In der Einsamkeit lernen wir, unsere Welt, unsere Mitwesen und letztlich uns selbst zu verstehen.

Wann sind wir mal wirklich alleine? So wirklich, wirklich alleine? Ohne im Beisein anderer Menschen, aber auch ohne jedwedes digitale Endgerät? An einem Ort, dem wir auch nicht mit Selfies versuchen habhaft zu werden. Ein stiller Ort, an dem der Dialog mit uns selbst nicht unterbrochen werden kann und wir gezwungen sind, uns selbst zuzuhören. An einen solchen Ort zu gehen, bedarf manchmal einigen Mumms. Auf die Schatten des eigenen Selbst zu stoßen, stellt so manche Geisterbahn in den Schatten. In der Stille werden wir mit dem konfrontiert, was wir immerzu in unserem ständigen Medienkonsum zu verdrängen versuchen. Doch wenn wir diesen Schatten gestatten, sich für eine Weile zu uns zu gesellen, können wir ihrem Flüstern doch so manch Erstaunliches über uns selbst entnehmen. Wir werden dessen gewahr, was uns eigentlich zum Halse heraushängt, wir aber in Ermangelung an Auskotzmöglichkeiten immerzu herunterschlucken müssen. Wir erkennen langsam, dann immer deutlicher und dann mit einem Mal sehr genau, woran es uns mangelt, wonach wir dürsten und wo unser Verlangen unbefriedigt bleibt. Wir beginnen, in der Stille der Isolation unser Verhalten zu hinterfragen. Fernab aller Kritiker, die uns sonst angreifen und gegen die wir uns – trotz berechtigter Kritik – sofort im Abwehrreflex verteidigen, können wir in einem sicheren Schutzraum unsere Taten reflektieren. Was haben wir wie und aus welchen Gründen getan? War das gerechtfertigt? Welche äußeren Umstände haben uns dazu bewogen?

Woran erkennen wir, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat? Exakt! Wenn es von eben diesem Ereignis ein Selfie gibt. Und wenn es auch nur für 24 Stunden in einer Insta-, Facebook- oder WhatsApp-Story existiert. Wir – damit sind all jene gemeint, die mehr oder weniger an der schönen neuen durchdigitalisierten und smarten Welt teilnehmen können – sind heute alles andere als isoliert. Über unsere digitalen Endgeräte nehmen wir 24/7 am Leben der anderen teil. Nicht nur wir. Aber das ist ein anderes Thema.

Obgleich wir rund um die Uhr digital mit allen verknüpft sind, die Überwindung physischer Zwischenräume durch sinkende Flug-, Zug- und Buspreise immer leichter wird, lässt sich eine tiefe Verbundenheit selten finden. Das ist natürlich meine subjektive Wahrnehmung. Doch nichts anderes ist der nachfolgende Beitrag.

Wie erklärt sich also dieser Widerspruch aus Nicht-Isolation bei gleichzeitiger Unverbundenheit zwischen den Individuen? Durch die Digitalisierung? Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und der damit verbundenen Aufweichung sämtlicher uns Halt gebender Konstanten? Der Hedonismus, der Narzissmus der Gesellschaft? Vermutlich alles zusammen? All dies böte Stoff für unzählig weitere Beiträge, und all dies in eine Nussschale zu quetschen, wäre für das Kernanliegen dieser Gedanken zu mühselig.

Fakt ist: Wir sind kollektiv vereinsamt!

Dies wäre nicht so schlimm, wüssten wir, mit dieser Einsamkeit richtig umzugehen. Stattdessen geben wir uns dem von vorneherein zum Scheitern verurteilten Unterfangen hin, dieses Loch in uns mit bröseligem, sprödem Material zu stopfen. Viele Beziehungen in unserem Alltag sind von einer Ödnis der Oberflächlichkeit geprägt und bestehen aus Surrogaten von Verbindungselementen, die das Gerüst echter, stabiler, tiefgehender und intimer Beziehungen darstellen. Wir können über die banalsten Themen, über alles und nichts, über die langweiligsten, unspektakulärsten Wetterlagen dieser Welt ellenlange Gespräche in dem Latein der Jetztzeit – Small Talk – führen. Emojis in Textmessengern mimen Gesichtsausdrücke, die wir Kraft echter Emotionen kaum noch zeigen. Sex wird versandkostenfrei über Tinder wie eine Pizza bestellt. Das kalte Licht der digitalen Endgeräte beleuchtet unser Gesicht, wenn wir Kopf und Kragen über deren Bildschirm beugen.

