Münchner Sicherheitskonferenz startet bundesweite Akzeptanzkampagne für die Außen- und Militärpolitik Berlins. Hintergrund: rasant steigende Kriegsgefahr und drohende Verarmung.

Mit einer neuen bundesweiten Kampagne wirbt die Münchner Sicherheitskonferenz um Akzeptanz für die aktuelle, brandgefährliche Außen- und Militärpolitik der Bundesregierung. Die Kampagne knüpft an die „Zeitenwende“ an, die Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar ausgerufen hat; unter dem Motto „Zeitenwende on tour“ macht sie sich für schnelle Militarisierung und eine internationale Führungsrolle Berlins stark. Unter der Prämisse, der Bevölkerung in schwierigen Zeiten „Orientierung“ bieten zu wollen, setzen sich Minister, ehemalige Regierungsmitarbeiter und ausgewählte Abgeordnete aus Bundestag und Europaparlament dafür ein, hinter der Bundesregierung die Reihen zu schließen. Zielgruppe sind einerseits Schüler und junge Erwachsene, andererseits vor allem Multiplikatoren; als Kampagnenelement genannt werden etwa „Redaktionsgespräche“. Die Organisatoren planen Veranstaltungen in sämtlichen Bundesländern, in strategisch wichtigen Betrieben und auf der Frankfurter Buchmesse. Hintergrund sind die rasant zunehmende Kriegsgefahr und die drohende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, die breite Proteste und wachsenden Widerstand möglich erscheinen lassen.

„Zwischen Frieden und Krieg“

Ausgangspunkt für die „Zeitenwende on tour“ ist die „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar, drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, ausgerufen hat: ein dramatischer Umschwung in der Berliner Außen- und Militärpolitik, der nicht zuletzt eine gewaltige Welle der Militarisierung und eine neue Bereitschaft zum Krieg umfasst. Inzwischen ist ein Zustand erreicht, der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unlängst zu der Äußerung motivierte: „Wir sind im Krieg mit Putin.“ Lauterbach stellte wenig später klar, offiziell sei Deutschland „natürlich keine Kriegspartei“.[1] Dabei ist das längst nicht mehr gewiss: Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte im März geurteilt, wenn die Bundesrepublik ukrainische Soldaten ausbilde, „würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“. Die Bundeswehr trainiert inzwischen ukrainische Militärs und wird das im Rahmen des kurz bevorstehenden EU-Ausbildungseinsatzes intensivieren.[2] Bei einem Besuch von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in Litauen forderte ihr Amtskollege Arvydas Anušauskas am Samstag: „Wir müssen beginnen, so zu denken, als ob wir selbst im Kriegszustand wären“.[3] Am Sonntag beschrieb General Carsten Breuer, der Kommandeur des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr, man befinde sich derzeit „zwischen nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht richtig Krieg“.[4]

Im Wirtschaftskrieg

Hinzu kommt, dass der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen Russland entfesselt hat, dramatische Folgen auch für die Bundesrepublik mit sich bringt. „Gegen Russland führen wir einen Wirtschaftskrieg, umfassend, strategisch, feindselig“, konstatierte kürzlich Hans-Jürgen Wolff, einst Mitarbeiter der Wirtschaftsabteilung im Bundeskanzleramt, später Chef des Bundespräsidialamts unter Horst Köhler. Wolff ist Koautor einer kürzlich publizierten Studie über Geschichte und Gegenwart von Wirtschaftskriegen.[5] Der aktuelle Wirtschaftskrieg ruft Kollateralschäden im eigenen Land hervor. So geht beispielsweise der astronomische Anstieg der Energiepreise auch auf die Bemühungen Deutschlands und der EU zurück, auf Öl und Gas aus Russland vollständig zu verzichten. Die krass in die Höhe schnellenden Kosten für Privathaushalte führen bereits jetzt zu ersten Protesten. Hinzu kommt, dass auch die Industrie insbesondere unter den Erdgaspreisen leidet und erste Fabriken, so etwa Stahlwerke von ArcelorMittal oder auch Werke des Düngemittelherstellers SKW Piesteritz, zeitweise schließen mussten, weil ihre erdgasintensive Produktion nicht mehr rentabel zu realisieren war. Manche Unternehmer ziehen mittlerweile die Abwanderung aus Deutschland in Betracht – etwa, da dort die Energiekosten erheblich niedriger sind, in die USA.[6]

„Zeitenwende on tour“

In dieser äußerst heiklen, protestanfälligen Lage startet die Münchner Sicherheitsonferenz (Munich Security Conference, MSC), die sich in den vergangenen Jahren vom Veranstalter einer süddeutschen Wehrkundetagung zu einer Art international auftretendem Think-Tank gemausert hat, ihr neues Projekt „Zeitenwende on tour“. „Die deutsche Außen-, Sicherheits- und Europapolitik“ müsse sich „jetzt verändern“, erläutert die MSC; damit aber „diese Veränderungen gelingen“, sei – begleitend und einbindend – „eine breite gesellschaftliche Debatte“ notwendig. „Die Bürgerinnen und Bürger“ hätten „ernste Fragen“, heißt es bei der MSC: „Sie suchen nach vertrauenswürdigen Informationen und nach Orientierung.“[7] Um „Orientierung“ zu geben, habe man jetzt eigens eine „Kampagne“ gestartet – und zwar „Zeitenwende on tour“. Im Kontext der „Kampagne“ würden „Fakten und Zusammenhänge dargestellt“ sowie „die drängenden Fragen der Bürgerinnen und Bürger beantwortet“ – in „unterhaltsamen und interaktiven Formaten“.

