Im Verlauf des 20. Jahrhunderts stiegen die Intelligenzquotienten (IQ-Werte) ununterbrochen an. Es ist ein Trend, der als Flynn-Effekt bekannt ist. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde dieser Effekt jedoch durch neue Studien revidiert, die einen gegenläufigen Trend in industrialisierten Ländern aufzeigen. Dieses Phänomen, das durch Längsschnittforschung und aktuelle Metaanalysen bestätigt wurde, wird in erster Linie auf umweltbedingte, soziale und insbesondere digitale Faktoren zurückgeführt und weniger auf genetische Ursachen, wie dies die wissenschaftliche Literatur in den Jahren von 2024 bis 2025 verdeutlicht. Die Debatte ist heute von zentraler Bedeutung in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der öffentlichen Politik, da sowohl der Rückgang klassischer kognitiver Fähigkeiten (wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und abstraktes Denken) als auch das Auftreten neuer digitaler Kompetenzen identifiziert werden, was eine Aktualisierung des analytisches Rahmenkonzept erforderlich macht. Besonders auffällig ist das Phänomen in Europa und Nordamerika, während im globalen Süden das Fortbestehen oder eine leichte Stagnation des Flynn-Effekts vorherrscht und kein vergleichbarer Rückgang in hoch industrialisierten Kontexten dokumentiert wurde. Die in den letzten Jahren gesammelten Erkenntnisse machen eine dringende Aktualisierung der Messinstrumente sowie eine vollständige Neugestaltung von Bildungs-, Ernährungs- und gesundheitspolitischen Maßnahmen erforderlich.
1. Einleitung: Das Paradox der Intelligenz im 21. Jahrhundert
Der anhaltende Anstieg der IQ-Werte im 20. Jahrhundert nährte die Hoffnung auf einen unbegrenzten kognitiven Fortschritt. Neue Analysen zeigen jedoch, dass sich dieses Muster seit etwa den in den 1970ern geborenen Jahrgängen in zahlreichen industrialisierten Ländern umgekehrt hat. Aktuelle Studien bis zum Jahr 2025 verdeutlichen, dass die kognitive Entwicklung nicht mehr linear oder einheitlich verläuft, sondern vielmehr das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen Bildungs-, Umwelt- und insbesondere digitalen Faktoren ist.
Dieses Essay hat das Ziel, die neuesten Erkenntnisse zu systematisieren, dabei die diesen Prozess vorantreibenden Faktoren kritisch zu bewerten und einen konzeptionellen sowie methodischen Rahmen zu entwickeln, der dem aktuellen Stand des wissenschaftlichen Wissens entspricht, um so eine umfassende Orientierungshilfe für Forschende, politische Entscheidungsträger und pädagogische Fachkräfte zu bieten.
2. Globale Evidenz des IQ-Rückgangs: Stand der Forschung 2019–2025
2.1. Industrialisierte Länder
Die Umkehr des Flynn-Effekts in Norwegen wurde erstmals von Bratsberg und Rogeberg (2018) dokumentiert und ist seither durch neuere Berichte und Metaanalysen bestätigt worden, bei denen auch Jahrgänge mit einbezogen sind, die in den frühen 2000er Jahren geboren wurden. Ähnliche Trends wurden, bestätigt durch die finnische Gesundheits- und Bildungsbehörde (2024), auch in Finnland und Dänemark festgestellt.
Im Vereinigten Königreich zeigen Längsschnittanalysen der British Cohort Study und des Centre for Longitudinal Studies (2024) einen kumulierten Rückgang von bis zu fünf IQ-Punkten in den Bereichen der verbalen Fähigkeiten und des strukturierten Denkens bei nach 1970 geborenen Jahrgängen – in engem Zusammenhang stehend mit Veränderungen im Bildungssystem und der allgegenwärtigen Nutzung digitaler Technologien durch Jugendliche.
In den Vereinigten Staaten heben Studien unter Leitung der Northwestern University und der National Assessment of Educational Progress (NAEP, 2024) eine ausgeprägte Verschlechterung beim Wortschatz, Leseverständnis und mathematischem Denkvermögen hervor. Diese Befunde werden durch Veröffentlichungen in Psychological Science (2024) und in bedeutenden internationalen Fachgremien untermauert.
2.2. Nicht-westliche Kontexte
In China hält der Flynn-Effekt weiterhin an, doch aktuelle Bewertungen – etwa durch die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (2024) sowie die Metaanalyse von Yang et al. (2019) – berichten von einer Stagnation in hoch urbanisierten, stark digitalisierten Zonen, bei der auch Umweltverschmutzungen eine Rolle spielen könnte.
In Lateinamerika bleibt es bei einem langsamen, jedoch ungleichmäßigen Anstieg der IQ-Werte. Forschungsgruppen in Brasilien, Mexiko und Chile warnen jedoch, dass eine unregulierte digitale Mediennutzung in Verbindung mit Unterschieden im Leseverständnis sowie bei der Ernährung dazu führt, dass ein weiterer kognitiver Anstieg ausbleiben wird.
