Die politischen und militärischen Eliten der Bundesrepublik sollen sich offensiver für nukleare Aufrüstung aussprechen und eine „Europäisierung“ des französischen Atomwaffenarsenals vorantreiben. Dies fordern Autoren der führenden Zeitschrift der deutschen Außenpolitik.

Hintergrund sind einerseits die zunehmenden Machtkämpfe mit den USA, die Politikern aus Deutschland und anderen EU-Staaten einen willkommenen Anlass bieten, die angebliche Notwendigkeit eines „europäischen Nuklearschirms“ zu postulieren. Zuletzt ist dazu mehrmals eine „deutsche Bombe“ gefordert worden. Einflussreiche Außenpolitikexperten nutzen dies nun, um das Plädoyer für die „europäische“ Nutzung des französischen Nuklearpotenzials als vermeintlich gemäßigte Forderung zu präsentieren. So heißt es etwa, Frankreich könne die EU-Beistandsklausel im Sinne einer Nukleargarantie interpretieren und zur Bekräftigung französische Kampfjets auf Stützpunkten östlicher EU-Länder stationieren. Zugleich rechnen Experten damit, dass der Atomwaffenverbotsvertrag Berlin unter Legitimationsdruck setzt.

Der Atomwaffenverbotsvertrag

Die „politische Klasse der Bundesrepublik“ muss „zu nuklearen Fragen wieder grundsätzlich sprechfähig werden“. Dies fordert Michael Rühle, ein langjähriger deutscher NATO-Mitarbeiter, in der aktuellen Ausgabe der von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegebenen Zeitschrift „Internationale Politik“.[1] Rühle, gegenwärtig Leiter des Referats Energiesicherheit in der NATO-Abteilung für neue Sicherheitsherausforderungen, bezieht dies zum einen darauf, dass der neue internationale Atomwaffenverbotsvertrag auch Deutschland zumindest legitimatorisch einem gewissen Druck aussetzt. Der Vertrag ist im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeitet worden und verbietet es, Atomwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu testen und zu besitzen, sie zu lagern, weiterzugeben oder einzusetzen. Auch die Drohung mit einem Einsatz wird untersagt. Am 20. September 2017 hat die UN-Generalversammlung den Vertrag zur Unterschrift vorgelegt. Bisher haben ihn 69 Staaten unterzeichnet, 19 haben ihn bereits ratifiziert. Er wird 90 Tage nach der Hinterlegung der fünfzigsten Ratifikationsurkunde in Kraft treten. Bislang gehören lediglich vier europäische Staaten zu den Unterzeichnern (Österreich, Irland, Liechtenstein, der Vatikan). Kein einziges NATO-Mitglied unterstützt das Abkommen.[2]

Die nukleare Allianz

Rühle weist den Gedanken, eine deutsche Bundesregierung könne den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen, kategorisch zurück. Berlin, konstatiert der NATO-Referatsleiter, trage nicht nur „die stärkere Betonung der Bedeutung der nuklearen Abschreckung in den einschlägigen Dokumenten der NATO mit“; es werde auch „an der Rolle Deutschlands in der so genannten nuklearen Teilhabe“ des Kriegsbündnisses „nicht rütteln“.[3] Die NATO wiederum müsse „nach Auffassung aller Verbündeten eine ’nukleare Allianz‘ bleiben, solange Kernwaffen existieren“. Allerdings sei wohl damit zu rechnen, dass der Atomwaffenverbotsvertrag „schon bald zu einer dauerhaften politisch-moralischen Realität“ werde. Für diesen Fall fordert Rühle: „Die politische und militärische Führung muss … in der Lage sein, die nukleare Abschreckung gegen ihre Kritiker zu verteidigen, die immer wieder aufs Neue versuchen werden, das Konzept zu desavouieren.“ Hinzu komme, dass die „Zweifel an der Verlässlichkeit der USA als Verbündeter Europas auf absehbare Zeit anhalten“ würden. Auch deshalb solle Berlin sich stärker zugunsten nuklearer Bewaffnung positionieren.

