Was ist nur bei den Grünen los? Sie waren einst die Partei, die 1992 erstmals einen Gesetzentwurf zur Einführung von direkter Demokratie auf Bundesebene in den Bundestag eingebracht hat. Und nun, mehr als 40 Jahre nach ihrer Gründung, haben die Delegierten auf einem Parteitag die Forderung nach der bundesweiten Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm gestrichen! Trauen sie den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr über den Weg?

In den Bundesländern gehören Volksbegehren und Volksentscheide seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich zum Demokratiesystem. Besonders BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben davon zuletzt profitiert mit auch vom OMNIBUS unterstützten direktdemokratischen Initiativen zum Erhalt der Artenvielfalt, zum Ausbau der ökologischen Landwirtschaft oder zur Beendigung der Massentierhaltung. Doch nun sind die Delegierten einem Antrag des Bundesvorstandes gefolgt, der die Streichung von bundesweiten Volksabstimmungen in ihrem Grundsatzprogramm beinhaltet. Dieser setzte sich knapp gegen einen Änderungsantrag des Grünen-Mitbegründers Lukas Beckmann durch, der die Beibehaltung von direkter Demokratie vorsah.

Von den 742 Delegierten stimmten

  • 51,48 Prozent für den Antrag des Vorstandes
  • 46,36 Prozent für den Antrag von Lukas Beckmann
  • 00,40 Prozent mit Nein
  • 01,75 Prozent mit Enthaltung

Im Grundsatzprogramm der Grünen steht ab jetzt folgende Passage: „Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die repräsentative Demokratie. Mit Bürger*innen-Räten soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen. Zufällig ausgewählte Bürger*innen beraten in einem festgelegten Zeitraum über eine konkrete Fragestellung und erarbeiten Handlungsempfehlungen und Impulse für die öffentliche Auseinandersetzung und die parlamentarische Entscheidung. Es gilt sicherzustellen, dass die Teilnehmenden sich frei, gleich und fair eine Meinung bilden können und dass ihnen ausreichend Raum für eine intensive Auseinandersetzung mit der Fragestellung gegeben wird. Bürger*innen-Räten kommt eine rein beratende Funktion für die öffentliche Debatte und Gesetzgebung zu. Regierung und Parlament müssen sich mit den Ergebnissen auseinandersetzen, ihnen aber nicht folgen. Bürger*innen-Räte können auf Initiative der Regierung, des Parlaments oder als Bürgerbegehren zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das soll auch auf Bundesebene möglich sein.“

Damit wurde das Verfahren der direkten Demokratie gegen das Verfahren des Bürgerrats ausgetauscht. Der Unterschied ist, dass Bürgerräte nur Ratschläge an die Politik geben können, während die bundesweite Volksabstimmung den Bürger*innen die verbindliche Umsetzung von Themen ermöglicht. Es ist falsch, das eine gegen das andere auszuspielen!

Die Debatte mit anschließender Abstimmung kann
hier angeschaut werden (ab Minute 44:07)…

Es ist sehr bitter, dass die Grünen diesen Schritt gegangen sind, obwohl

  • sich seit Jahren eine 2/3-Mehrheit der Wähler*innen in allen Umfragen für die Einführung der bundesweiten Volksabstimmung ausspricht,
  • der Bürgerrat Demokratie bundesweite Volksabstimmungen mit deutlicher Mehrheit im Jahr 2019 empfohlen hat,
  • BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Volksbegehren und Volksabstimmungen als wesentliches Grundrecht für alle Landesverfassungen in Ost-Deutschland erkämpft haben,
  • vieler erfolgreicher Volksbegehren (mit den Grünen) auf Landesebene.

Gemeinsam mit unseren Partnern Mehr Demokratie und Democracy International hatten wir mit 11 weiteren namhaften Organisationen im Vorfeld der Abstimmung einen „Offenen Brief“ an die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geschrieben. Darin appellierten wir an sie, ihre Delegierten aufzufordern, beim Parteitag an diesem Wochenende für einen der Änderungsanträge zu stimmen, mit dem die Forderung nach der bundesweiten Volksabstimmung wieder im Grundsatzprogramm verankert wird.

Hier unseren „Offenen Brief“ herunterladen (PDF)

Die Grünen erwarten die Mitarbeit der Zivilgesellschaft bei einer sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft – aber erlauben der Bevölkerung nicht die verbindliche Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens durch die bundesweite Volksabstimmung. Stellen wir uns einmal vor, dass wir diese schon hätten: Dann könnte die Klimaschutzbewegung eigene Vorschläge per Volksbegehren bis zu einer Abstimmung tragen.

Die heutige Entscheidung, die bundesweite Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm zu streichen, widerspricht dem eigenen Anspruch der Grünen von Basisdemokratie! Brigitte Krenkers, Gesellschafterin des OMNIBUS, kritisiert: „Ich bin davon überzeugt, dass den Grünen diese Entscheidung auf die Füße fallen wird. Ein Wandel geht nur mit den Menschen und nicht ohne sie.“

Übrigens: Eine an der Goethe-Universität Frankfurt am Main erstellte Studie, die das Thema Ungleichheit und Direkte Demokratie in Demokratien zwischen 1990 und 2015 untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass direktdemokratische Verfahren eher gleichheitsfördernd sind und es gut ermöglichen, mehr Menschen an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Eine Leseempfehlung auch für die Skeptiker*innen bei den Grünen!

Hier weitere Informationen zur Studie…

Natürlich machen wir uns nicht davon abhängig, was die Parteien fordern. Mit ABSTIMMUNG21 wollen wir zur Bundestagswahl 2021 die erste selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung organisieren. Dazu haben wir gemeinsam mit unseren Partnern Mehr Demokratie und Democracy International eine Kampagnenseite ins Leben gerufen, mit der wir für direkte Demokratie auf Bundesebene werben. Dort veröffentlichen wir regelmäßig neue Statements von Menschen, die erklären, warum sie gerne abstimmen wollen.

Hier unsere Kampagnenseite besuchen…

Der Originalartikel kann hier besucht werden