NATO-Bericht macht Vorschläge zur Dämpfung bündnisinterner Konflikte und zur Stärkung der Allianz gegen Russland und China.

Die NATO soll ihre innere Geschlossenheit stärken und sich mit neuen Schritten gegen Russland und China in Stellung bringen. Dies fordert ein Bericht („NATO 2030“), den das Militärbündnis anlässlich seines gestern zu Ende gegangenen Außenministertreffens offiziell vorgelegt hat. Demnach soll zukünftig ein Veto gegen unliebsame Bündnisbeschlüsse erschwert werden; zugleich müsse die Allianz die Kooperation mit Staaten an den Grenzen zu Russland und im regionalen Umfeld Chinas intensivieren. Der Bericht war im vergangenen Dezember in Auftrag gegeben worden, um offen eskalierende Differenzen innerhalb der Allianz zu kitten, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zuvor in einer pointierten Formulierung („Hirntod der NATO“) angeprangert hatte. Erstellt wurde er unter Leitung von Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière und dem US-Diplomaten Wess Mitchell. Der Bericht, der in die Erstellung eines neuen „Strategischen Konzepts“ münden soll, wird von Außenminister Heiko Maas lautstark gelobt, von Experten aber als „sicherheitspolitischer Bauchladen“ abgetan.

Der „Hirntod“ der NATO

Offizieller Auslöser für die Erstellung des Berichts, den die NATO-Außenminister auf ihrem Treffen in den vergangenen zwei Tagen diskutierten, war die Äußerung von Frankreichs Präsident Emmanuel Anfang November 2019, man erlebe gegenwärtig „den Hirntod der NATO“.[1] Anlass für Macrons Äußerung wiederum war, dass kurz zuvor die Türkei nach Syrien einmarschiert war und die Vereinigten Staaten mitgeteilt hatten, ihre Truppen von dort abzuziehen. Frankreich hatte, über beides nicht vorab in Kenntnis gesetzt, seine in Syrien operierenden Spezialkräfte überstürzt aus dem Land beordern müssen. Dabei konnte das Vorgehen weder der USA noch der Türkei als Ausrutscher gewertet werden: Washington setzte unter Präsident Donald Trump zusehends auf Alleingänge; Ankara nutzt unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein gewachsenes ökonomisch-politisches Gewicht, um die eigene Expansion ohne besondere Rücksichtnahme auf die Allianz voranzutreiben. Zwar werden die USA unter ihrem künftigen Präsidenten Joe Biden wohl wieder stärker auf Bündniskooperation setzen; doch kann mit Blick auf die tiefe Zerrissenheit des Landes nicht fest davon ausgegangen werden, dass dies auf Dauer, etwa nach der nächsten Wahl im Jahr 2024, auch so bleibt.

„Vereint für eine neue Ära“

Vor diesem Hintergrund hatte auf Initiative von Außenminister Heiko Maas der Londoner NATO-Gipfel Anfang Dezember 2019 beschlossen, einen „Reflexionsprozess“ zur Konsolidierung des Bündnisses zu starten. Zu diesem Zweck setzte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im April eine „Reflexionsgruppe“ ein, die unter Vorsitz von Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière und dem zuletzt im State Department für Europa zuständigen US-Diplomaten Wess Mitchell den jetzt vorgelegten Bericht „NATO 2030: Vereint für eine neue Ära“ erstellte. In die zehnköpfige „Reflexionsgruppe“ eingebunden waren sämtliche relevanten Strömungen in der NATO. Explizit beteiligt waren der türkische Diplomat Tacan İldem und Frankreichs Ex-Außenminister Hubert Védrine. Schwerpunktmäßig geht es darum, den politischen Zusammenhalt des zumindest partiell auseinanderdriftenden Militärbündnisses zu stärken, um mit größtmöglicher Geschlossenheit die Machtkämpfe gegen Russland und China führen zu können. Dazu bietet der aktuelle Bericht nicht nur Kernaussagen über vorgebliche „globale Bedrohungen“ der kommenden Jahre, sondern auch 138 konkrete Empfehlungen für die praktische Arbeit der Allianz.

Bedrohungsszenarien

„Bedrohungen“ diagnostiziert der Bericht der „Reflexionsgruppe“ rund um den Globus. Hatte die NATO in ihrem „Strategischen Konzept“ aus dem Jahr 2010 noch festgestellt: „Heute lebt der euro-atlantische Raum in Frieden“, so ist nun von einer „Rückkehr der Systemrivalität“ und von einem „Aufstieg globaler Bedrohungen“ die Rede.[2] Russland etwa sei zwar „nach wirtschaftlichen und politischen Maßstäben eine absteigende Macht“; es habe sich aber als „fähig zu territorialer Aggression“ erwiesen und bleibe „im kommenden Jahrzehnt wahrscheinlich eine Hauptbedrohung“ für die Allianz. China hingegen, heißt es in dem Bericht, stelle „eine ganz andere Art von Herausforderung für die NATO“ dar: Es sei „gegenwärtig keine direkte militärische Bedrohung für die euro-atlantische Region“, habe aber dennoch „eine globale strategische Agenda“ und werde in den Jahren bis 2030 wohl „die Fähigkeit“ des Bündnisses herausfordern, „kollektive Resilienz herauszubilden“. Die Formulierung ist unter anderem auf Chinas heftig attackierte Beteiligung am Aufbau von Infrastruktur wie den 5G-Netzen in Europa gemünzt. „Terrorismus“ bleibe „eine der unmittelbarsten asymmetrischen Bedrohungen für die Allianz“, heißt es weiter; darüber hinaus bestünden „andere Bedrohungen und Herausforderungen“ im Süden fort – in einem riesigen Gebiet von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten „bis nach Afghanistan“.

