Von Faten el-Dabbas hatten wir bereits die Rezension des Gedichtbandes „Keine Märchen aus 1001 Nacht“ veröffentlicht. Was mich vor allem an diesem Buch fasziniert, ist die Dialektik zwischen dem Märchen un Antimärchen als literarische Formen mit Anwendung auf den palästinensischen Konflikt. Poesie ist eine politische Botschaft. Jedes Gedicht sendet sozio-politische Botschaften aus und macht somit das Märchen zum Antimärchen. Und so geschieht es auch mit den Märchen von 1001 Nacht. Alf Leyla wa Leyla werden zum Antimärchen des Zionismus, der israelischen Apartheid, der Kinder in Gaza und der illegalen Siedlungen des Westjordanlandes. Anbei finden Sie mein Interview mit der Autorin, Faten el-Dabbas.

Milena Rampoldi: Was hat es an sich mit Märchen und Antimärchen, wenn es um die Nahostregion der heutigen Zeit geht?

Faten el-Dabbas: Die Märchen aus 1001 Nacht sind eins der letzten größten positiven und weltweitbekannten Produkte des Orients. Wir sind mit ihnen groß geworden. Uns wurden die Märchen vorgelesen. Wir haben die Zeichentrickfilme gesehen. Und heute sehen wir die Musicals. Die Märchen aus 1001 Nacht wandelten das Morgenland in einen Ort des Träumens, der bunten Farben, Gewänder, Schätze und Gesänge. Und vor allem der Gerechtigkeit. Der begabten Erzählerin Sherazade wird am Ende durch den Sultan Gnade gewährt, damit sie jeden Abend die Geschichten weitererzählen kann.

Dieses positive Bild sucht man heute vergebens, wenn man über den Orient oder die Arabische Welt spricht. Heute hören, sehen und erleben wir nur negative Verbindungen zu dieser Region. Obwohl es noch viele positive Beispiele gibt, wie z.B. die Länder als Urlaubsregion, die Gastfreundschaft, das Essen, so ist die Realität doch nicht auszublenden. Der Nahe Osten ist kein Märchen. Die Lebensumstände der Palästinenser gleichen keinen Märchen. Die Ungerechtigkeit vor Ort als auch die ungerechte Wahrnehmung sowie der Umgang mit dem Nahostkonflikt sind keine Märchen. Ebenso wenig die Siedlungen, die Mauer, Militäroffensiven…

Wie kann die Dialektik zwischen Märchen und Antimärchen die Menschen über Gerechtigkeit und Krieg nachdenken zu lassen?

Die Dialektik zwischen Märchen und Antimärchen ist ganz einfach einzuordnen, wenn man über Gerechtigkeit spricht: Märchen sind frei erfunden. Sie lebten von ihrer mündlichen Überlieferung bis man anfing, sie schriftlich festzuhalten. Die Lebensverhältnisse und Situationen, die ich beschreibe, sind dagegen persönliche, geschriebene Bilder der Wirklichkeit. Mal kürzere, mal längere Momentaufnahmen, die eigentlich jedem über verschiedene Plattformen (Nachrichten, Geschichtsbücher, soziale Medien, völkerrechtliche Dokumente) zugänglich sind. Nun ist die Realität nicht immer einfach in Schwarz und Weiß zu trennen. Doch der Wille, die Augen für das Ungerechte zu öffnen ist der erste Schritt, zu verstehen was in der Nahostregion passiert: aus welchen Gründen, mit welchen Mitteln und mit welchen Absichten. Der Kontrast von Märchen und Antimärchen soll zunächst einmal die Menschen darauf aufmerksam machen, sie zum Nachdenken anregen und sie  Fragen stellen lassen.

Welche Zukunft siehst du für Palästina, und welchen Kampf bis dahin?

Frieden kann nicht funktionieren ohne Gerechtigkeit. Es wäre nur ein wackliges Konstrukt auf dem Rücken der Unterdrückten und Besetzen. Frieden kann auch nicht funktionieren, wenn man nicht aus Fehlern der Vergangenheit lernt. Deutschland muss seine Vergangenheit bewältigen und aus seiner Trance erwachen. Die internationale Gemeinschaft muss anfangen, die Organe, die sie selbst erschaffen hat, ernst zu nehmen und damit auch deren Arbeitsergebnisse wie Urteile, Resolutionen und Berichte. Denn es wird bereits laut genug auf die Fehler gewisser Staaten hingewiesen, doch von Sanktionen und einer ehrlichen Sprache der Politik ist keine Spur. Nur durch die wirklich ehrliche Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, der beide Seiten gleichermaßen beleuchtet, kann Gerechtigkeit eingeleitet werden als Voraussetzung für einen Friedensprozess in Nahost.

Wie kann Poesie den Frieden fördern?

Mut ist, Waffen mit Worten zu begegnen. Dieser Ausspruch stammt von dem palästinensischen Dichter Mahmoud Darwisch. Mit seinen Texten weckte er den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung gegen das eigene Leid.

Als schon in jungen Jahren literarisch und politisch interessierte Deutsche mit palästinensischen Wurzeln, die bis zum Jahr 2012 noch nie in Palästina und Israel gewesen ist, haben mich Darwischs Texte in zweifacher Hinsicht beeinflusst. Erstens, hat er mir erst ein Bild von meiner Heimat in Worten gezeichnet, die ich vorher nicht kannte. Und zweitens, das ist das wichtige, er zeigte mir, dass Kunst, auch in Form von Literatur, Botschaften vermitteln kann, Meinungen bilden kann und aufmerksam machen kann. Kunst und Worte als Boten der menschlichen Gefühle, als Form des Widerstands. Nicht Gewalt.

Ich fing mit dem Schreiben viel früher an. Doch erst durch das Lesen der Werke von Mahmoud Darwisch, und später weiteren Autoren wie Erich Fried, erkannte ich in Worten einen tieferen Sinn. Mein Ziel ist eben der Versuch, wie Darwisch es formulierte, Waffen mit Worten zu begegnen. Im Gegensatz zu Waffen, können Worte Herzen nicht nur verletzen, sondern, und das ist das wichtigste, auch erreichen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden