Der Staat investiert Milliarden in Jobcenter-Maßnahmen. Doch anstatt die Menschen in Arbeit zu bringen, profitiert davon eine kaum kontrollierte Weiterbildungsindustrie.
Matthias darf in seiner Softwareentwickler-Weiterbildung keine Software installieren. Tobias übt im E-Commerce-Kurs nicht das Verkaufen, sondern das englische Alphabet. Ralf soll in seinem Bewerbungstraining Bilderrätsel lösen. Heiko lernt Word-Dokumente zu öffnen, statt einen neuen Beruf. Anna wird in ein Coaching gesteckt, für das das Jobcenter bereits Plätze eingekauft hat. Mira, die als Dozentin helfen wollte, dehnte Unterrichtsstoff über Tage, bis es sinnlos wurde. Und Coach Benedikt, der eigentlich Mut machen wollte, zweifelt inzwischen, ob dieses System überhaupt noch jemanden erreicht.
Seit Monaten tobt die Debatte über das Bürgergeld. In Talkshows ist von falschen Anreizen die Rede, von Trägheit, von zu viel Milde. Im Oktober einigte sich die Koalition auf mehrere Gesetzesänderungen. Geplant sind verschärfte Sanktionen „bis an die Grenzen dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“, sagte Arbeitsministerin Bärbel Bas. Wer einen Termin verpasst oder eine Weiterbildung abbricht, soll künftig härter bestraft werden.
Doch die Menschen, die vom Bürgergeld leben müssen, kommen kaum zu Wort. Deshalb haben wir Anfang September aufgerufen: Erzählt uns eure Jobcenter-Story! Innerhalb weniger Tage meldeten sich Dutzende. Wir haben mit ihnen gesprochen, Unterlagen gelesen und geprüft. Ihre Geschichten zeichnen ein anderes Bild: Sie wollen arbeiten, stecken jedoch in einem System, das sie scheitern lässt. Nicht mangelnde Motivation ist das Problem, sondern mangelnde Kontrolle über sogenannte „Maßnahmen“, wie Weiterbildungen, Coachings und Umschulungen. Der Staat investiert Milliarden in diese Kurse, die helfen sollen, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Doch zu oft fließt das Geld in eine kaum kontrollierte Weiterbildungsindustrie, in der Beschäftigung simuliert wird und Qualität Zufall zu sein scheint.
Das ist Teil 1 unserer Jobcenter-Serie. Du hast auch eine Jobcenter-Story zu erzählen? Melde Dich!
Das Versprechen
Matthias*, 39 Jahre, wohnt nahe Mannheim
Matthias hat Pflegewissenschaften studiert. Ohne eine dreijährige Ausbildung darf er allerdings nur Teams leiten und nicht mit Patient*innen arbeiten. Nachdem er seine krebskranke Mutter bis zum Tod gepflegt hatte, wollte er einen Beruf, den er auch von zu Hause ausüben kann. Falls ihn sein Vater einmal braucht. Programmieren konnte er schon etwas, deshalb wollte er sich in dem Bereich weiterbilden. Das Jobcenter habe seinen Antrag monatelang geprüft, sagt Matthias. Erst habe es geheißen, der Kurs passe nicht, dann das Budget sei erschöpft. Schließlich kam doch eine Zusage für eine zweijährige Weiterbildung zum Anwendungsentwickler. Seine Euphorie war jedoch nur von kurzer Dauer. Auf dem Laptop, den er bekam, fehlte die Software zum Programmieren. Neue Programme zu installieren sei verboten gewesen, erzählt er. Obwohl der Unterricht online stattfand, musste er täglich mehrere Stunden pendeln, um sich in den Räumen des Bildungsträgers an einem Stand-PC einzuloggen. „Ich habe nichts gelernt. Nur Zeit abgesessen für teures Geld“, erzählt Matthias. 36.000 Euro kostete diese Maßnahme, laut Matthias. Das Jobcenter gab dazu keine Auskunft.
„Maßnahmen“ heißen die Programme, die Arbeitslosen dabei helfen sollen, wieder einen Job zu finden. Das können Weiterbildungen, Umschulungen oder Bewerbungstrainings sein. Bezahlt werden die Maßnahmen aus Steuergeldern. 2025 werden rund 3,4 Milliarden Euro für Weiterbildungsmaßnahmen ausgegeben. Welche Maßnahme für wen in Frage kommt, entscheiden die Sachbearbeiter*innen in den Jobcentern. Der Bundesrechnungshof kritisiert, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen kaum überprüft wird. Zwar werden Teilnehmerzahlen und Abbrecherquoten erfasst, jedoch kaum Lernerfolge oder tatsächliche Vermittlung. So gibt der Staat jährlich Milliarden aus, ohne sicher zu wissen, ob das System funktioniert.
