Genozid-Spezialist Professor Omer Bartov zweifelt nicht mehr daran: Der Zerstörungs- und Vertreibungskrieg erfülle die Kriterien.
Urs P. Gasche von der Online-Zeitung INFOsperber
«Ich bin zum unausweichlichen Schluss gekommen, dass Israel Völkermord an den Palästinensern begeht. Da ich in einem zionistischen Elternhaus aufwuchs, die erste Hälfte meines Lebens in Israel verbrachte, als Soldat und Offizier in der israelischen Armee diente und den grössten Teil meiner Karriere mit der Erforschung und Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und dem Holocaust verbrachte, ist dies eine schmerzhafte Erkenntnis, der ich mich so lange wie möglich widersetzt habe.»

In der «New York Times» vom 20. Juli erläuterte Genozid-Spezialist Bartov, warum er zu dieser Erkenntnis gekommen ist.
Anfang 2024 forderte die israelische Armee rund eine Million Palästinenserinnen und Palästinenser auf, bis im Mai Rafah zu verlassen. Sie wurden aufgefordert, ins Strandgebiet von Mawasi zu ziehen, wo es kaum Unterkünfte gab. Rafah war die letzte relativ unbeschädigte Stadt im Süden des Gazastreifens. Nach der erzwungenen Flucht seiner Einwohner zerstörte Israels Armee bis Ende August den größten Teil der Stadt.
Zu jenem Zeitpunkt habe er realisiert, dass die israelische Armee die genozidalen Absichten ausführt, welche israelische Politiker in den Tagen nach dem terroristischen Angriff der Hamas vom 7. Oktober bekundet hatten. Premierminister Benjamin Netanjahu versprach, dass der Feind einen «hohen Preis» für den Angriff zahlen werde und dass die israelische Armee IDF Teile des Gazastreifens, in denen die Hamas operierte, «in Schutt und Asche» legen werde. Er forderte «die Bewohner des Gazastreifens» auf, «jetzt zu gehen, weil wir überall mit aller Härte vorgehen werden». Wohin sie gehen sollen, sagte er nicht.
Regierungs- und Militärvertreter erklärten öffentlich, sie kämpften gegen «menschliche Tiere», und später forderten sie die «vollständige Vernichtung». Nissim Vaturi, der stellvertretende Parlamentspräsident, verbreitete auf X, es sei Israels Aufgabe, «den Gazastreifen von der Landkarte zu tilgen».
Israels Vorgehen habe man nur als Umsetzung der erklärten Absichten verstehen können, den Gazastreifen für dessen palästinensische Bevölkerung unbewohnbar zu machen.
Israel weist alle Vorwürfe von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zurück. Die Zivilbevölkerung werde vor Angriffen rechtzeitig zur Evakuierung aufgefordert. Für die zivilen Opfer sei die Hamas schuld, welche sie als Schutzschilder benutze.
Höchste Zahl amputierter Kinder pro Kopf der Bevölkerung
Omer Bartov kommt zu einem anderen Schluss:
«Die systematische Zerstörung nicht nur von Wohnhäusern, sondern auch anderer Infrastrukturen in Gaza – Regierungsgebäude, Spitäler, Universitäten, Schulen, Moscheen, Kulturerbestätten, Wasseraufbereitungsanlagen, landwirtschaftliche Flächen und Parks hat zum Ziel, ein palästinensisches Leben in Gaza höchst unwahrscheinlich zu machen.
Nach einer aktuellen Untersuchung von Haaretz wurden schätzungsweise 174’000 Gebäude zerstört oder beschädigt, was etwa 70 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen entspricht.
Bisher wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Gaza mehr als 58’000 Menschen getötet, darunter mehr als 17’000 Kinder. Fast ein Drittel aller Opfer sind Kinder und Jugendliche.
Mindestens 10’000 Menschen werden noch unter den Trümmern ihrer Häuser vermutet. Mehr als 138’000 Menschen wurden verletzt und verstümmelt.
