Angesichts der Kriege in der Ukraine, im Jemen, in Somalia und anderswo, der Aufhebung des Urteils in der Rechtssache Roe v. Wade und der Verschwendung unserer Ressourcen für den Militarismus statt für die Bewältigung der Klimakrise kann es schwer sein, sich an die hart erkämpften Fortschritte zu erinnern. Am Ende eines schwierigen Jahres sollten wir innehalten und uns an einige der positiven Veränderungen im Jahr 2022 erinnern, die uns dazu anspornen sollten, im kommenden Jahr mehr zu tun. Auch wenn es sich bei einigen nur um Teilerfolge handelt, so sind sie doch alle Schritte auf dem Weg zu einer gerechteren, friedlicheren und nachhaltigeren Welt.

Von Medea Benjamin

1. Das Wachstum der „Rosa Flut“ in Lateinamerika.

Nach der Welle fortschrittlicher Wahlsiege im Jahr 2021 gab es in Lateinamerika zwei weitere wichtige Wahlsiege: Gustavo Petro in Kolumbien und Luiz Inacio Lula da Silva in Brasilien. Als Präsident Biden im Juni Kuba, Nicaragua und Venezuela vom Amerika-Gipfel ausschloss, lehnten mehrere lateinamerikanische Staats- und Regierungschef:innen die Teilnahme ab, während andere die Gelegenheit nutzten, um die Vereinigten Staaten zu drängen, die Souveränität der Länder der Region zu respektieren.

2. Die US-amerikanische Arbeiterbewegung hat Feuer gefangen.

Im Jahr 2022 wurden wir Zeug:innen der brillanten Organisierung von Chris Smalls und den Amazon-Arbeitern, Starbucks erreichte fast 7.000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen und fast 300 gewerkschaftlich organisierte Geschäfte. Die Anträge auf Durchführung von Gewerkschaftswahlen bei der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde sind in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 um 58 % gestiegen.  Die Arbeiterschaft ist zurück und kämpft den guten Kampf.

3. Trotz der Angriffe auf unsere Wahlen haben die Menschen zurückgeschlagen und einige bemerkenswerte Siege errungen.

Die Wähler:innen haben in Bezirken im ganzen Land, darunter in Texas, Illinois, Michigan, Florida, Hawaii, Kalifornien, Pennsylvania und Vermont, Siege für die Progressiven errungen, und die Demokraten haben die Kontrolle über den Senat behalten. Junge Menschen gingen in Rekordzahl an die Urnen – jede:r achte Wähler:in bei den Zwischenwahlen war unter 30 Jahre alt. Die Abtreibungsbefürworter:innen gewannen in den Staaten, in denen sie auf dem Stimmzettel standen (Kalifornien, Michigan und Vermont), und im „roten“ Bundesstaat Kentucky lehnten die Wähler:innen eine vorgeschlagene Verfassungsänderung ab, die besagt, dass es kein verfassungsmäßiges Recht auf eine Abtreibung gibt. Ein weiteres Plus: Alle Wahlleugner:innen, die für die Überwachung der staatlichen Wahlen kandidieren, haben verloren.

4. In Äthiopien kehrt Frieden ein.

Nach einem verheerenden zweijährigen Bürgerkrieg mit Hunderttausenden von Toten und Millionen von Vertriebenen, die vom Hungertod bedroht waren, unterzeichneten die äthiopische Bundesregierung und die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) am 2. November 2022 einen Friedensvertrag. Das überraschende Abkommen war das Ergebnis von Friedensgesprächen, die von der Afrikanischen Union einberufen worden waren. Bisher wurden die Kämpfe eingestellt, und beide Parteien versprachen, dass sie entschlossen seien, den Frieden dauerhaft zu sichern.

5. Die Mainstream-Medien haben sich endlich für Julian Assange eingesetzt, da seine internationale Unterstützung wächst.

Die „New York Times“, der „Guardian“, „Le Monde“, „El País“ und „Der Spiegel“ – die Medien, die vor 12 Jahren die Enthüllungen von WikiLeaks veröffentlichten – forderten schließlich Präsident Biden auf, Assange freizulassen. Auch der australische Premierminister Anthony Albanese (Assange ist australischer Staatsbürger) erklärte schließlich, er habe die US-Regierung persönlich aufgefordert, die Verfolgung von Assange zu beenden. Noch enthusiastischer war die Unterstützung in Lateinamerika, wo der kolumbianische Präsident Gustavo Petro, der mexikanische Präsident Lopez Obrador, der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega, der venezolanische Präsident Nicolás Maduro und der designierte brasilianische Präsident Lula da Silva seine Freilassung forderten.

6. Die Stimmen der indigenen Völker und des Globalen Südens wurden auf dem größten Klimagipfel, der COP27, endlich gehört.

Dank der unermüdlichen Arbeit von indigenen Völkern und Organisatoren aus dem Globalen Süden konnten marginalisierte Gemeinschaften dieses Jahr nicht nur an der COP27 teilnehmen, sondern ihre Stimmen wurden auch endlich gehört, und es wurde ein historischer Fonds für Verluste und Schäden eingerichtet, der gefährdeten Ländern helfen soll, die zerstörerischen Auswirkungen des Klimawandels zu bewältigen. Dies ist ein wichtiger Erfolg für die Zivilgesellschaft und das kollektive Handeln im globalen Süden, auf den wir fast drei Jahrzehnte hingearbeitet haben. Jetzt müssen wir die wohlhabenderen Länder dazu drängen, die Mittel zur Verfügung zu stellen und den Übergang zu sauberer Energie endlich ernsthaft in Angriff zu nehmen, bevor es zu spät ist, um eine globale Katastrophe zu verhindern.