Atommacht Deutschland

Rühle spricht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen die Forderung aus, Deutschland müsse über eigene Kernwaffen verfügen. Diese Forderung ist in jüngster Zeit mehrmals öffentlich vorgetragen worden. So plädierte etwa der emeritierte Bonner Politikprofessor Christian Hacke im Juli in mehreren Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen dafür, folgende Frage „öffentlich und ohne Vorbehalte [zu] diskutieren“: „Wie halten wir es mit einer potenziellen Atommacht Deutschland?“[4] Hacke schrieb, eine künftige deutsche „Landesverteidigung auf der Grundlage eigener nuklearer Abschreckungskapazitäten“ müsse jetzt „angesichts neuer transatlantischer Ungewissheiten und potenzieller Konfrontationen Priorität bekommen“. Es sei zu eruieren, „unter welchen Bedingungen und zu welchen Kosten“ die „Zentralmacht Europas Atommacht“ werden könne. Rühle hingegen warnt eindringlich, eine „deutsche Bombe“ werde gravierende negative Folgen haben – „von den völkerrechtlichen Hürden und den Konsequenzen für die nukleare Nichtverbreitung bis zu den zu erwartenden schwerwiegenden innereuropäischen und transatlantischen Auseinandersetzungen“.[5] Ähnlich hat sich bereits im Sommer Wolfgang Ischinger geäußert, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Sollte Deutschland „jetzt aus dem Status einer Nichtnuklearmacht ausbrechen“, was könnte „dann zum Beispiel die Türkei oder Polen hindern, diesem Schritt zu folgen?“, fragte Ischinger: „Deutschland als Totengräber des internationalen Nichtverbreitungsregimes?“[6]

„Extended deterrence“

Als Alternative zur „deutschen Bombe“ wird in der neuen Berliner Nukleardebatte, die die derzeitigen Machtkämpfe mit den USA zum Anlass für die Forderung nach einem „europäischen Nuklearschirm“ nimmt, gewöhnlich ein Rückgriff auf Frankreichs Nuklearstreitkräfte genannt. So bringt etwa Ischinger die Option ins Spiel, Paris könne „künftig eine erweiterte nukleare Rolle im Sinne von ‚extended deterrence‘ in Europa“ übernehmen. Dabei könnten „Partner wie Deutschland Beiträge zu den dafür dann notwendigen französischen Aufwendungen leisten“.[7] Ischinger erwähnt nicht, dass mit Kofinanzierung gewöhnlich auch Mitsprache verbunden ist. Sein Plädoyer liegt jedoch auf einer Linie mit anderen Berliner Vorstößen zur Nuklearkooperation mit Paris (german-foreign-policy.com berichtete [8]).

Eine neue Nukleargarantie

Konkrete Optionen listet nun die Zeitschrift „Internationale Politik“ auf. Wie Bruno Tertrais, stellvertretender Direktor der Pariser Fondation pour la Recherche Stratégique, in der aktuellen Ausgabe des Blattes schreibt, werde Frankreich definitiv „keine gemeinsamen europäischen Nuklearstreitkräfte unter Führung der EU“ zulassen.[9] Auch sei es vollkommen „unrealistisch“, „dass die europäischen Partner die französischen Streitkräfte mitfinanzieren“ – und dafür „im Gegenzug ein Mitspracherecht in der französischen Sicherheitspolitik bekommen“. Denkbar sei allerdings, dass Paris die Beistandsklausel der EU im Sinne einer nuklearen Schutzgarantie interpretiere und, um das zu unterstreichen, zum Beispiel Kampfflugzeuge auf Stützpunkten der EU-Verbündeten rotierend stationiere. Sollten die Vereinigten Staaten wider Erwarten ihre Atomwaffen aus Europa abziehen, seien noch weiter reichende Schritte möglich, urteilt Tertrais. Zum Beispiel könnte Paris dann „einen Teil seines Arsenals (beispielsweise zehn Raketen) in Deutschland oder Polen stationieren“. Vorstellbar sei zudem eine Verpflichtung der Nicht-Atommächte, „sich mit konventionellen Mitteln an einem Atomschlag zu beteiligen“.

„Offen diskutieren“

Tertrais schließt: „Wir wissen nicht, wie es mit den transatlantischen Beziehungen weitergehen wird. Gerade deshalb ist es an der Zeit, eine offene und ehrliche Diskussion zwischen europäischen Politikern und Experten über die nukleare Frage zu führen.“[10]

Mehr zum Thema: Griff nach der Bombe.

[1] Michael Rühle: Debatte der Extreme. Internationale Politik, November/Dezember 2018. S. 102-107.
[2] Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. New York, 7 July 2017. treaties.un.org.
[3] Michael Rühle: Debatte der Extreme. Internationale Politik, November/Dezember 2018. S. 102-107.
[4] Christian Hacke: Falsches Hoffen auf die Zeit nach Trump. cicero.de 20.07.2018. Christian Hacke: Eine Nuklearmacht Deutschland stärkt die Sicherheit des Westens. welt.de 29.07.2018. S. dazu Die deutsche Bombe.
[5] Michael Rühle: Debatte der Extreme. Internationale Politik, November/Dezember 2018. S. 102-107.
[6], [7] Wolfgang Ischinger: Ein atomares Deutschland wäre verhängnisvoll. welt.de 30.07.2018.
[8] S. dazu Make Europe Great Again und Der Schock als Chance.
[9], [10] Bruno Tertrais: Europas nukleare Frage. Internationale Politik, November/Dezember 2018. S. 108-115.