Wir wollen uns einfach nicht eingestehen, dass wir vereinsamt sind. Trauen uns nicht, dieser Tatsache ins Auge zu blicken. Der mittlerweile verstorbene Hollywood-Schauspieler Robin Williams sagte dazu einst:

„Ich dachte immer, dass das Schlimmste im Leben darin besteht, allein zu enden. Das ist es nicht. Das Schlimmste im Leben ist, dann mit Menschen zusammen zu sein, die dir das Gefühl geben, allein zu sein.“ Ein so einfacher Satz, der doch so schwer wiegt. Wo findet sich denn – spitzt man im Alltag seine Ohren – in all dem inhaltsleeren Geschnatter und Geschwätz wirklich etwas Substanz? Wo tritt keine unerträglich laute Stille ein, wenn man beim Neuzeit-Latein Small Talk mit dem Latein am Ende ist und sich einfach nichts mehr zu sagen hat? An dieser Stelle kristallisiert sich heraus, ob eine tiefe Verbundenheit besteht, wenn anstelle des Schweigens keine Peinlichkeit, sondern Ruhe, Frieden und Entspannung eintritt.

Allein

Ist man allein, fängt tief im Inneren eine Musik an zu spielen, die einem Spotify niemals vorschlägt, die Spotify nicht einmal im Angebot hat. Doch wann kann diese Musik in unserer heutigen Zeit jemals ohne Störgeräusche ertönen? Sind wir doch der permanenten Ablenkung durch unzählige Entertainment-Möglichkeiten oder der Anwesenheit Dritter „ausgesetzt“. Nietzsche schrieb dazu in „Also sprach Zarathustra“ vom Freunde:

„Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt. Ach, es gibt zu viele Tiefen für alle Einsiedler. Darum sehnen sie sich so nach einem Freunde und nach seiner Höhe. Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber glauben möchten. Unsre Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräther.“

Das sind Erkenntnisse und Zeilen, die man erst einmal sacken lassen muss. Zugleich bin ich der Ansicht, dass man die – um es mal ganz böse auszudrücken – Suizid-Literatur des Friedrich Nietzsche mit äußerster Vorsicht „genießen“ und sich von ihr allenfalls inspirieren lassen sollte!

In den Zeilen Nietzsches vom Freunde steckt doch eine geballte Ladung Wahrheit. Es gilt im Hinblick auf seine Lebenszeit von 1844 bis 1900 als gesichert, dass Nietzsche nie bei Instagram war und auch über keine sogenannten Facebook-Freunde verfügte. Wäre dem so, so hätten diese Zeilen noch ein viel größeres Gewicht. Denn der Freund, den Nietzsche als den Korken in der Flasche umschreibt, der verhindert, dass das Selbst und das Ich in die dunkle Tiefe eines Meeres der eigenen Gedanken versinken, trifft heute auf die gesamte Zerstreuungsindustrie zu.

Wann sind wir denn mal wirklich alleine? So wirklich, wirklich alleine? Ohne im Beisein anderer Menschen, aber auch ohne jedwedes digitale Endgerät? Allein. So ganz alleine? Nur du und dein Selbst. Auf einsamen Felde? Auf dem luftigen Gipfel eines Berges? An einem trostlosen Flussufer? In den Tiefen eines weitläufigen Waldes, dessen Stämme, Blätter und Nadeln sämtliche Geräusche der Zivilisation absorbieren? An einem Ort, der frei von künstlich erzeugten Reizen ist. Einem Ort, dessen wir auch nicht mit Selfies versuchen, habhaft zu werden. Ein stiller Ort, an dem der Dialog mit uns selbst nicht unterbrochen werden kann und wir gezwungen sind, uns selbst zuzuhören. An einen solchen Ort zu gehen, bedarf manchmal einigen Mumms. Auf die Schatten des eigenen Selbst zu stoßen, stellt so manche Geisterbahn in den Schatten.

Nicht umsonst gilt in Gefängnissen die Einzelhaft als schwere Strafe. Auch haben grausame Tierversuche gezeigt, dass Affen physischen Schmerz der Isolation vorziehen, weil letztere noch viel mehr schmerzt.

Was hier auf den ersten Blick nach einem Aufruf zum Masochismus der Vereinsamung und Isolation klingt, ist vielmehr die dringende Empfehlung, für eine gewisse Zeit – wenn auch nur für wenige Stunden – ein Reiz- und Informationsfasten zu betreiben. Dr. Daniele Ganser nennt es auch „digital timeout“. Behalten wir aber für diese Betrachtung den Fasten-Begriff bei. Wie beim herkömmlichen Fasten geht auch diese Variante mit einer Form der Reinigung und Entgiftung einher.

