Dass BioNTech ein deutsches Unternehmen ist, erklärt also das „NEIN“ von Frau Merkel. Der viel größere US-Konzern Pfizer hat Joe Biden jedoch nicht davon abgehalten, über Patente zu sprechen. Bidens Politik ist auch in Bezug auf die Höhe und das Ausmaß der fiskalen Maßnahmen zur Konjunkturbelebung und auch in Bezug auf Lohnerhöhungen besser. Das Europäische Parlament wird die Europäische Kommission und die Regierungen weiterhin dazu drängen, sich auf die Seite der Bevölkerung zu stellen. Dies betrifft nicht nur Europa und die Vereinigten Staaten. In der Welthandelsorganisation gibt es unter der Federführung Indiens und Südafrikas seit Monaten eine Initiative [WAIVER], zur vorübergehenden Aufhebung des Patentschutzes, die bereits vor Bidens Äußerungen die Unterstützung von mehr als 100 Ländern gefunden hat. Das bedeutet, die Impfstoffproduktion und damit auch die Impfquote könnte nach Verhandlungen, die sowohl wirtschaftliche als auch kommerzielle Aspekte berücksichtigen, in den nächsten Monaten mehr als verdoppelt werden. Derzeit werden nur 40 % der weltweiten Produktionskapazitäten für die Herstellung von Impfstoffen genutzt.
Wie funktioniert die Pharmalobby?
Ich gehöre nicht zu den Abgeordneten, die von solchen Lobbys kontaktiert werden. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nach offiziellen Zahlen 20.000 eingetragene Lobbyisten in Brüssel gibt, zusätzlich zu den inoffiziellen. Es gibt die so genannten guten Lobbys, die in der Regel arm sind, meistens Aktivisten, die für den Schutz von Umwelt und Menschenrechten kämpfen. Es gibt aber auch die „harten“, reichen und gut bezahlten Lobbys, der Medizin-Multis, der Rüstungskonzerne, der Autoindustrie, der Chemieindustrie, der Lebensmittelindustrie, der digitalen Giganten, die keine Steuern zahlen und sogar Prozesse gegen die Kommission gewinnen, wie es bei Amazon der Fall war. Da geht es um furchtbar lukrative Geschäfte und deshalb investieren diese Unternehmen viel Geld, um ihre Interessen zu wahren. Das bedeutet gut finanzierte Netzwerke in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Kommunikation, die politischen Einfluss durch die Medien generieren, indem sie freundschaftliche Beziehungen zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments pflegen. Durch mein Amt als Vizepräsident, das ich in den letzten sieben Jahren innehatte, habe ich gesehen, wie Abgeordnete, die normalerweise nicht besonders fleißig oder aktiv in den Ausschüssen sind, plötzlich aktiv werden, wenn über Anliegen mächtiger Lobbys diskutiert wird, mit exzellenten Reden und extrem ausgefeilten Änderungsanträgen, die „zufällig“ mit dem übereinstimmen, was diese Lobbys uns auftischen. Es ist ein wichtiges Thema, das recherchiert werden sollte und ich fordere Journalist:innen, die ihrem Beruf wirklich ernst nehmen, auf, sich mit diesem Thema gründlich auseinanderzusetzen.
Das Argument der Pharmalobby ist, dass es viel Zeit braucht, um den weltweiten Anteil des Produktionspotentials für die Impfstoffherstellung zu erhöhen.
Keiner kann uns versichern, dass diese Pandemie die letzte sein wird. Wir müssen alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen, um die aggressiven Mutationen des bestehenden Virus und jede nachfolgende Pandemie zu kontrollieren. Bei der Entdeckung der m-RNA geht es nicht nur um diese Charge von Impfstoffen, sondern auch um eine neue Generation von Impfstoffen und Behandlungen, die auf dieser Technologie basieren können. Es bedarf einer Auswertung wirtschaftlicher Daten, damit diejenigen, die die Technologie entdeckt haben, einen finanziellen Nutzen haben, aber auch eines starken politischen Willens und der Einsicht, diese Technologie zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Solange dies nicht geschieht, ist der wirtschaftliche und gesundheitliche Schaden für den Planeten viel höher als die Kosten einer vorübergehenden Aufhebung des Patentschutzes.
Das Interview wurde von Marianella Kloka geführt, die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Renée Krug vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!