Berlin will die EU auf ein militärpolitisches Grundlagenpapier festlegen. Kern: eine geheimdienstlich erstellte „Bedrohungsanalyse“.

Die Bundesregierung will zwecks militärischer Fokussierung der EU einen gemeinsamen „strategischen Kompass“ verabschieden. Das geplante Strategiedokument soll helfen, den bisherigen Militarisierungsprojekten der Union – etwa PESCO, den EU Battlegroups – eine einheitliche Stoßrichtung zu verleihen sowie die militärische Reaktionsfähigkeit der Union zu verbessern. Angestrebt wird auch die Orientierung der nationalen Aufrüstung in der EU am strategischen Gesamtbedarf der Union. Als das Herzstück des „strategischen Kompasses“ gilt eine neue gemeinsame EU-Bedrohungsanalyse, die Berlin noch unter seiner EU-Ratspräsidentschaft erstellen lassen will. Verfasst werden soll sie auf Grundlage von Einschätzungen der nationalen Geheimdienste durch deren EU-Äquivalent, das European Union Intelligence and Situation Centre (EU IntCen). Die Bedrohungsanalyse, die auch Grundlage für künftige EU-Militärinterventionen ist, unterliegt damit keinerlei demokratischer Kontrolle. Nicht zuletzt zielt sie auf eine Vereinheitlichung der Strategiebildung von EU-Staaten mit divergierenden nationalen Interessen.

„Eines der wichtigsten Projekte“

Der Plan, einen „strategischen Kompass“ für die EU zu erstellen, ist im vergangenen Jahr von der Bundesregierung präsentiert worden. Seitdem haben sich, wie der verteidigungspolitische Direktor im Bundesverteidigungsministerium, Detlef Wächter, erklärt, alle EU-Staaten nicht nur hinter die Initiative gestellt; sie betrachten sie sogar „als eines der wichtigsten Projekte der kommenden Zeit“.[1] Am 16. Juni erteilten die EU-Verteidigungsminister dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell den Auftrag, den „strategischen Kompass“ nun zu realisieren – ausgehend von der im Juni 2016 vorgestellten Global Strategy der EU. Am 13. Juli beriet Wächter mit seinen Amtskollegen aus den anderen EU-Staaten über das Vorhaben; am 14. Juli präsentierte es Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer als ein Kernstück der Berliner Ratspräsidentschaft den zuständigen Ausschüssen im Europaparlament. Am 26. August sollen sich die EU-Verteidigungsminister erneut mit dem Dokument befassen. Die Planung sieht vor, die Arbeiten unter den Ratspräsidentschaften Portugals und Sloweniens voranzutreiben und den „strategischen Kompass“ im ersten Halbjahr 2022 unter Frankreichs Ratspräsidentschaft zu verabschieden – als ein für sämtliche EU-Mitgliedstaaten verbindliches Dokument.

Ohne demokratische Kontrolle

Als Kernelement des „strategischen Kompasses“ ist – eine Premiere in der Geschichte der EU – die Erstellung einer gemeinsamen „Bedrohungsanalyse“ sämtlicher Mitgliedstaaten vorgesehen, die bis Jahresende, also noch unter deutscher Ratspräsidentschaft, fertiggestellt werden soll. Die Bedrohungsanalyse ist, wie Wächter konstatiert, als „Dokument der Nachrichtendienste“ konzipiert, nicht als „politisches Papier“; sie wird auf der Grundlage inhaltlicher Eingaben der Geheimdienste der Mitgliedstaaten von der zuständigen EU-Einrichtung, dem EU IntCen (European Union Intelligence and Situation Centre) [2], kompiliert. Eine finale Abstimmung der Mitgliedstaaten unterbleibt. Damit ist das Herzstück eines zentralen Grundlagenpapiers der künftigen EU-Außen- und Militärpolitik jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen; die Union baut also unter anderem die Entscheidung über künftige Militärinterventionen auf der Vorarbeit von Spionagebehörden auf. Diese haben sich in der Vergangenheit unter anderem durch freie Erfindung von Kriegsgründen und durch die Beteiligung an Verschleppung und Folter von Verdächtigen im Rahmen des „Anti-Terror-Kriegs“ hervorgetan.[3]

Ziel: „größere Handlungsfähigkeit“

Der „strategische Kompass“, der auf der Basis der gemeinsamen Bedrohungsanalyse gemeinsame militärpolitische Ziele darlegen soll, wird nach seiner Fertigstellung im ersten Halbjahr 2022 die einschlägigen Aktivitäten der EU fokussieren. Dies soll es, wie Kramp-Karrenbauer erklärt, ermöglichen, „eine größere Handlungsfähigkeit auf EU-Ebene zu erreichen“.[4] Demnach soll der „Kompass“ die bereits bestehenden Militärprojekte der EU – etwa PESCO (Permanent Structured Cooperation) und die EU Battlegroups – in eine gemeinsame Strategie integrieren. Zudem gelte es im Einzelnen festzulegen, „welche Instrumente und Fähigkeiten die EU benötigt“, konstatiert das Berliner Verteidigungsministerium.[5] Damit hat der „Kompass“ auch unmittelbare Auswirkungen auf die Rüstungsbeschaffung der Union.

