Ein US-amerikanischer Historiker zeigt auf, wie oft die NYT im Bereich US-Aussenpolitik Fehlinformationen aufgesessen ist.

Christian Müller für die Online-Zeitung INFOsperber

«‹Ohne Furcht oder Gefälligkeit.› Das ist eines der heiligen Mottos der ‹New York Times› (NYT), das erstmals vor mehr als einem Jahrhundert von ihrem modernen Gründer, Adolph Ochs, festgeschrieben wurde. Aber heute wäre ein passenderes Motto ‹Mit Furcht und Gefälligkeit›. In den letzten Jahren hat die NYT ihre eigenen hohen Standards journalistischer Objektivität aufgegeben und sich einer unerbittlichen überparteiischen Dämonisierung Russlands als tödliche Bedrohung für Amerika verschrieben. Die sensationelle Geschichte der NYT, wonach Russland Kopfgelder für die Tötung amerikanischer Soldaten in Afghanistan gezahlt haben soll, ist nur das jüngste Beispiel.»

Der diese Sätze in eben diesen Tagen geschrieben und prominent veröffentlicht hat, ist einer der wenigen US-amerikanischen Historiker und Publizisten, die sich vorurteilslos der Erforschung der jüngsten Geschichte der US-Aussenpolitk verschrieben haben und – nicht zuletzt auch dank russischen Sprachkenntnissen – auch die vermeintliche «Gegenseite» genauer beurteilen können: David S. Foglesong von der hochrangigen (staatlichen) Rutger University.

Blind den Lügen der Geheimdienste gefolgt

David S. Foglesong erinnert in seinem Artikel in der US-Wochenzeitung «The Nation» an etliche Fälle, wo die NYT blind den Lügen der Geheimdienste gefolgt war: «Falsche Geheimdienstinformationen über Massenvernichtungswaffen ebneten den Weg für den katastrophalen Krieg im Irak im Jahr 2003. Falsche Behauptungen über eine sowjetische Kampfbrigade in Kuba torpedierten 1979 die Ratifizierung des SALT-II-Vertrags. Falsche Berichte über nordvietnamesische Angriffe auf US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin veranlassten den Kongress, Präsident Lyndon Johnson einen Blankoscheck für die Führung des katastrophalen Krieges in Vietnam auszustellen. Die ‹New York Times› unterstützte in infamer Weise die unehrliche Propagierung des Irak-Krieges durch die George-W.-Bush-Regierung, unterstützte zunächst Forderungen nach der Auflösung der angeblichen sowjetischen Kampfbrigade in Kuba und unterstützte Johnsons Vergeltungsmassnahmen gegen die angeblichen nordvietnamesischen Angriffe.»

Und David S. Foglesong fährt weiter: «Ungeachtet all dieser Erfahrungen in der Vergangenheit sind Journalisten, Politiker und Aussenpolitik-Experten auch jetzt wieder einfach davon ausgegangen, dass die Behauptungen betreffend die russischen Kopfgelder(für abgeschossene US-Soldaten in Afghanistan, Red.) wahr sind, und sie haben das Weisse Haus zum Handeln aufgerufen. Sprecherin Nancy Pelosi kam zu dem Schluss, dass Russland aus Rache für die Demütigung der Sowjetunion in Afghanistan vor mehr als 30 Jahren ‹es nun an uns, an unseren Truppen, auslässt›. Senator Ben Sasse forderte einen Plan, russische Geheimdienstler ‹in Leichensäcke› zu stecken. Auf der Meinungsseite der NYT erklärte die ehemalige nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice, dass das Versagen von Präsident Donald Trump, auf ‹die russischen Anstrengungen, amerikanische Soldaten kaltblütig abzuschlachten›, eine Antwort zu finden, bestätige, dass der Präsident ‹die ruchlosen Interessen unseres Erzfeindes aktiv fördert›.

Ein solch rücksichtsloser Hurra-Patriotismus spiegelt die kumulative Wirkung einer schon lange andauernden Kampagne der amerikanischen Medien wider. Die Dämonisierung Russlands wird vom Wunsch getrieben, die Aufmerksamkeit vom Fehlverhalten der Vereinigten Staaten abzulenken, die moralische Überlegenheit der Amerikaner im Gegensatz zur russischen Verderbtheit zu zementieren und innenpolitische Gegner verleumden zu können, indem man sie irgendwie mit Russland in Verbindung bringt.»