„Die Bürger sensibilisieren“

Die Inhalte der neuen Kampagne lässt ein kurzes Video erkennen, das die Regionalzeitung Rheinische Post von der ersten „Townhall-Veranstaltung“ der „Zeitenwende on tour“ am 23. September in Neuss bei Düsseldorf publiziert hat. Der Chefredakteur des Blattes, Moritz Döbler, erklärt dazu: „In diesen Zeiten erwarten die Menschen von uns, also der Rheinischen Post, Orientierung“.[8] Veronika Grimm, derzeit eine der „fünf Wirtschaftsweisen“, äußert, man müsse nicht bloß „die Energiesicherheit“ in Deutschland wiederherstellen, sondern auch „Verteidigungsfähigkeit neu denken“; „im Bereich Verteidigungsfähigkeit“ etwa müsse „einiges schneller gehen“, und es gelte deshalb nun, „die Bürgerinnen und Bürger dafür zu sensibilisieren“. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen wird mit der Auffassung zitiert: „Es kommt sehr stark auf Deutschland an“, während die Grünen-Europaabgeordnete Terry Reintke erklärt, es sei „wichtig, auch mit Bürgerinnen in Kontakt zu treten und darüber zu sprechen, was wir tun müssen“. Dem Publikum eine erheblich stärkere Gewichtung alles Militärischen sowie eine deutsche Führungsrolle zu vermitteln bildet demnach einen Schwerpunkt der Kampagne. Auf der Auftaktveranstaltung vor gut 200 Schülern und jungen Erwachsenen ebenfalls am 23. September in Bonn warb Verteidigungsministerin Christine Lambrecht unter anderem für die massive aktuelle Aufrüstung der Bundeswehr.[9]

Schulbesuche und Redaktionsgespräche

Im Rahmen von „Zeitenwende on tour“ sollen nun im Verlauf der nächsten zwölf Monate Veranstaltungen in allen 16 Bundesländern durchgeführt werden. Regelmäßig auftreten wird, soweit bislang bekannt, Christoph Heusgen, Leiter der MSC, von 2005 bis 2017 außen- und sicherheitspolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel, von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen. Die Veranstaltungen werden stets „mit in der jeweiligen Region stark verankerten Partnern“ durchgeführt [10]; dazu zählen offenbar die Rheinische Post sowie, bei der Auftaktveranstaltung, der Bonner General-Anzeiger. Eingebunden werden sollen offenbar nicht zuletzt Multiplikatoren; so kündigt die MSC neben „Schulbesuchen“ ausdrücklich etwa „Redaktionsgespräche“ an.[11] Auch zu Mitarbeitern strategisch wichtiger Betriebe sucht „Zeitenwende on tour“ den Kontakt; gleich zu Beginn, schon am 23. September, gab es eine Veranstaltung im Regionalzentrum Neuss der Westnetz GmbH mit rund 60 Mitarbeitern des Unternehmens. Westnetz in Neuss betreibt rund 10.000 Kilometer Stromnetze in Nordrhein-Westfalen.[12] Hauptredner bei der Veranstaltung war Nico Lange, ein früherer Leitungsstableiter im Verteidigungsministerium. Die Kampagne „Zeitenwende on tour“ wird ausdrücklich gefördert vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.


Mehr zum Thema: Zwischen Frieden und Krieg.

[1] „Nicht im Krieg“ – Lauterbach rudert zurück. zdf.de 04.10.2022.

[2] S. dazu Zwischen Frieden und Krieg.

[3] Lambrecht sichert Litauen Beistand im Kriegsfall zu. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.10.2022.

[4] General Breuer warnt vor mehr Anschlägen. tagesschau.de 09.10.2022.

[5] „Wir müssen jetzt, wo nötig, die Ellenbogen ausfahren“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.08.2022.

[6] S. dazu „Doppelwumms“ mit Folgen.

[7] Zeitenwende on tour. securityconference.org.

[8] „Zeitenwende on tour” in Neuss. rp-online.de 24.09.2022.

[9] Zeitenwende: Verteidigungsministerin Lambrecht im Gespräch mit jungen Menschen. bmvg.de 23.09.2022.

[10] Zeitenwende on tour. securityconference.org.

[11] Zeitenwende on tour. Faltblatt. securityconference.org.

[12] „Zeitenwende on Tour“: Top-Experte tauschte mit Westnetz-Mitarbeitenden aus. lokalklick.eu 25.09.2022.

Der Originalartikel kann hier besucht werden