Subsahara-Afrika stellt eine besondere Herausforderung dar. Während die Datengrundlage für langfristige Trends noch unzureichend ist, haben Verbesserungen im Bereich Ernährung und Bildung in Ländern wie Kenia, Ghana und Nigeria einen moderaten Flynn-Effekt aufrechterhalten. Dennoch stellen hierbei endemische Ernährungsdefizite und Mängel bei der Anpassung von Tests laut dem African Cognitive Monitoring Network (2025) entscheidende Einschränkungen dar.
3. Multifaktorielle Ursachen des Rückgangs und kognitive Umstrukturierung
3.1. Veränderungen in der Pädagogik und bei Lehrplänen
Die zunehmende Konzentration auf standardisierte Tests, auf das Auswendiglernen und auf die Vereinfachung von Lehrplänen korreliert mit einem Rückgang des abstrakten Denkens und einer tiefer gehenden kognitiven Verarbeitung. Die OECD (2024) sowie Universitäten in Europa und Lateinamerika beobachten eine deutlichen Rückgang erkenntnisfördernder Lebensumwelten, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Klassenzimmern, und insbesondere in digital stark durchdrungenen städtischen Bevölkerungen.
3.2. Umwelt- und ernährungsbedingte Einflussfaktoren
Neurotoxische Substanzen wie Blei und Organophosphat-Pestizide wurden eindeutig mit kognitivem Abbau in Verbindung gebracht. Kinder, die in den USA und China diesen beständig ausgesetzt waren, erlitten laut Forschungen von Chen et al. (2024) und dem National Institute of Environmental Health Sciences IQ-Einbußen von 5 bis 7 Punkten.
Was die Ernährung betrifft, zeigt der gemeinsame Bericht von UNICEF und FAO (2024), dass vor allem Kinder und Jugendliche in urbanen Bevölkerungsgruppen häufig Defizite an Eisen, Jod, Zink und Omega-3-Fettsäuren aufweisen. In Kombination mit stark verarbeiteten Lebensmitteln tragen diese Mängel wesentlich zu einer kognitiven Stagnation bei.
3.3. Digitalisierung und fragmentierte Aufmerksamkeit
Aktuelle Veröffentlichungen von Mara Dierssen (2024) und Umberto León Domínguez (2024) bestätigen, dass die längere Nutzung seichter digitaler Medien, Multitasking und die zunehmende Abhängigkeit von generativer KI zu Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen, zu verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und zu abnehmendem Arbeitsgedächtnis beitragen, was insbesondere bei jüngeren Bevölkerungsgruppen zu sehen ist.
Im Gegensatz dazu kann der strukturierte und therapeutische Einsatz von KI bei älteren Bevölkerungsgruppen (wie von der Universität Vigo, 2025, untersucht) dabei helfen, den kognitiven Abbau bei verantwortungsvoller Implementierung zu verzögern. Dennoch hat das Phänomen des kognitiven Auslagerns – intensiv diskutiert auf internationalen Symposien in den Jahren 2024 bis 2025 – die dringende Notwendigkeit unterstrichen, digitale Interaktionen zu regulieren und pädagogische Strategien neu zu denken.
4. Gegenargumente, Einschränkungen und methodologische Debatte
Obwohl einige Wissenschaftler die Idee einer neu entstehenden „digitalen Intelligenz“ unterstützen – also von Stärken bei der Sichtung von Informationen, bei ihrer sinnvollen Zusammenführung, sowie beim Multitasking -, legen hier die bisherigen empirischen Befunde nahe, dass solche Fortschritte den messbaren Rückgang grundlegender kognitiver Fähigkeiten nicht ausreichend ausgleichen.
Forschende betonen die Notwendigkeit, Testverfahren zu verbessern, um unterschiedliche kognitive Realitäten abzubilden und neurobiologische Marker (z. B. Sichtbarmachung der Hirnaktivitäten mittels funktionalem MRT) einzubeziehen, die zwischen oberflächlicher und tiefergehender kognitiver Verarbeitung unterscheiden können. Aktuelle Testmethoden erfassen diese Nuancen oft nicht.
5. Implikationen, politische Maßnahmen und offene Forschungsagende
Jüngste Empfehlungen bedeutender Institutionen, darunter OECD, WHO und European Brain Council, lauten:
- Die dringende Entwicklung aktualisierter und kulturelle Besonderheiten berücksichtigende IQ- und kognitiver Testverfahren, die sowohl traditionelle Fähigkeiten als auch neue digitale Kompetenzen abbilden.
- Eine umfassende Reform der Lehrpläne mit Fokus auf kritischem Denken, auf dauerhafte Aufmerksamkeit, sowie auf analogem Denken und Informationssynthese.