Gaza hat nun die traurige Auszeichnung, die höchste Zahl an amputierten Kindern pro Kopf weltweit zu haben.
Eine ganze Generation von Kindern, die anhaltenden militärischen Angriffen, dem Verlust ihrer Eltern und langfristiger Unterernährung ausgesetzt war, wird für den Rest ihres Lebens unter schweren körperlichen und psychischen Folgen leiden. Unzählige weitere Tausende chronisch kranke Menschen hatten und haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung.»
Die israelische Armee kämpfe schon längst nicht mehr gegen organisierte militärische Einheiten der Hamas, auch wenn die geschwächte Gruppe weiterhin gegen die israelischen Streitkräfte kämpfe und die Kontrolle über die Bevölkerung in den Gebieten behalte, die nicht von der israelischen Armee kontrolliert werden. Nach Überzeugung Bartovs ist die Armee heute in erster Linie mit Zerstörungs- und ethnischen Säuberungsaktionen beschäftigt.
Moshe Yaalon, Netanyahus ehemaliger Stabschef und Verteidigungsminister habe diese Absicht der Säuberung im letzten November im israelischen Fernsehsender «Democrat TV» und in anschließenden Artikeln und Interviews klar geäußert.
Jetzt wolle Israel die gesamte Bevölkerung Gazas in einem Viertel des Gazastreifens in drei Zonen konzentrieren: Gaza-Stadt, die zentralen Flüchtlingslager und die Küste von Mawasi am südwestlichen Rand des Gazastreifens. Am 7. Juli 2025 erklärte Verteidigungsminister Israel Katz, auf den Ruinen von Rafah werde die israelische Armee eine «humanitäre Stadt» errichten, um zunächst 600’000 Palästinenser aus dem Gebiet Mawasi aufzunehmen. Sie sollen dann von internationalen Organisationen versorgt werden und das Gebiet nicht verlassen dürfen.
Absicht, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören
Die Uno hat das Verbrechen des Völkermords 1948 definiert als «die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».
Es muss also die Absicht bestehen, eine solche Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Im Falle Israels hätten zahlreiche Beamten und Führer diese Absicht öffentlich zum Ausdruck gebracht. Auch die Art der Kriegsführung lasse auf die Absicht schließen. Seit Mitte 2024 werde immer klarer, dass die israelischen Streitkräfte den Gazastreifen systematisch zerstörten.
Bei anderen Verbrechen gehe es um die wahllose oder vorsätzliche Tötung von Zivilisten. Völkermord dagegen sei das Töten von Menschen als Mitglieder einer Gruppe mit dem Ziel, diese Gruppe als politische, soziale oder kulturelle Einheit dauerhaft zu zerstören, sodass sie sich nie wieder neu bilden kann.
Andere Länder zum Eingreifen verpflichtet
Die Uno-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes verpflichtet alle Unterzeichnerstaaten, Versuche eines Völkermordes zu verhindern und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Versuch zu stoppen. Sie sind zudem verpflichtet, alle zu bestrafen, die sich an diesem größten Verbrechen beteiligten – auch wenn der Völkermord innerhalb der Grenzen eines souveränen Staates begangen wurde.
(Red. Stattdessen sind die USA der mit Abstand größte Waffenlieferant und Deutschland ist der mit Abstand zweitgrößte Waffenlieferant. Die beiden Länder setzen sich dem Vorwurf der Mittäterschaft aus, weil sie ihre Waffenlieferungen nicht einstellen.)
Falls der Internationale Gerichtshof endgültig zum Schluss kommt, dass ein Staat Völkermord begeht, kann der UN-Sicherheitsrat drastische Sanktionen beschließen.
Politiker oder Generäle, die vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermordes oder anderer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht angeklagt oder für schuldig befunden werden, können außerhalb ihres Landes verhaftet werden.