Gegen Russland, gegen China

Die konkreten Empfehlungen des Berichts für die praktischen Aktivitäten der NATO haben eine doppelte Dimension: Zum einen sollen sie die zunehmenden Differenzen innerhalb des Bündnisses wenigstens dämpfen; zum anderen zielen sie auf eine strategische Stärkung der Allianz vor allem gegen Russland und China. So heißt es, „im Norden“ solle die „Partnerschaft“ mit Schweden und Finnland fortgesetzt und intensiviert werden. Faktisch werden beide Länder schon längst als informelle Mitglieder behandelt und sind bei zahlreichen NATO-Treffen vertreten, so zum Beispiel gestern beim Außenministertreffen. „Im Osten“ müssten „die Partnerschaften mit der Ukraine und Georgien gestärkt“ werden, heißt es weiter; beide Länder fungieren seit Jahren als vorgeschobene Verbündete unmittelbar an den russischen Grenzen. Mit Blick auf Asien plädiert der Bericht schließlich dafür, „Konsultation und Kooperation mit indo-pazifischen Partnern zu vertiefen“ – mit Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. Die vier Länder zählen bereits zu den „globalen Partnern“ des Kriegsbündnisses; man könne die schon bestehende Zusammenarbeit im „NATO+4-Format“ ausbauen, heißt es. Als weitere Option nennt der Bericht eine Kooperation mit dem Quad („Quadrilateral Security Dialogue“), einem lockeren Bündnis der USA, Australiens, Japans und Indiens, das sich gegen China richtet – auch militärisch.[3]

Konfliktpotenziale

Mit Blick auf den inneren Bündniszusammenhalt heißt es in den Empfehlungen des Berichts, „die transatlantische Konsultation“ müsse „auf systematische, glaubwürdige und kraftvolle Art und Weise gestärkt werden“. Dazu sollten die Absprachen der Außenminister intensiviert und generell mehr Ministertreffen abgehalten werden. Zu erwägen sei darüber hinaus, die Stellung des NATO-Generalsekretärs weiter aufzuwerten. Zudem sollen Blockaden erschwert werden; so haben jüngst Ungarn die Bündniskooperation mit der Ukraine und die Türkei diejenige mit Österreich systematisch torpediert, weil sie auf nationaler Ebene mit den Ländern im Streit liegen. Lege ein Staat – wie in den erwähnten Fällen Ungarn und die Türkei – sein Veto ein, dann müsse dies „auf Ministerebene geschehen, nicht in Gremien“, fordert de Maizière: „Das erhöht den politischen Preis.“[4] Allerdings erhöht es zugleich die politischen Kosten, wenn Konflikte in Zukunft nicht mehr in Gremien, sondern von den Ministern und damit näher am Blick der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Zudem soll in Zukunft, teilt de Maizière mit, „eine Gruppe von Staaten unter dem Dach der Nato“ enger zusammenarbeiten können. Das eröffnet neue Optionen, schafft aber zugleich neues Konflikt- und Spaltungspotenzial.

„Der übliche sicherheitspolitische Bauchladen“

Erstaunliche Differenzen zeigen sich bei der Beurteilung des Berichts. Außenminister Heiko Maas lobt ausdrücklich, die „Empfehlungen“ des Papiers hätten „Substanz“ und seien „sehr ausgewogen“: „Wir danken der Gruppe für ihre ausgezeichnete Arbeit“.[5] Ganz anders stuft Patrick Keller, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), das Dokument ein. „Das Beste an diesem Impulspapier ist, dass es keine Überraschungen enthält“, urteilt Keller: Es mangele nicht nur „an echten Innovationen“; auch lasse „der traditionsbewusste Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung“ die „anderen Kernaufgaben des Krisenmanagements und der Partnerschaften arg blass aussehen“.[6] „Wirklich neue Ideen“ etwa zur „Partnerschaft“ mit nahestehenden Staaten im asiatischen Umfeld Chinas suche man „leider vergeblich“. „Gut die Hälfte des Papiers“ gerate darüber hinaus lediglich „zum üblichen sicherheitspolitischen Bauchladen“.

[1] Emmanuel Macron warns Europe: NATO is becoming brain-dead. economist.com 07.11.2019.

[2] Zitate hier und im Folgenden: NATO 2030: United for a New Era. 25 November 2020.

[3] S. dazu Deutschland im Indo-Pazifik (IV).

[4] „Russland fordert uns heraus“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.12.2020.

[5] Gemeinsame Erklärung der Außenminister Frankreichs und Deutschlands zum NATO-Reflexionsprozess. Berlin, 01.12.2020.

[6] Patrick Keller: Denkanstöße für die NATO 2030: Zum aktuellen Reflexionspapier. baks.bund.de.

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