- Begrenzungen der Bildschirmzeit auf nationaler Ebene und Entwicklung altersgerechter Programme zur digitalen Kompetenzförderung.
- Gesundheitspolitische Maßnahmen, die sich auf eine, das Nervensystem stärkende Ernährung und auf die Beseitigung umweltbedingter Gefahren für die Hirnentwicklung konzentrieren.
- Langfristige, kulturübergreifende Studien, die Umwelteinflüsse, Ernährung, digitale Verhaltensweisen und kognitive Leistungen integrieren.
- Die Identifikation von auf die Kognition bezogenen Biomarkern, die funktionelle Anfälligkeiten für digitale Überstimulation oder sozio-kulturelle Benachteiligung vorhersagen können.
6. Fazit
Die gesammelten Erkenntnisse aus den Jahren 2019 bis 2025 belegen die Entstehung eines globalen kognitiven Veränderungsprozesses, der sowohl den Rückgang klassischer Fähigkeiten als auch den Aufstieg neuer, technologisch vermittelte Kompetenzen widerspiegelt. Das Phänomen verläuft weder linear noch homogen. Die drängende Frage für weltweite Bildungs-, Gesundheits- und Regierungssysteme lautet, ob diese Umstrukturierung zu einem anpassungsfähigeren kognitiven Ökosystem führt oder ob sie stattdessen Millionen Menschen in einer zunehmend komplexen Welt funktionalen Beeinträchtigungen aussetzt. In jedem Fall ist dringendes, interdisziplinäres Handeln erforderlich, um das Ausmaß, die Unabhängigkeit und die Widerstandskraft der menschlichen Kognition im digitalen Zeitalter zu schützen.
Quellen:
Bratsberg, B., & Rogeberg, O. (2018). Flynn effect and its reversal are both environmentally caused. Proceedings of the National Academy of Sciences, 115(26), 6674–6678.
(Norwegian longitudinal study; documents reversal of the Flynn Effect attributable to environmental and cultural factors, massive sample with high statistical robustness.)
Chen, L., et al. (2024). Environmental pollution, neurotoxicity, and their impact on IQ: Studies in China and the USA. National Institute of Environmental Health Sciences.
(Review of cumulative effects of lead and pesticides on child and adolescent IQ.)
Costa, A., et al. (2025). Cognitive trends in Latin America. National Autonomous University of Mexico (UNAM).
(Regional studies on IQ evolution, digitalization, nutrition, and education policy.)
Dierssen, M. (2024). Research on cognitive reconfiguration and brain aging in the digital era. Royal National Academy of Medicine, Spain (RANM).
(Current analysis of the impact of digital exposure and AI on deep cognitive functions.)
Finnish Health and Education Authority. (2024). Cognitive trends in Finland.
(Official national report linking cognitive changes to digital exposure and educational transformation.)
García, M., et al. (2025). Impact of AI on executive functions and memory: Multicenter analysis. University of Vigo.
(Explores AI’s dual role as both cognitive enhancer in older adults and potential threat to critical capacity development.)
León Domínguez, U. (2024). Cognitive offloading and outsourcing induced by AI. University of Monterrey (UDEM).
(Study examining digital delegation and its neurological and behavioral consequences.)
Mekonnen, D., et al. (2025). Cognition and development in Sub-Saharan Africa: Challenges in measurement and nutrition. African Cognitive Monitoring Network.
(Report addressing food security and educational access as central variables in cognitive development.)
NAEP – National Assessment of Educational Progress. (2025). Longitudinal study on U.S. cognitive trends.
(Longitudinal data confirming IQ and academic performance decline across multiple domains, 1970–2025.)
OECD. (2023–2025). Reports on global cognitive and educational trends. Organisation for Economic Co-operation and Development.
(Evaluations of the evolving state of education, cognitive scores, and policy recommendations worldwide.)
Possin, K. L. (2024). New digital skills vs. decline in classical abilities: Neuropsychological perspectives. University of California, San Francisco (UCSF), Memory and Aging Center.
(Discussion of cognitive reconfiguration grounded in neuropsychological tracking of digital-era brains.)
Simonsen, L., et al. (2024). Effects of educational standardization on cognition in children. Autonomous University of Madrid / University of Helsinki.
(Explores how curricular simplification and test-based systems impact individual and collective reasoning.)
UNICEF & FAO. (2024). Reports on nutrition and cognitive development in the Global South.
(Shows strong association between micronutrient deficiency and cognitive delay in lower-income populations.)
World Cognitive Forum. (2025). International symposium on neuroscience and cognitive health in the digital age. Lisbon, Portugal.
(Summary of expert panels on digital cognition and public responsibility in emerging cognitive landscapes.)
Yang, X. J., Li, Y. Y., & Zhang, J. (2019). The Flynn Effect in China: A meta-analysis. Intelligence, 74, 1–10.
(Meta-analysis of IQ gains in China; updates suggest stagnation in urban areas by 2024.)
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