Ethnische Säuberung oder Völkermord
Manche würden Israels Politik nicht Völkermord nennen, sondern ethnische Säuberung. Doch wenn eine ethnische Gruppe nirgendwo hingehen könne und ständig von einer sogenannten Sicherheitszone in die nächste vertrieben, unerbittlich bombardiert und ausgehungert werde, entstehe aus einer ethnischen Säuberung rasch ein Völkermord. Dies sei der Fall gewesen bei mehreren bekannten Völkermorden des 20. Jahrhunderts, wie dem an den Herero und Nama ab 1904 im heutigen Namibia, dem Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und sogar dem Holocaust, der mit dem Versuch der Deutschen begonnen habe, die Juden zu vertreiben, und dann mit ihrer Ermordung endete.
Die meisten Forscher, die sich mit Völkermorden befassen und diese miteinander vergleichen, würden sich immer mehr dem Konsens nähern, die Ereignisse in Gaza als Völkermord einzustufen, sagt Bartov.
Im November 2024 schloss sich der israelische Völkermordforscher Shmuel Lederman der wachsenden Meinung an, dass Israel Völkermord begehe. Der kanadische Völkerrechtler William Schabas kam zum gleichen Schluss und bezeichnete Israels Militäraktion in Gaza kürzlich als «absoluten» Völkermord.
Andere Völkermord-Experten, wie Melanie O’Brien, Präsidentin der International Association of Genocide Scholars, und der britische Spezialist Martin Shaw sind zum gleichen Schluss gekommen.
Uğur Ümit Üngör, Professor am NIOD-Institut für Kriegs-, Holocaust- und Völkermordstudien in Amsterdam, meinte, dass es wahrscheinlich Wissenschaftler gebe, die noch immer nicht von Völkermord reden, aber «ich kenne sie nicht».
Anders die speziell auf den Holocaust ausgerichteten Wissenschaftler. Die meisten von ihnen würden zumindest öffentlich nicht von einem Völkermord in Gaza reden. Ausnahmen seien der Israeli Raz Segal, Programmdirektor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Stockton University in New Jersey, und die Historiker Amos Goldberg und Daniel Blatman von der Hebräischen Universität Jerusalem.
Doch viele andere Holocaust-Spezialisten würden die Verbrechen Israels in Gaza leugnen und ihre kritischeren Kollegen der Hetze, der maßlosen Übertreibung, des Rufmords und des Antisemitismus bezichtigen. Konkret: Wer Bilder zeigt von palästinensischen Kindern, die von Bomben zerfetzt wurden, ist aus deren Sicht ein Antisemit.
Omer Bartov hält es für äußerst problematisch, dass Genozid-Forschern vorgeworfen werde, sie seien antisemitisch: Wenn der Staat Israel und seine Verteidiger die Verbrechen der israelischen Streitkräfte so hartnäckig mit dem Verweis auf den Holocaust unter den Tisch kehren, werde es nach dem Völkermord in Gaza nicht mehr möglich sein, den Holocaust so zu lehren und zu erforschen wie bisher, befürchtet Bartov.
Das Schweigen zum Völkermord in Gaza mache den Slogan «Nie wieder» zu einer Farce: «Während Israel buchstäblich versucht, die Existenz der Palästinenser in Gaza auszulöschen und zunehmend Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland ausübt, schwindet das moralische und historische Kapital, auf das sich der jüdische Staat bisher stützen konnte.»
Die israelische Bevölkerung werde durch die Selbstzensur ihrer eigenen Medien (und durch das Verbot des Senders Al Jazeera) abgeschirmt. Doch die täglichen Schreckensszenen in Gaza würden die israelische Propaganda, es handle sich um einen Verteidigungskrieg gegen einen naziähnlichen Feind, als Lüge entlarven.
Schockierender Beweis der israelischen Politik der Aushungerung in Gaza. Aktueller Bericht von «Al-Jazeera»:
Schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts sind schon seit Monaten bekannt:
Von einem palästinenschen Journalisten vor zwei Monaten gefilmt.









