Diese Aufzeichnungen sind ein Versuch, in synthetischer Form einige der gemeinsamen Punkte der neuen sozialen Bewegungen zusammenzustellen, die seit dem Jahr 2011 aufgetaucht sind.

Sie wurden aufgrund der Beiträge von Mitgliedern dieser Bewegungen neu ausgearbeitet.

Die Zusammenstellung hat die Form von Thesen, in denen die gemeinsamen Ideen und Werte gesammelt sind, die man in diesen Prozessen beobachten kann – über die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexte hinaus, in denen sie sich ausdrücken und in denen sie agieren.

Diese Arbeit stellt sich also als unvollständig dar, als Stückwerk und ohne den Anspruch, jemanden zu repräsentieren. Sie wird auf Interesse stoßen, wenn sie sich als nützlich für die Gesamtheit erweist und die Diskussion, den Austausch und das kollektive Denken verstärkt.

Erstellt von einer Arbeitsgruppe aus Mitgliedern von 15M, OWS, Occupy, Indignés und YoSoy 132, Occupy Russia.

These 1. Über das Erwachen des Bewußtseins. “Wir haben geschlafen… Lasst uns aufwachen!” Wir sind uns unserer Möglichkeiten bewusst geworden. “Das ist kein Traum, das ist ein Erwachen”. “Das ist eine Revolution des Bewusstseins”, die sich selbst neue Möglichkeiten entdeckt/enthüllt.

These 2. Über die Freiheit. Niemand von uns hat das Land, den Ort oder den Moment gewählt, in dem wir als Menschen erscheinen. Wir gehen also von der Un-Freiheit aus.

These 2.1) Der Weg zur Freiheit heißt Befreiung. Das ist, sich Schritt für Schritt zu befreien, das ist Bewegung, ein Prozess.

These 2.2) “Wir haben keine Angst”. Die Befreiung schreitet voran, wenn wir die Furcht und die Angst überwinden.

These 2.3) Wir gehen von der individuellen Un-Freiheit aus und schreiten zur “Co-Freiheit” voran, zur mit anderen geteilten Freiheit. Die wirkliche Befreiung erreicht man mit den Anderen und für die Anderen.

These 2.4) Der menschliche Prozess tendiert hin zu einer größeren sozialen Freiheit und zur persönlichen Befreiung.

These 3. Über die Geschichtlichkeit. Wir sammeln Geschichte an.

These 3.1) Wir profitieren vom Wissen und der Erkenntnis, die von den Frauen und Männern angehäuft wurden, die uns vorangegangen sind. Wir lernen immer weiter, indem wir uns in das gesellschaftliche Umfeld einbringen, in dem wir leben und uns entwickeln.

These 3.2) Wir benutzen alle möglichen Objekte, Werkzeuge und Konstruktionen, die erschaffen wurden und sich im Laufe der Zeit verbessert haben.

These 4. Über das Lernen.

These 4.1) Wir haben gelernt, welches die Faktoren sind, die dem menschlichen Fortschritt helfen:

  • Die Beteiligung der Bürger in allen gesellschaftlichen und politischen Räumen erweitern.
  • Die Lebensqualität der Bürger verbessern.
  • Die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die Wohnsituation und die Ernährung verbessern.
  • Die Wirtschaft in den Dienst der Menschen stellen und nicht umgekehrt die Menschen in den Dienst der Wirtschaft stellen.
  • Die Waffen- und Militärausgaben senken.
  • Den Dialog verstärken und die institutionelle Gewalt in ihren verschiedenen Formen maximal  verringern.
  • Über die soziale Integration wachen, ebenso wie über die einvernehmliche Lösung von Konflikten sowohl zwischen einzelnen Personen als auch zwischen Gruppen und Völkern.

Den eben genannten Punkten Priorität zu geben wird die gesellschaftliche Zukunft öffnen.

These 4.2) Wir haben gelernt, welches die Faktoren sind, die den menschlichen Fortschritt aufhalten.

  • Die Bürgerinnen und Bürger in ihrer gesellschaftlichen Beteiligung, ihren Rechten und ihren Freiheiten hinten an zu stellen, sowie ihnen Bestandteile ihrer Existenz zu verwehren.
  • Die Wirtschaft in einer einzigen Richtung zu begreifen, nämlich der Anhäufung von Ressourcen in den Händen Weniger zu Lasten der Mehrheit.
  • Die Bürgerinnen und Bürger in eine Situation schlechter Existenzbedingungen zu verbannen: Sklaven in einer Epoche, Proletarier in einer anderen oder Verbraucher in der jetzigen.
  • Den Wert der Wirtschaft über den des Menschen zu stellen und so Ausgrenzung, Krankheit und sogar den Tod vieler Menschen zu bewirken.
  • Armeen mit immer größerer Vernichtungskraft aufzustellen, sowie Massenvernichtungswaffen zu erforschen und herzustellen.
  • Ein politische Praxis aufrecht zu erhalten, in der einige Länder andere Länder unterwerfen und unterdrücken bzw. sich in ihre Angelegenheiten einmischen.
  • Die verschiedenen Formen von Gewalt ausüben – körperliche, wirtschaftliche, rassistische, generationelle, religiöse, sexistische, moralische oder psychologische.

These 5. Über die Gleichheit. Wir sind gleich gegenüber dem Recht und Gesetz, den Möglichkeiten und der Behandlung – und dies nicht nur als Theorie oder Bestrebung, sondern als Praxis.

These 6. Über die Horizontalität. Wir setzen uns miteinander und auf einer Ebene in Verbindung. Wir fördern diese Horizontalität, setzen sie in die Praxis um und entwickeln sie in allen Bereichen.

These 6.1) Horizontalität in Beziehungen von Partnerschaft, Zusammenarbeit und Austausch. Keine Repräsentanten, keine Chefs und keine Führungsspitzen mehr. Niemand mehr an die Herrschaft.

These 6.2) Wir setzen Funktion im Rahmen der Kollektivität je nach den Notwendigkeiten ein. Sie sollen rotierend und gegenüber der Gesamtheit verantwortlich sein.

These 6.3) Wir sind gegen das Wettbewerbsdenken, gegen diesen ausufernden Individualismus und exzessiven Geltungsdrang, den dieses System vorschlägt. Wir drücken die Sensibilität des Nicht-Geltungsdrangs, des Anonymen, des Gesamtheitlichen aus.

These 7. Über die Vielfalt. Wir sind verschieden, mit unterschiedlichen Blicken, Ideologien, Glaubensvorstellungen usw. Wir bereichern die Gesamtheit mit dieser Vielfalt von Beiträgen.

These 7.1) Wir werden diese Vielfalt ausweiten, da wir wachsen, uns verändern und uns beständig weiterentwickeln.

These 8. Über das Miteinschließen. Gegenüber dem Verschiedenen genügt es uns nicht, es nur zu “tolerieren”. Wir versuchen, darüber hinaus zu gehen, um es einzuschließen, uns ihm anzunähern und uns mit ihm zu verbinden.

These 8.1) Wir praktizieren das “aktive Zuhören” mit der Absicht, den Unterschiedlichen zu verstehen und neue Wege des Verstehens und der Kommunikation zu öffnen.

These 8.2) Wir möchten auch die Gewalttätigen einschließen, da wir verstehen, dass sie die Gewalt aufgeben werden, wenn sie ihren Verhaltensfehler verstehen.

These 9. Über die Gemeinschaftlichkeit. “Gemeinsam können wir” die Konflikte lösen. Denn auch wenn sie uns als individuell dargestellt werden, sind es soziale Konflikte. Indem wir den Konflikt in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen sichtbar machen, schaffen wir Bedingungen, um die Probleme zu lösen, die wir auf isolierte Weise nie lösen könnten. Lasst uns darin voranschreiten, den Konflikt vor die versammelten Bürger zu bringen.

These 10. Über die kollektive Intelligenz. Wir bringen die Intelligenz dazu, vernetzt zu arbeiten. Die Summe der individuellen Intelligenzen führt nicht zu demselben Resultat wie die Arbeit in Beziehung und Vernetzung, bei der die kollektive Intelligenz gesucht wird. Diese vervielfältigt die Antworten und findet bessere Lösungen. Die kollektive Intelligenz erzeugt einen Niveausprung in der gemeinsamen Arbeit.

These 11. Über das Frieden schaffen. Der menschliche Prozess schreitet schneller voran, wenn man keine Energie in gewalttätigen Konfrontationen verliert. Wir praktizieren Beziehungen der Zusammenarbeit, die den sozialen Fortschritt vergrößern.

These 12. Über die Gewaltfreiheit. “Wir brauchen die Gewalt nicht, wir haben die Vernunft.”

These 12.1) Verteidigen wir die Gewaltfreiheit als die mutigste existentielle Haltung.

These 12.2) Für gewöhnlich leben wir mit der Gewalt, wir sind nahe bei ihr. Unsere Arbeit besteht darin, sie zu deaktivieren.

These 13. Über die freiwillige Handlung. Wir handeln ohne wirtschaftliches Kalkül. Wir konstruieren durch und für die Gesamtheit. “Wir werfen Wassertropfen in den großen Fluss der menschlichen Spezies”.

These 14. Über die Kohärenz. Wir handeln in Übereinstimmung mit unseren Prinzipien. Wir möchten, dass das Denken, das Fühlen und die Handlung zusammenfließen. “Wenn wir etwas sagen, verpflichten wir uns damit und handeln dementsprechend”.

These 15. Über die Gesamtheit. Ich entdecke mich über das Wir.

These 15.1) Von der Gesamtheit aus können wir unsere Befreiung aufbauen.

These 15.2) Eben in der Gesamtheit drückt sich das Beste jedes Einzelnen aus.

These 15.3) Eben in der Gesamtheit entdecken wir uns als Menschen und entdecken das Menschliche in den Anderen.

These 16. Über den Respekt. Wir wollen, dass die Menschen sich frei ausdrücken können und dabei nicht beurteilt werden, solange sie keine Gewalt gegenüber anderen ausüben.

These 16.1) Wir respektieren die Anderen und respektieren auch uns selbst. Das vergrößert unsere Würde.

These 16.2) Wir respektieren den Anderen, auch wenn er eine Ideologie, eine Glaubensvorstellung oder ein Verhalten hat, die von meinen verschieden sind.

These 16.3) Wir respektieren uns selbst, wenn wir in unserem Leben kohärent sind.

These 17. Über die Spiritualität.

These 17.1) Wir wohnen dem Auftauchen einer Form atheistischer Religiosität bei.

These 17.2) Es gibt eine Suche nach Spiritualität ohne Götter und ohne Kirchen.

These 17.3) Wir sind nicht besser oder schlechter, ob wir nun Atheisten oder Gläubige sind.

These 17.4) Die Religionen waren zwiespältig in ihrer Hilfe für den menschlichen Prozess. In einigen Momenten haben sie ihm geholfen, in anderen haben sie ihn gebremst und großes Leiden erzeugt.

These 18. Über die Inspiration. Wir haben die Erfahrung von “Verbindung” zwischen uns gehabt, von Einklang, von “im selben sein”. Wir waren fähig, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Straßen überschwemmte und alles mit Freiheit und Möglichkeiten gefärbt hat, mit Menschen, die im Kampf verbunden sind. Wenn so etwas geschieht, sieht man alles für möglich an, es gibt keine Grenzen. Diese Energie ist unsere Inspiration… “Unsere Träume passen nicht in eure Urnen.”

These 19. Über die weltweite Verflechtung. Wir kennen die Wichtigkeit der lokalen Aktionen, aber wir wissen auch, dass diese nicht die globalen Probleme lösen. Die Welt befindet sich in einem Prozess der weltweiten Verflechtung und einige Lösungen müssen heutzutage dieses Ausmaß haben. Einige davon sind:

These 19.1) Dem Hunger auf dem Planeten ein Ende zu machen, ist die Priorität.

These 19.2) Die Rüstungsausgaben in die soziale Entwicklung umleiten, um den menschlichen Fortschritt zu beschleunigen.

These 19.4) Die Demokratie vertiefen, indem man sie partizipativer gestaltet, und mit der Gerechtigkeit, Transparenz und Gleichheit ohne soziale Ausschließungen vorankommen.

These 19.5) Der Gesundheitsversorgung, der Bildung und dem Wohnraum für alle Priorität geben.

These 19.6) Diese Vorschläge sind keine unerreichbaren Utopien, sondern reale und mögliche Bestrebungen. Die technischen Bedingungen und ausreichende Ressourcen sind vorhanden. 99% der Weltbevölkerung teilen diese Bestrebung. Der Einklang zwischen den Völkern ist am Entstehen, der all dies möglich machen wird. Die neuen sozialen Bewegungen sind ein Symptom dafür. Wir schreiten schon voran in der Vernetzung hin zu einer globalen Verbundenheit.

These 20) Über die rEvolution. Im 21. Jahrhundert können wir die soziale Aktion und die Art von Gesellschaft, die wir wollen, neu formulieren und das gebührt uns auch.

These 20.1) Diese rEvolution ist gewaltfrei. “Nächste Station: rEvolution”

These 20.2) Die Formen des sozialen Kampfes, die auf Gewalt basieren, stärken das patriarchale und gewalttätige System.

These 20.3) Eine Form des Kampfes ist die Nicht-Zusammenarbeit mit illegitimen Gesetzen. Der zivile Ungehorsam.

These 20.4) Die beste Form des Kampfes ist es, zu dem, was nicht funktioniert, Alternativen aufzubauen, die als Demonstrationseffekt für das Neue dienen können.

These 21. Über das Erwachen einer planetarischen Generation.

These 21.1) Wir wohnen dem Erwachen einer Generation auf planetarischer Ebene bei, die sich in den neuen sozialen Bewegungen ausdrückt.

These 21.2) Es ist eine Generation, die Unterstützung und Ermutigung durch die Vorgängergenerationen erfährt. Sie befindet sich nicht in Konfrontation mit ihnen.

These 21.3) Indem die Handhabung der Technologien zur zeitgleichen Kommunikation auf globaler Ebene die ganze Gesellschaft durchdringt und durch das Anwachsen der sozialen Netzwerke werden die Bedingungen einer vernetzten Arbeit für eine neue Etappe des menschlichen Prozesses geschaffen. “Wir gehen langsam, weil wir weit gehen wollen.”

These 22. Das neue Paradigma. Das Zusammenwirken des in den vorangegangenen Thesen Ausgedrückten bildet ein neues Paradigma der Zivilisation, das notwendigerweise einen tiefgreifenden Wandel im gesellschaftlichen, kulturellen und existentiellen Kontext des Menschen hervorrufen wird. “Entschuldigen sie die Störung, wir ändern gerade die Welt.”

These 23. Das neue Paradigma ist schon am Wirken. Erinnern wir uns an die These 1 über die Freiheit – jetzt können wir sie ausüben. Wer diese Thesen gelesen hat, kann frei wählen, über sie zu diskutieren, sie zurückweisen, sie verbreiten, studieren, vertiefen, anwenden, sie ignorieren, bekämpfen, sie in sein Leben integrieren, oder sie verneinen und viele weitere Möglichkeiten. Abhängig von der Haltung, die man einnimmt, wird sich die Zukunft öffnen oder verschließen. Was sicher ist, dass man diese nicht mehr auslöschen oder vergessen kann und noch weniger verhindern kann, dass sie sich entwickeln. Denn sie sind schon im Bewusstsein vieler Bürger verankert, auch in ihrem. Sie sind gekommen, um zu bleiben, und sie werden nicht gehen. “Wir sind schon zu ihrem Bewusstsein gekommen.” “Wenn sie uns nicht träumen lassen, lassen wir sie nicht schlafen.”

These 24. Das neue Paradigma vervielfältigt sich schon. Es gibt eine Vielzahl von Manifestationen, wie sich diese Veränderungen in der ganzen Gesellschaft entwickeln.

These 24.1) Wir verwenden unsere Energien darauf, alles zurück zu gewinnen, was nützt, um es zu verbessern, und vor allem, um das Neue aufzubauen. Wir kämpfen nicht einmal gegen das Alte, da es ja von selbst zusammenfallen wird.

These 24.2) In irgendeinem Moment, den wir nicht definieren können, wird dieses neue Paradigma sich wie ein Virus verbreiten.

Sind sie darauf vorbereitet?

 “Wir gehen langsam, weil wir weit gehen wollen.”