Der falsche Kurs
Tobias*, 34 Jahre, wohnt nahe Bielefeld
Eigentlich hat Tobias Wirtschaftsrecht studiert. Doch er erkrankte an der Schilddrüse, brach das Studium ab und landete beim Jobcenter. Als er wieder arbeitsfähig war, schickte ihn seine Sachbearbeiterin in eine Weiterbildung für „Helfer Büro/Verwaltung“, weil das seinen Interessen aus dem Studium nahe komme. „Von Wirtschaft hatten die Dozenten keine Ahnung“, sagt Tobias. In dem Kurs lernte er die Grundkenntnisse von Microsoft Office, die er schon längst beherrschte. Sechs Monate saß er in dem Kurs, aus Angst, sanktioniert zu werden. Heute arbeitet er nicht in dem Bereich, sondern macht eine Pflegeausbildung. Den Ausbildungsplatz hat er ohne die Hilfe des Jobcenters gefunden.
Der Bundesrechnungshof kritisiert in einem 2025 veröffentlichten Bericht, den Jobcentern gelinge es nach wie vor nicht, Menschen „zu aktivieren und in Arbeit zu vermitteln“. Die Möglichkeiten, Menschen durch Maßnahmen zu fördern, würden nicht „ausreichend, zielgenau und intensiv genutzt“. Mehr als ein Drittel der Teilnehmenden breche abschlussorientierte Maßnahmen ab, so der Bundesrechnungshof.
Die Feldstudie
Ralf*, 47 Jahre, wohnt nahe Frankfurt am Main
20 Jahre lang arbeitete Ralf bei einem Unternehmen, bis er sich entschied, noch einmal etwas Neues auszuprobieren. Er machte Abitur, studierte Soziologie und Politikwissenschaften. Danach wollte er in der Jugendbildung arbeiten, doch es fehlte ihm eine Zusatzqualifikation. Das Jobcenter steckte ihn allerdings nicht in eine Weiterbildung, sondern in ein Bewerbungstraining. Für vier Stunden täglich, fünf Tage die Woche, mehrere Monate lang. Er bekam Bilderrätsel, auf denen er fehlende Vokale ergänzen sollte, um die Zeit zu überbrücken. „Nach zwei Wochen habe ich gefragt: Was mache ich hier eigentlich?“ Mit ihm saßen viele andere im Kurs, die sich auch fehl am Platz fühlten. Sie hätten eine fachliche Weiterbildung oder einen Sprachkurs gebraucht, um voranzukommen. Stattdessen seien einige schon zum zweiten Mal dort gewesen und verstanden nicht warum. „Ich fühlte mich wie in einer Feldstudie, an der ich teilnehmen musste“, erzählt Ralf.
Ralf befand sich in einer sogenannten „Eingliederungsmaßnahme“. Der Grundgedanke davon ist, Menschen nach langer Arbeitslosigkeit wieder in eine Routine zu bringen. Für manche hilfreich, für viele nicht. Die Plätze für Eingliederungsmaßnahmen kaufen die Jobcenter meist vorab ein. Also müssen sie auch gefüllt werden. Auch die Maßnahme, an der Heiko teilnahm, war vorab eingekauft, ergab unsere Recherche.
Die motivierte Dozentin
Mira*, 41, wohnt in Süddeutschland
Mira kennt das Weiterbildungssystem von innen. Sie arbeitete als Dozentin für einen großen Bildungsträger. Sie wollte Menschen helfen, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen. Doch sie war schnell ernüchtert: Ihre Kolleg*innen seien nicht ausgebildet gewesen, um tatsächlich Wissen an die Teilnehmenden zu vermitteln. Und darum schien es auch nicht zu gehen. „Ich sollte Lerninhalte, die man an einem Tag vermittelt, auf zwei Wochen strecken“, erzählt Mira. Die Kurse liefen online, meist mit 30 Teilnehmer*innen oder mehr. Auf Fragen eingehen? Unmöglich.
Maßnahmen-Kurse anzubieten ist ein lukratives Geschäft. Anbieter müssen nicht in Werbung investieren, denn die Kund*innen liefern die Behörden. Seit der Pandemie ist das Maßnahmen-Geschäft sogar noch lukrativer geworden. Aus Einzelcoachings in Präsenz wurden Massenveranstaltungen, die online abgehalten werden. Denn bezahlt wird pro Teilnehmendem.
Der Vertrag
Anna*, 42 Jahre, wohnt nahe Bonn
Anna arbeitet selbständig als Fotografin, verdient aber nicht genug. Sie stockt ihr Einkommen mit Bürgergeld auf. Sie will raus aus dem Bezug und sich dafür beruflich umorientieren. Das Jobcenter schickte sie allerdings in ein sechsmonatiges Coaching für Selbständige. Nach zwei Sitzungen brach sie ab, da sie an der Kompetenz der Trainerin zweifelte und weil sie ihre privaten Kontoauszüge auf einem USB-Stick speichern und abgeben sollte. Für Anna war das ein Eingriff in die Privatsphäre. Durch den Abbruch riskierte sie, sanktioniert zu werden.
Es gibt zwei Möglichkeiten, um als Bildungsträger an Jobcenter-Kund*innen zu kommen: über Bildungsgutscheine oder über Rahmenverträge. Ein Bildungsgutschein wird beim Jobcenter beantragt. Dafür wählt man eine Maßnahme eines zertifizierten Bildungsträgers im Online-Portal aus. Wie viele Plätze belegt und somit bezahlt werden, ist offen. Bei einem Rahmenvertrag sind die Plätze allerdings im Vorfeld bereits eingekauft, unabhängig davon, ob alle belegt sind. Annas Jobcenter und der Bildungsträger, der für ihr Coaching zuständig waren, haben laut unseren Recherchen einen Rahmenvertrag.
