Merz und von der Leyen erhöhen den Druck auf Belgien, zur Finanzierung der Ukraine den Zugriff auf russische Staatsguthaben freizugeben. Das bräche das Völkerrecht, riskierte eine Finanzkrise und könnte die EU spalten.

(Eigener Bericht) – Bundeskanzler Friedrich Merz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eskalieren den Druck auf Belgien, der EU den Zugriff auf die dort liegenden Auslandsguthaben der russischen Zentralbank freizugeben. Mindestens 90 Milliarden Euro sollen helfen, die Ukraine bis 2027 finanziell zu stabilisieren. Nach einem Gespräch von Merz und von der Leyen mit Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever am Freitagabend in Brüssel nimmt sich die EU jetzt den Finanzdienstleister Euroclear vor, bei dem russische Guthaben im Wert von 185 Milliarden Euro liegen. Man könne die Sorgen des Unternehmens zerstreuen, äußert die EU-Kommission. Euroclear-Chefin Valérie Urbain bekräftigt dagegen, dass jeder Zugriff auf russische Staatsgelder die Staatenimmunität und damit das Völkerrecht bricht. Euroclear erhalte bereits Anfragen anderer Zentralbanken, ob ihre Anlagen noch sicher seien. Das Unternehmen sei „systemrelevant“; zögen zu viele Investoren ihre Guthaben ab, drohe eine Finanzkrise. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs warnt zudem, der von Merz und von der Leyen propagierte Schritt könne „eine tiefe Krise innerhalb Europas“ auslösen; die Folgen könnten die EU spalten.

Der Merz-/Von-der-Leyen-Plan

Der Vorschlag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht im Grundsatz vor, auf einen erheblichen Teil der Auslandsguthaben der russischen Zentralbank zuzugreifen, die beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear lagern und dort aufgrund von EU-Sanktionen eingefroren sind. Konkret geht es um 90 Milliarden Euro, also rund die Hälfte des russischen Gesamtguthabens von 185 Milliarden Euro. Sie sollen 2026/27 in zwei Tranchen von je 45 Milliarden Euro an die EU übertragen und von ihr als Kredit an Kiew weitergeleitet werden. Euroclear soll per Gesetz gezwungen werden, die Mittel herauszurücken. Russland werde sie nur zurückerhalten, wenn es sich zur Zahlung von Reparationen bereiterkläre, heißt es.[1] Wenn nun Russland Reparationen zahle, dann müsse die Ukraine sie nutzen, um den Kredit an die EU bzw. über diese an Euroclear zurückzahlen. Das liefe zwar dem eigentlichen Zweck von Reparationen zuwider, der im Wiederaufbau besteht; die EU aber stört das nicht. Sie behauptet, am Ende der eigentümlichen Wanderungsbewegung der 90 Milliarden Euro aus Brüssel nach Kiew und zurück lägen die russischen Auslandsguthaben wieder am vorgesehenen Ort und seien für die russische Zentralbank wieder verfügbar.

Der Kanzler und das Völkerrecht

Der windige Plan, zu dessen Entstehung Bundeskanzler Friedrich Merz zentrale Gedanken beigesteuert hat [2] und von dem er behauptet, er befinde sich „in völliger Übereinstimmung mit dem Völkerrecht“ [3], hat zahlreiche Widersprüche und Sollbruchstellen. Die erste Sollbruchstelle besteht darin, dass Russland nur im Fall einer Kriegsniederlage gezwungen werden könnte, Reparationen zu zahlen. In der aktuellen Kriegssituation muss eine russische Niederlage als unwahrscheinlich gelten. Ohne Reparationen flössen keine Mittel aus Kiew zurück an Euroclear; die russische Zentralbank wäre ihrer Guthaben endgültig beraubt. Dies ist sie aber eigentlich schon ab dem Tag der Weiterleitung der Milliardenbeträge an Kiew. Denn das russische Zentralbankguthaben, daran hat am gestrigen Montag Euroclear-Chefin Valérie Urbain erinnert, „gehört … dem russischen Staat“; es ist „rechtlich geschützt, weil es dem Prinzip der Staatenimmunität im Völkerrecht unterliegt“.[4] Zwar könne man das Geld „immobilisieren“, erläutert Urbain. „Aber alles, was darüber hinausgeht, stellt … das Völkerrecht in Frage“. Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever hat mehrmals festgehalten, dass „zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte immobilisierte Staatsvermögen während eines laufenden Krieges ‚umgewidmet‘ wurden“ [5] – nicht einmal im Zweiten Weltkrieg.