7. Rund 200 Länder (ohne die USA und den Vatikan) verpflichten sich, dem weltweiten Naturverlust Einhalt zu gebieten.

Bei einem weiteren wichtigen Umwelttreffen, dem COP15-Gipfel zur biologischen Vielfalt in Kanada, wurde eine wegweisende Vereinbarung getroffen, die vorsieht, bis zum Jahr 2030 fast ein Drittel des Landes und der Ozeane der Erde als Zufluchtsort für die verbleibenden wilden Pflanzen und Tiere des Planeten zu schützen – „30 by 30“. Diese Vereinbarung ist von entscheidender Bedeutung, um den massiven Verlust der Artenvielfalt einzudämmen – etwa eine Million Arten sind in Gefahr, für immer zu verschwinden. Es bedarf jedoch eines ständigen Drucks von der Basis und erheblicher Mittel seitens der wohlhabenderen Länder, um dieses „30 by 30“-Ziel in die Praxis umzusetzen.

8. Die Verabschiedung des Respect for Marriage Act.

Der Oberste Gerichtshof der USA hat 2015 die gleichgeschlechtliche Ehe landesweit legalisiert, aber die Entscheidung des Gerichts vom Juni, mit der das Recht auf Abtreibung auf Bundesebene aufgehoben wurde, hat Bedenken geweckt, dass der Schutz der gleichgeschlechtlichen Ehe auf Bundesebene in Gefahr sein könnte. Das Gesetz zur Achtung der Ehe (Respect for Marriage Act) wurde verabschiedet, um dem entgegenzuwirken, indem es die bundesweite Anerkennung jeder Ehe zwischen zwei Personen garantiert, wenn die Verbindung in dem Staat, in dem sie geschlossen wurde, gültig war. Es zwingt die Bundesstaaten nicht dazu, gleichgeschlechtlichen Paaren eine Heiratslizenz auszustellen, falls der Oberste Gerichtshof die landesweite Gleichstellung der Ehe kippen sollte, aber es garantiert allen gleichgeschlechtlichen Paaren die Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig davon, in welchem Bundesstaat sie geheiratet haben. Es schützt auch Ehen zwischen Ethnien.

9. Die Fußballweltmeisterschaft hat Palästina ins Rampenlicht gerückt.

Die Fußballweltmeisterschaft war ein spektakuläres Ereignis, das ein Gefühl der weltweiten Solidarität und Freude auslöste, wobei der Sieg Argentiniens ganz Lateinamerika aufmunterte. Doch die Fans, vor allem aus muslimischen und arabischen Ländern, rückten einen anderen Ort auf der Welt in den Mittelpunkt: Palästina. Überall tauchten palästinensische Flaggen und Sprechchöre auf – auf dem Spielfeld, auf den Tribünen, auf den Straßen, während Videos, die zeigen, wie israelische Journalist:innen ausgeschlossen werden, viral gingen. Zumindest für den Monat dieser Spiele ging der Ruf nach „Free Palestine“ um die Welt.

10. Eine multipolare Welt ist da.

Chinas enorm ehrgeizige „Neue Seidenstraße“ umfasst inzwischen über 80 Länder. Und da die USA ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, indem sie extraterritoriale Sanktionen gegen Länder auf der ganzen Welt verhängen, ist der Druck nach Alternativen zum Dollar explodiert. Mehr als ein Dutzend Länder haben den Beitritt zu BRICS (dem Bündnis der mächtigen Volkswirtschaften Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrikas) beantragt, deren Länder 40 Prozent der Weltbevölkerung und 25 Prozent des weltweiten BIP ausmachen. Die BRICS-Mitglieder wickeln ihren bilateralen Handel bereits in Landeswährungen ab. Und in Lateinamerika und Afrika sind neue oder verstärkte Bewegungen der Blockfreien entstanden. Eine multipolare Welt ist für einen Großteil der Welt bereits Realität, und das ist für die Menschen überall besser – auch für die Amerikaner – als eine Welt, in der die USA weiterhin mit Krieg, Militarismus und finanziellen Zwangsmaßnahmen versuchen, ihren unipolaren Zustand nach dem Kalten Krieg in unser neues Jahrhundert hinein zu verlängern.

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Vielleicht sollten wir im Jahr 2022 am meisten dafür dankbar sein, dass wir noch am Leben sind, auch wenn der Konflikt in der Ukraine die USA und Russland an den Rand eines Atomkriegs gebracht hat. Die Zivilist:innen in der Ukraine, die Soldat:innen auf beiden Seiten und Menschen auf der ganzen Welt leiden unter diesem brutalen Konflikt, der – wie Präsident Biden sagte – die Welt in die Gefahr eines nuklearen Armageddon bringt. Wo Leben ist, gibt es auch Hoffnung, aber wenn wir hoffen, dass wir 2023 wieder ein Weihnachtsfest feiern können, sollten wir besser einen Weg finden, um alle Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Möge im Jahr 2023 der Frieden siegen!

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!