NATO: „noch unersetzlich“

Kramp-Karrenbauer spricht sich klar dafür aus, bei aller Fokussierung der militärischen Planungen auf die EU auch systematisch die Kooperation mit Verbündeten außerhalb der Union zu suchen. So werde die Bundesregierung sich während der deutschen Ratspräsidentschaft dafür einsetzen, etwa das Vereinigte Königreich in PESCO-Projekte einzubinden, teilte sie vergangene Woche vor den Ausschüssen des Europaparlaments mit: Es gelte, auch die britischen Potenziale im Sinne der EU zu nutzen.[6] Ähnliches trifft aus Berliner Sicht auf Norwegen zu. Gänzlich unverzichtbar ist Kramp-Karrenbauer zufolge die fortgesetzte Kooperation mit den Vereinigten Staaten vor allem im Rahmen der NATO: „Wir müssen uns sehr klar vor Augen halten, dass wir in der Europäischen Union insgesamt ein gutes Stück davon entfernt sind, die Fähigkeiten der NATO und der transatlantischen Partner durch eigene EU-Kräfte ersetzen zu können“, konstatierte die Ministerin. So verfüge das transatlantische Kriegsbündnis zum Beispiel über bereits seit Jahrzehnten bewährte Kommandostrukturen, die in der EU „erst eingeübt“ werden müssten. „Deswegen: Die NATO ist und bleibt für die europäische Sicherheit ein Eckstein“, äußerte Kramp-Karrenbauer. Zugleich müsse man allerdings in Rechnung stellen, dass manche Konflikte die Interessen der EU erheblich stärker tangierten als diejenigen der NATO; in solchen Fällen müsse man deshalb eigenständig handlungsfähig sein. Dafür seien eigene militärische Kapazitäten der EU vonnöten.

Auf Linie bringen

In den vergangenen Tagen hat Kramp-Karrenbauer auf ihrer ersten Dienstreise nach dem Covid-19-Lockdown die Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) und Bulgarien bereist, um sich dort jeweils für den „strategischen Kompass“ stark zu machen.[7] Hintergrund sind zuweilen von deutschen Vorstellungen abweichende außen- sowie militärpolitische Interessen zumindest einiger dieser Länder. Polen etwa orientiert sich stark an den USA und bemüht sich um eine Aufstockung der US-Truppenpräsenz im Land, was die deutsche Kontrolle über den Kontinent klar erschwert. Die Bundesverteidigungsministerin teilte in Warschau mit, die geplante gemeinsame Bedrohungsanalyse der EU könne die deutsch-polnische Kooperation vertiefen; zusätzlich halte sie mehr konkrete deutsch-polnische Projekte für wünschenswert. Dies gelte nicht zuletzt auch für die Rüstungsindustrie; so sei denkbar, dass sich Polen am Bau des neuen deutsch-französischen Kampfpanzers beteilige.[8] Warschau tätigt zur Zeit umfangreiche Rüstungskäufe in den USA, was dazu führt, dass deutschen Waffenschmieden mögliche Exporte entgehen. Budapest wiederum ist bereits dazu übergegangen, umfangreiche Rüstungskäufe in Deutschland zu tätigen: Vergangenes Jahr war es mit Bestellungen im Wert von 1,8 Milliarden Euro der größte Kunde deutscher Rüstungsunternehmen überhaupt. Berlin bemängelt allerdings, dass Ungarn gelegentlich nicht ganz so energisch wie gewünscht die militärische Positionierung des Westens gegen Russland mitträgt – ein Faktor, den der „strategische Kompass“ der EU im Sinne Berlins korrigieren könnte.

[1] Interview: Strategischer Kompass soll EU den Weg weisen. bmvg.de 17.07.2020.

[2] S. dazu Eine europäische CIA (II).

[3] S. dazu Es begann mit einer Lüge, Bloßgestellt und 17 Jahre „Anti-Terror-Krieg“.

[4] AKK stellt EU-Parlament Prioritäten der Ratspräsidentschaft vor. bmvg.de 15.07.2020.

[5] Sonja Momberg: Strategischer Kompass: Entwicklung strategischer Grundlagen. bmvg.de 13.07.2020.

[6] AKK stellt EU-Parlament Prioritäten der Ratspräsidentschaft vor. bmvg.de 15.07.2020.

[7] Timo Kather: AKK wirbt in Mittel- und Osteuropa für eine Post-COVID-Ordnung. bmvg.de 20.07.2020.

[8] Monika Sieradzka: Kramp-Karrenbauer will einen „strategischen Kompass“ für Europa. dw.com 16.07.2020.

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