Keine Garantie

Bislang scheitert der Versuch, den von Merz inspirierten Von-der-Leyen-Plan in die Tat umzusetzen, am klaren, anhaltenden Widerstand von Ministerpräsident De Wever. De Wever weist darauf hin, dass allfällige russische Klagen vor nationalen oder vor internationalen Gerichten wegen Diebstahls von Zentralbankguthaben sich gegen Euroclear bzw. gegen Belgien richten würden. Belgien müsste im – wahrscheinlichen – Fall einer Verurteilung die Rückzahlung der Guthaben übernehmen. Zwar beteuern Merz und von der Leyen immer wieder, die EU-Mitgliedstaaten würden Belgien beistehen und sich gegebenenfalls an einer Rückzahlung beteiligen. Doch räumen Insider ein, De Wever werde dafür keine Garantie erhalten. So könne Kanzler Merz die Zahlung des auf Deutschland entfallenden Viertels der Gesamtsumme – es handelt sich um eine zweistellige Milliardensumme – nicht rechtssicher zusagen; er benötige eine „Zustimmung des Bundestags“.[6] Ähnlich verhalte es sich „in nahezu allen EU-Staaten“. In der Kürze der Zeit sei die nötige Parlamentszustimmung nicht zu bekommen. De Wever freilich, mit den Tricksereien und den Intrigen in der EU bestens vertraut, beharrt auf der Garantie, bei einer Rückzahlung nicht im Stich gelassen zu werden. Wie der Widerspruch gelöst werden soll, ist nicht ersichtlich.

Finanzstabilität in Gefahr

Jenseits der inneren Widersprüche innerhalb der EU weist Euroclear-Chefin Urbain auf äußere Sollbruchstellen hin. So könne Russland sich gegen die Entwendung seiner Guthaben zur Wehr setzen, indem es seinerseits „Guthaben beschlagnahmen“ lasse, die Euroclear in Russland halte, konstatiert Urbain.[7] Von Guthaben im Wert von rund 18 Milliarden Euro ist die Rede. Russland habe auch die Option, als Ausgleich für den Verlust seiner Guthaben die Guthaben weiterer Finanzinstitute und Unternehmen aus Belgien und der EU zu konfiszieren, sofern es praktisch Zugriff habe. Zudem weist Urbain darauf hin, dass der Merz-/Von-der-Leyen-Plan erhebliche „Gefahren für die Finanzstabilität“ mit sich bringt. Zum einen könnten Investoren „den Eindruck bekommen, dass ihr Geld in Europa nicht mehr sicher ist“, und es abziehen. Bei Euroclear seien bereits konkrete Anfragen mehrerer Zentralbanken „nach der Sicherheit ihrer Einlagen“ eingegangen. Euroclear verwahre „Wertpapiere im Wert von 42 Billionen Euro“, betont Urbain: „Wir sind kein kleines Haus.“ Ihr Finanzinstitut sei vielmehr „systemrelevant“. Was dies heißt, ist seit spätestens 2007/08 allgemein bekannt: Gerät ein Finanzinstitut dieser Kategorie in eine Schieflage, droht eine umfassende Finanzkrise.

Aufruhr in der EU

Auf die unter Umständen gravierenden politischen Folgen hat Ende vergangener Woche der US-Ökonom Jeffrey Sachs hingewiesen, der an der renommierten New Yorker Columbia University lehrt und nicht zuletzt als Sonderberater mehrerer UN-Generalsekretäre tätig war. Sachs urteilte im Gespräch mit der Berliner Zeitung, der Merz-/Von-der-Leyen-Plan breche nicht nur das Völkerrecht; er werde für die EU „sehr hohe Kosten verursachen“, „Europa tief spalten und die Beziehungen innerhalb der EU vergiften“.[8] Falls „der Widerstand mehrerer Staaten“, etwa Belgiens, „einfach von Deutschland übergangen“ werde, könne „die EU in Aufruhr geraten“; allfällige russische Vergeltungsmaßnahmen könnten „eine tiefe Krise innerhalb Europas“ auslösen. „Die politische Gegenreaktion in Europa gegen Merz, Macron und von der Leyen“ werde „heftig sein“ – insbesondere dann, wenn das Vorgehen der EU als „Machtspiel Deutschlands unter Führung von Merz und von der Leyen gewertet“ werde. Jenseits Europas, berichtet Sachs, würden „die europäischen Staats- und Regierungschefs mit Ratlosigkeit und Bestürzung“ betrachtet: „Europas Führung“ werde „als sehr schwach und unklug wahrgenommen“. Vor allem „Merz‘ Popularität“ werde „weiter sinken“ und „die deutsche Politik destabilisieren“.

 

[1] Thomas Gutschker: Armdrücken zwischen der EU und Belgien. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.11.2025.

[2] Germany’s Merz backs using frozen Russian assets for Ukraine. ft.com 25.09.2025.

[3] Friedrich Merz: Eine Frage der Souveränität. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.12.2025.

[4] „Freies Geld von Euroclear für die EU existiert nicht“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2025.

[5] Belgien weist EU-Plan zurück. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.11.2025.

[6] Thomas Gutschker: Noch ist Bart De Wever nicht an Bord. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2025.

[7] „Freies Geld von Euroclear für die EU existiert nicht“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2025.

[8] Michael Maier: Jeffrey Sachs warnt: Lösen Merz und von der Leyen einen Finanzcrash aus? berliner-zeitung.de 05.12.2025.

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