In der zunächst unerträglich lauten Stille werden wir mit dem konfrontiert, was wir immerzu in unserem ständigen Medienkonsum zu verdrängen versuchen. Doch wenn wir diesen Schatten gestatten, sich für eine Weile zu uns zu gesellen, können wir ihrem Flüstern doch so manch Erstaunliches über uns selbst entnehmen.

Wir werden dessen gewahr, was uns eigentlich zum Halse heraushängt, wir aber in Ermangelung an Auskotzmöglichkeiten immerzu herunterschlucken müssen. Wir erkennen langsam, dann immer deutlicher und dann mit einem Mal sehr genau, woran es uns mangelt, wonach wir dürsten und wo unser Verlangen unbefriedigt bleibt. Und unser Verhalten? Wir beginnen in der Stille der Isolation, genau dieses zu hinterfragen. Fernab aller Kritiker, die uns sonst angreifen und gegen die wir uns – auch bei berechtigter Kritik – sofort im Abwehrreflex verteidigen, können wir in einem sicheren Schutzraum unsere Taten reflektieren. Was haben wir wie und aus welchen Gründen getan? War das gerechtfertigt? Welche äußeren Umstände haben uns dazu bewogen?

Diese zunächst „schwierige“ (dieses Wort kann diesen emotionalen Zustand nur in Ansätzen umschreiben) Konfrontation wird dann häufig allerdings belohnt.

„Nur wo Leere ist, kann neues entstehen“, rappen die Orsons in ihrem Track „Lagerhalle“. Und ja! Dieser Abstieg in die eigenen Tiefen ist das herbstliche Abschütteln alteingesessener Strukturen, auf die die Leere eines Winters und darauf wiederum das frühlingshafte Erblühen von Neuem folgt. Man kehrt bereichert aus der Einsamkeit zurück. Manchmal stellt sich diese Bereicherung auch erst später ein. Gras wird schließlich auch nicht länger, wenn man daran zieht. Jede Blumensaat braucht eben ein wenig bis zum Erblühen.

Mit wenigen gemeinsam, statt in der Masse einsam

Eine sich häufig einstellende Erkenntnis nach einer solchen Erfahrung der freiwilligen Isolation ist jene, dass man von nun an in all den Beziehungen auf Qualität statt auf Quantität setzt. Hier knüpfen wir wieder an das Zitat von Williams oben an. Das Alleinsein ist weitaus weniger schlimm als von Menschen umgeben zu sein, trotz deren Anwesenheit man sich alleine fühlt. Deswegen empfehle ich, sich folgende Faustregel mit einem Permanent-Marker hinter die Ohren zu schreiben:

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man Menschen trifft, um etwas zu unternehmen, oder aber, ob man etwas unternimmt, um diese Menschen zu treffen.

Ein Merksatz, der zunächst sehr banal klingt, birgt in seiner Tiefe doch einen wichtigen und gravierenden Unterschied in den Beziehungen, die wir führen. In der ersten Variante bilden wir Zweckgemeinschaften mit für uns wenig bedeutsamen Menschen, nur mit der Absicht, eine Sache zu unternehmen oder zu meistern, meist auch nur deswegen, damit man nicht alleine ist. Danach hat man mit den eingebundenen Menschen nicht mehr viel auszutauschen. In der zweiten Variante hingegen spielt die Art der Aktivität eine äußerst untergeordnete Rolle, weil es im Wesentlichen darum geht, mit eben dieser oder diesen Personen seine Zeit zu verbringen. Was man in dieser Zeit genau tut, ist weniger wichtig, weil allein die Gegenwart dieser nahestehenden Menschen eine solche Bereicherung darstellt, dass es keinerlei Ablenkung bedarf, die im umgekehrten Falle die Tatsache kaschieren muss, dass die Anwesenden sich eigentlich nichts Tiefergehendes zu sagen haben.

Damit wir uns aber nicht falsch verstehen! Das ist beileibe kein Aufruf, all jene Menschen aus dem eigenen Leben zu drängen, mit denen ein tieferes Beziehungsgefüge einfach nicht (mehr) möglich ist. Von Geburt an empathische, facettenreiche und wahrhaftig einzigartige Menschen werden in dem Betonklotz (auch „Schule“ genannt) zurechtgestutzt zu unreflektierten, entwurzelten und seelisch verkrüppelten LohnarbeiterInnen, wie es der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz skizziert. An die Stelle tiefergehender Beziehungen tritt beispielsweise die „Liebe“ und Hingabe zu einem Fußballverein oder Ähnlichem. Leider – und das ist die traurige Realität – kann das oben Beschriebene nur den Wenigen gelingen, die sich durch glückliche Fügungen und Umstände der toxischen Wirkung unseres Systems bis zu einem gewissen Grade entziehen konnten und von ihren Gefühlen noch nicht in nahezu unerreichbarer Distanz entfernt sind.