David S. Foglesang argumentiert mit nachprüfbaren Fakten aus der jüngsten Geschichte: «Die Kampagne gegen Russland begann in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, als amerikanische Journalisten die Brutalität des russischen Krieges gegen Rebellen in Tschetschenien auf das Kriegsethos des russischen Militärs und auf die moralische Herzlosigkeit Wladimir Putins zurückführten (während in denselben Jahren die amerikanischen Gräueltaten im Irak lediglich auf ‹Fehler› und ‹schwarze Schafe› zurückgeführt wurden). Die Kampagne gegen Russland wurde intensiviert, nachdem Putin 2007 in seiner Rede in München die ‹fast unkontrolliert eingesetzte Gewalt› durch die Vereinigten Staaten anprangerte. Und die Kampagne eskalierte 2008, nachdem georgische Streitkräfte Südossetien angegriffen und dabei russische Friedenstruppen getötet hatten und Russlands Reaktion, ein Gegenangriff, von der amerikanischen Presse als nicht provozierte ‹Invasion› dargestellt wurde. Putin, so die NYT damals, sei ‹die dunkle Hand hinter der russischen Aggression›».

Trump eine Marionette Putins?

David S. Foglesong erwähnt in seiner Analyse mehrere Entscheidungen und Aktionen Trumps, die den Interessen Russlands klar entgegenliefen, darunter den Angriff auf Russlands Verbündete in Syrien im Jahr 2017, die Lieferung von Javelin-Panzerabwehrraketen an die Ukraine, den Versuch, die Regierung von Venezuela zu stürzen (eines mit Russland alliierten Landes), oder auch den Rückzug vom Vertrag über die Nuklearstreitkräfte mittlerer Reichweite und die Kündigung des Vertrages zum Verzicht des Irans auf Nuklearwaffen. «Während die Verhängung neuer Wirtschaftssanktionen gegen Russland durch die Trump-Administration auf den Druck des Kongresses zurückzuführen ist, sind alle anderen Aktionen das Ergebnis von Trumps kriegerischem, unilateralistischem Nationalismus ‹America first›. Trump ist ein äusserst egoistischer, impulsiver, unkontrollierbarer Angeber und Tyrann. Er ist niemandes Marionette», so Foglesong. Dennoch fahre die NYT fort, so Foglesong, Trump als ‹Putins puppet› darzustellen: als Putins Marionette.

Russlands Liberalen gehen die Augen auf

Indem die NYT solche Verleumdungen drucke, zerstöre sie auch die Bewunderung, die Russlands Liberale für die USA und die US-Medien einst gehabt haben, so Foglesong. «Wie Nadezhda Azhgikhina, eine erfahrene russische Journalistin und gleichzeitig Exekutivdirektorin des PEN Clubs Moskau, erklärt hat: ‹Das Russiagate hat den schönen Traum von der Perfektion des US-Regierungssystems, der Achtung des Gesetzes und der Exzellenz der US-Presse zunichte gemacht.›»

Die NYT ist nicht mehr «die» Referenz für unabhängigen Journalismus

Rutger-Professor David S. Foglesong geht in seinem Artikel in «The Nation» auch auf die verschiedenen Phasen der NYT unter ihren verschiedenen Herausgebern ein. Auch hier mit vielen Beispielen. Er zeigt dabei, wie genau er den Journalismus dieses Weltblattes beobachtet und auch Feinheiten zur Kenntnis nimmt und historisch registriert. Umso gewichtiger ist sein heutiges – doch ziemlich vernichtendes – Urteil über das Weltblatt «New York Times». Der Werbe-Claim der NYT «The truth is worth it» – «Die Wahrheit ist es wert» – auf alle Fälle ist mehr als nur zweifelhaft geworden.

Für die Leserinnen und Leser der NYT in Europa ist David S. Foglesongs Analyse auf der einen Seite ziemlich ernüchternd, zeigt sie doch eine deutlich andere Bewertung der NYT, als die Verleihung des Pulitzerpreises im Mai dieses Jahres an die NYT – und dies ausgerechnet für ihre Russlandberichterstattung! – vermuten lassen könnte. Auf der anderen Seite aber ist Foglesongs detailreiche Analyse aber auch ein Hoffnungsschimmer: Auch in den USA folgen nicht einfach alle Beobachter blindlings der nordatlantisch vorgegebenen, in der Summe einseitig russlandfeindlichen Berichterstattung der grossen Medien. Auch in den USA gibt es jene, die genauer hingucken. Ein Lichtblick!

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Der englische Originalartikel von David S. Foglesong, erschienen in der US-amerikanischen Wochenzeitung «The Nation», kann hier nachgelesen werden. «The Nation» ist die älteste Wochenzeitung der USA, publiziert aber jetzt online tägliche News, Analysen und Kommentare. Politisch gilt sie als «progressiv», was immer das in den USA auch heissen soll.

Das «American Committee for East-West-Accord» weist täglich auf die in den USA erschienenen Berichte und Kommentare zum Verhältnis zwischen Ost- und West hin. Auch die NYT-Analyse von David S. Foglesong ist vom «American Committee for East-West-Accord» zur Lektüre empfohlen worden. Das «Mission Statement» des «American Committee for Est-West-Accord» kann hier nachgelesen werden.