2022 stellte der Bundesrechnungshof fest, dass rund 74 Prozent der vorab eingekauften Kursplätze ungenutzt blieben. Dadurch seien rund 350 Millionen Euro aus Steuermitteln an Bildungsträger geflossen, ohne dass eine Leistung erbracht wurde.
Der Zwang
Heiko*, 39 Jahre, wohnt nahe Essen
Heiko ist gelernter Lagerlogistiker. Nach einem Autounfall, bei dem ein Mensch starb, verlor er den Halt, die Arbeit und landete beim Jobcenter. Da er bereits ein paar Jahre arbeitslos ist, gilt er als „berufsentfremdet“. Er wollte eine Umschulung im kaufmännischen Bereich machen, stattdessen sitzt er in einer Maßnahme, in der er lernt, Word-Dokumente zu öffnen. „Ich will wieder arbeiten, nicht Grundschule spielen“, sagt er. „Ich verliere Zeit.“ Bis März 2026 muss er noch in der Maßnahme sitzen, ansonsten könne er sanktioniert werden.
Menschen, die an einer Maßnahme teilnehmen, gelten offiziell nicht mehr als arbeitslos. In der Statistik tauchen sie als „in Weiterbildung“ oder „in Aktivierung“ auf. So sinken die offiziellen Arbeitslosenzahlen, die in Talkshows debattiert werden, auch wenn niemand tatsächlich arbeitet. Offiziell gelten derzeit rund 3 Millionen Menschen als arbeitslos. Rechnet man jene hinzu, die in Maßnahmen stecken, wären es 3,5 Millionen.
Die mangelnde Qualifikation
Andreas*, 33 Jahre, wohnt nahe Stuttgart
Andreas hat jahrelang im Marketing gearbeitet, bis das Burnout kam und mit ihm das Jobcenter. Weil er sein Studium nicht abgeschlossen hatte, sollte er an einer Weiterbildung zum E-Commerce-Kaufmann teilnehmen. Zuerst war er motiviert. Die Sachbearbeiterin sagte, der Kurs sei anspruchsvoll und es gebe nur wenige Plätze. Doch bald lernte Andreas im Englischunterricht die Zahlen von eins bis zwanzig und das Alphabet. Es galt Anwesenheitspflicht, doch es habe täglich mehrstündige Pausen gegeben, die sie im Raum absitzen mussten. Rund 18.000 Euro kostete der Kurs. „Es fehlte nicht nur an Inhalt, fachlicher Tiefe und Praxisrelevanz, sondern auch an Professionalität“, erzählt Andreas. „Ein Dozent hat einen Affiliate-Link zu seinem Buch geteilt.“ Mit jedem Kauf erhält der Dozent eine Provision. Andreas schrieb einen dreiseitigen Beschwerdebrief an das Jobcenter. Die Antwort der Sachbearbeiterin: Man habe den Träger kontaktiert, der könne allerdings nichts ändern, da diverse Umschulungsinhalte „eingekaufte Maßnahmen“ seien, also von einem Subunternehmen durchgeführt werden. Der abschließende Rat der Sachbearbeiterin: „Momentan bleibt Ihnen leider nichts anderes übrig, als die Umschulung fertig durchzuziehen.“
Um Bildungsträger zu werden, braucht es eine sogenannte AZAV-Zertifzierung. Diese wird allerdings nicht von einer Behörde ausgestellt, sondern von privaten Unternehmen. Ihre Arbeit wird nur stichprobenartig von der deutschen Zertifizierungsstelle überprüft, schreibt uns die Bundesagentur für Arbeit. Zusätzlich zur Trägerzertifizierung muss auch jede Maßnahme von den privaten Zertifizierungsstellen zugelassen werden.
Der desillusionierte Coach
Benedikt*, 30, wohnt nahe Berlin
Benedikt weiß, wie es ist, arbeitslos zu sein. Er hat über das Jobcenter ein Coaching besucht, das ihm half, seine Marketingagentur aufzubauen. Heute ist er selbst Coach, allerdings als Subunternehmer. Seine Kurse werden von zertifizierten Bildungsträgern eingekauft. Sich selbst zu zertifizieren wäre zu teuer. Er begleitet Arbeitslose dabei, ihre Businessideen zu vermarkten. Die Businessideen wurden zuvor vom Jobcenter genehmigt und in einem anderen mehrmonatigen Kurs, den das Jobcenter finanziert, ausgearbeitet. „Die Teilnehmenden sind an dem Punkt euphorisch und ich muss viele enttäuschen“, sagt er. „Denn ein Großteil der Ideen wird in der Wirtschaft nicht bestehen.“ Nicht nur seien die Kurse teuer, auch würden Menschen so desillusioniert und möglicherweise in Krisen gestürzt werden.