Ein sonntäglicher Spaziergang an der frischen Luft wird einem solchen Fasten meist nicht gerecht, weil dieser Spaziergang meist eher einem Hofgang der Lohnsklaven im Hamsterrad gleichkommt, bei dem die Gedanken dieser Sklaven meist schon wieder um den nahenden Montag kreisen.

Die echte Verbundenheit

Tatsächlich kann es die oben beschriebene Isolation in Gänze gar nicht geben. Zweifelsfrei klingt das erst einmal nach einem heftigen Widerspruch zu dem oben Beschriebenen. Doch ist dieser Gang in die Einsamkeit, von dem dieser Text handelt, mehr ein Rauschfilter als ein Kappen der Verbindung, die zu kappen gar nicht möglich ist.

Seien es spirituelle Denker, Schamanen oder Quantenphysiker – die Erkenntnis verfestigt sich, dass in der Welt, im Universum, alles miteinander verknüpft und nichts getrennt ist. Alles und jeder steht in Resonanz zu allem und jedem. Alles bedingt sich wechselseitig. Der alltägliche Strudel aus Oberflächlichkeit jedoch, der sich um den Materialismus dreht wie die Mücke um das Licht, verdeckt den Blick auf diese Tatsache. An der Stelle sei auf ein Zitat des Physikers Hans-Peter Dürr aus dem Jahr 2007 verwiesen:

„Im Grunde gibt es Materie gar nicht. (…) Es gibt nur ein Beziehungsgefüge, ständigen Wandel, Lebendigkeit.“

Die ganzen sozialen Netzwerke sind im Grunde genommen billige Imitationen des einzigen echten Netzwerkes, das „zwischen“ allem Leben besteht. Es gilt, sich selbst wieder für die Empfänglichkeit dieser Verbundenheit zu sensibilisieren, die verstaubten Antennen wieder auf Vordermann zu bringen und wieder zu lernen, auf das Leben zu horchen. Wenngleich wir natürlich auch mit allen Menschen verbunden sind, die das Wissen über diese Verbundenheit (noch) nicht erfassen, tun wir gut daran – und das ist keinesfalls abwertend gemeint –, deren Rauschen über Profanitäten wie Fußballspielanalysen, Politikdebatten oder nachbarschaftliche Lästerei immer wieder mal für einen kurzen Moment herunterzudrehen, um der Stille zu lauschen.

Wem das zu verschwurbelt und esoterisch klingt, sei hier eine greifbare Veranschaulichung präsentiert. Viele Astronauten berichten, dass sie bei ihrem ersten Flug ins All – wo könnte man isolierter sein als dort oben? – auf die Erde herabblickten, diese von so weit oben betrachteten wie noch nie zuvor, und daraufhin erst einmal laut loslachen mussten. Nicht aus Spott, sondern weil sie angesichts dieses wunderschönen Planeten erkannten, wie lächerlich und kleinlich doch die vielen der von uns selbst gemachten Probleme sind.

Ziehen wir zum Schluss noch einmal Nietzsches Metapher herbei, mit dem Freund als Korken, der verhindert, dass die Flasche (das Ich und das Selbst) im Dialog in die Tiefe versinkt. Ja, wir müssen diesen Korken immer wieder mal weglassen – er ist ja nicht verschwunden, kann er auch gar nicht – und uns selbst reinen Wein einschenken, die Flasche auf den Meeresgrund sinken lassen. Am Ende taucht sie dann ganz sicher wieder auf, sodass wir den gereiften Wein genießen können.

Dieser Beitrag von Nicolas Riedl erschien erstmalig bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse unter CC BY 4.0.


Nicolas Riedl, Jahrgang 1993, ist Student der Politik-, Theater- und Medienwissenschaften in Erlangen. Er lernte fast jede Schulform des deutschen Bildungssystems von innen kennen und während einer kaufmännischen Ausbildung ebenso die zwischenmenschliche Kälte der Arbeitswelt. Die Medien- und Ukrainekrise 2014 war eine Zäsur für seine Weltanschauung und -wahrnehmung. Seither beschäftigt er sich eingehend und selbstkritisch mit politischen, sozio-ökonomischen, ökologischen sowie psychologischen Themen und fand durch den Rubikon zu seiner Leidenschaft des Schreibens zurück. Soweit es seine technischen Fertigkeiten zulassen, produziert er Filme und Musikvideos. Er ist Mitglied der Rubikon-Jugendredaktion und schreibt für die Kolumne „Junge Federn“.