In Licht, Freude und Heiterkeit blühen wir auf und entfalten uns in unserer alltäglichen Schönheit – das jedenfalls ist die allgemeine Vorstellung vom Leben und sie entspricht unserem personalen Ich-Ideal. Was aber geschieht in Dunkelheit, Angst und im drohenden Untergang?
In einem Zustand von Bedrohung werden gewöhnlich die alten Angst-Abwehr-Muster aktiv: Bagatellisierung, Verdrängung, Leugnung, Rationalisierung oder gar die radikale Abspaltung von unerwünschten und bedrängenden Ahnungen und Gefühlen. Diese Abwehrmuster sollen und können die Angst besänftigen und den Schmerz lindern.
Daher sind Menschen, die bereit sind, das Dunkle in der Welt zu sehen, meist nicht sonderlich beliebt, besonders wenn sie die herrschende politische Meinung mit ihrer Botschaft in Frage stellen. Mahner und Mahnerinnen, diejenigen mit dem eindringlichen Kassandra-Ruf, sie werden ausgegrenzt, verunglimpft und zuweilen auch bestraft. So wie die Ruferin Kassandra, die von ihrem Vater, dem trojanischen König Priamos, gedemütigt und aus dem Kreis der königlichen Familie verstoßen wurde[1].
„In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt.“ (George Orwell)
Dabei ist es keineswegs lustvoll und erquickend, das Dunkle zu sehen, auch Schwarz-Seher und -Seherinnen fühlen Angst und Schmerz. Sie folgen aber dem Weg der Liebe, denn die Liebe ist größer als die Angst; im Raum der Liebe ist die Angst gehalten. Die schmerzliche Bereitschaft das Dunkle zu sehen, ist Ausdruck von Liebe, von Liebe zum Leben und Liebe zu Mutter Erde und all ihren Wesen.
In einer Angst machenden und ausweglosen Situation kann die Verdrängungs-Leistung dabei helfen, das Unausweichliche – eine Naturkatastrophe, einen Krieg, den Verlust eines nahen Menschen – leichter zu ertragen; es tut nicht so rasend weh. Was aber will die Seele?
Wir leben in der irdischen Welt der Dualität von Licht und Dunkel, Freude und Schmerz, Weiblichkeit und Männlichkeit. Daher gehe ich davon aus, dass es unserer Seelen-Entwicklung entspricht, nach dem Lichten auch das Dunkle zu sehen. Hierzu ein Zitat von Dionysios Areopagita, dem geheimnisvollen Mystiker und Theologen, der im sechsten Jahrhundert nach Chr. lebte,– und fälschlicherweise mit drei verschiedenen Personen identifiziert wird. Pater Anselm Grün bezeichnete ihn als den „syrischen Wüstenmönch“, der „versuchte die Philosophie des Neuplatonismus in das Christentum zu integrieren.“[2]
„Zu diesem überhellen Dunkel
wünschen wir zu gelangen
und durch Nicht-Sehen und Nicht-Erkennen
zu schauen und zu erkennen,
was das Schauen und Erkennen übersteigt.“
Im Licht sind wir geblendet und oft auch verblendet, im Dunkel aber zeigt sich uns die tiefste Wahrheit, das Göttliche Licht. Gerade im Verborgenen, im Reich der Schatten, leuchtet uns dieses Licht. Im „überhellen Dunkel“, in der Tiefe des Seelen-Grundes, offenbart sich das Göttliche Geheimnis.
In allen traditionellen Initiationen und Einweihungen sowie auch in der zeitgenössischen therapeutisch begleiteten „Heldenreise“, geht der Weg der Suchenden immer nach unten in die eigene dunkle Unterwelt. [3] Hier im Hades unserer menschlichen Psyche begegnen wir den inneren Dämonen, den unerlösten Resten alter Opfer- und Täter-Traumatisierungen. Erst wenn wir bereit sind, den inneren „dunklen Bruder“ und die „dunkle Schwester“ anzuerkennen, wenn wir sie in den Raum der Liebe einladen, erst dann erfahren wir die ersehnte Befreiung und Erlösung. Nur in der Bereitschaft, das Dunkle zu sehen, können wir dem drohenden Unheil entkommen. Das gilt sowohl für den inneren psychischen Raum als auch für den äußeren sozialen und politischen Raum.
Um in das „überhelle Dunkel“ zu gelangen, sollten wir die Lichterketten entfernen und die spiritualisierenden Ego-Wünsche verabschieden. Aller falsche Schein, alle pseudospirituelle Schein-Heiligkeit, darf verlöschen. Nicht-sehend, nackt und bloß – wie einst Inanna in der Unterwelt – so stehen wir nun zitternd und verloren vor unserer eigenen Wahrheit. Und erst dann, im tiefsten Dunkel der Weihe-Nacht, erscheint das Göttliche Licht und beschenkt uns mit wahrhaftiger Selbst-Erkenntnis: Wir erkennen, wer wir sind und warum wir hier sind.
In Demut beugen
Immer noch tiefer beugen
Ankommen am GrundIm UnterweltsDunkel
Beim LeuchtMond der Tiefe
Die Wahrheit erscheint
(G.C. Nov. 2021)[4]
Quellen:
[1] Vgl. Barbara Tuchman, „Von Troja bis Vietnam“, Frankfurt 1984 sowie Gertrude Croissier, Das Kassandra-Syndrom in „Grenzgang. Krieg oder Frieden“, Schalksmühle 2024, S.197
[2] Rezension von Thomas Brose im Literatur-Blog Eulenfisch zu Dionysios Areopagita „Über alles Licht erhaben“, aus dem Griechischen übersetzt von Edith Stein, Topos Taschenbücher 1009.
[3] Vgl. Gertrude Croissier „Die mythische Reise. Der archetypische Weg des Helden und der Heldin“, Schalksmühle 2022
[4] Gertrude Croissier in „Tagebuch einer Alten. Auf der Schwelle von Dunkel und Licht“, Schalksmühle 2024, S.128









