Das Berliner Aktionsbündnis fair share! lädt am Weltfrauentag 2022 zu einer symbolischen Aktion an der Neuen Nationalgalerie ein. 110 Künstlerinnen und Kulturschaffende werden das Museum in einer Performance umschreiten und Künstlerinnen der Klassischen Moderne repräsentieren.

Die Aktion/Performance

In jedem Fenster eine Frau: 110 Künstlerinnen und Kulturschaffende werden die Neue Nationalgalerie in einer 40 minütigen Performance umschreiten. Auf ihren T-Shirts tragen sie den Namen einer Künstlerin der Klassischen Moderne, die im Schaubestand des Hauses vertreten sein könnte, wenn ihre Werke gesammelt worden wären. Jede Teilnehmerin wird am Tag der Performance zur Expertin „ihrer“ Künstlerin. Die Besucher*innen können sich im Anschluss an die Performance an die Teilnehmerinnen wenden und sie zu Leben und Werk befragen. So entsteht ein  Informationspool, der viele noch unentdeckte, lange vergessene und stark unterrepräsentierte Künstlerinnen sichtbar macht.

In dem berühmten Bau von Mies van der Rohe wird im Untergeschoss die Sammlung der Moderne der Staatlichen Museen zu Berlin präsentiert. Aktuell sind dort 16,7 % Künstlerinnen vertreten, darunter Hannah Höch, Natalja Gontscharowa, Lotte Laserstein, Lou Loeber, Marg Moll und weitere 17 Künstlerinnen des Expressionismus, Surrealismus, Konstruktivismus und Dadaismus. Bereits im Vorfeld der Eröffnung hat das Aktionsbündnis fair share! in einer spontanen nächtlichen Kunstaktion mehr Präsenz von Künstlerinnen in der ständigen Sammlung angemahnt und 800 Namen von Künstlerinnen an den Bauzaun geheftet. Gegenwärtig werden 22 Künstlerinnen gegenüber 110 Künstlern gezeigt, von den insgesamt 250 ausgestellten Werken wurden 14 % von Künstlerinnen geschaffen.

fair share! Sichtbarkeit für Künstlerinnen

Auch wenn im Kunstbetrieb an vielen Stellen das Problem der fehlenden Geschlechtergerechtigkeit inzwischen wahrgenommen wird, lassen nachhaltige Veränderungen auf sich warten. Studien wie jene des Deutschen Kulturrats (2016/2020) und des Instituts für Strategieentwicklung (2018) sowie Statistiken des bbk berlin mit Unterstützung der Künstlersozialkasse zeigen einen Gender Gap von fast 33 % mit steigender Tendenz während der Pandemie. Entscheider*innen des Kulturbetriebs müssen Mechanismen finden, um eine Veränderung des Status Quo zu beschleunigen.

Knapp 60 % der Absolvent*innen von Kunsthochschulen sind heute weiblich. Einzelausstellungen von zeitgenössischen Künstlerinnen in den Programmen fast aller großen Institutionen des Landes Berlin machen jedoch nicht einmal ein Drittel aus. Vergleichbar ist es um die Präsenz zeitgenössischer Künstlerinnen in Sammlungen des Bundes bestellt.

In europäischen und nordamerikanischen Museumssammlungen liegt derzeit der Anteil von Werken von Frauen aller Epochen bei etwa 5%, wie das National Museum of Women in the Arts, Washington DC, untersucht hat.1 Dass Frauen aber zu jeder Zeit als Künstlerinnen aktiv waren und ein eigenständiges Oeuvre geschaffen haben, zeigen internationale Initiativen wie die gemeinnützige Organisation Archives of Women Artists, Reserach and Exhibitions (AWARE), sowie viel beachtete Retrospektiven insbesondere in den Metropolen London, New York, Paris und Amsterdam. Sammlungsneupräsentationen, die klassische Hierarchien und Spartendenken, den eurozentrierten traditionellen Kanon und männliche Dominanz zugunsten von Parität und Diversität aufhoben, ernten weltweit positive Resonanz.

In Berlin und Deutschland steht die umfassende „Revision einer Sehschwäche“ – so der Titel einer Ausstellung im Märkischen Museum Witten – noch aus. Ein Umdenken und Handeln ist hier von hoher Dringlichkeit, wenn beispielsweise der 300. Geburtstags der in ihrer Zeit überaus erfolgreichen Malerin Anna Dorothea Therbusch 2021 in einer „fokussierten Jubiläumsschau“ der Berliner Gemäldegalerie mit nur 12 Werken aus dem eigenen Museumsbestand begangen wird – obwohl ein Verzeichnis von über 250 Werken vorliegt und viele der Bilder in deutschen Museen lagern. Auch im zeitgenössischen Bereich sollte es Ausstellungen wie NOTHINGTOSEENESS in der Akademie der Künste Berlin Ende letzten Jahres mit lediglich 16 Künstlerinnen gegenüber 59 Künstlern nicht mehr geben.

fair share! und alle Verbündeten blicken gespannt auf die Arbeit der Berlinischen Galerie mit dem dort neu angekommenen Archiv des Verborgenen Museums, auf die neue Kuratorin in der Akademie der Künste sowie auf die angekündigten Ausstellungen von Künstlerinnen in der Neuen Nationalgalerie. Auch den Bau und die Ausstattung des benachbarten Museums des 20. Jahrhunderts werden wir kritisch verfolgen.

Wir fordern weiterhin:

  • eine Anerkennung der Leistungen von Künstlerinnen aller Jahrhunderte bis heute
  • die gendergerechte Gestaltung von Ankäufen und Ausstellungstätigkeiten
  • eine Steigerung der Werkpräsenz weiblicher Autorenschaft in Schausammlungen und Ausstellungen – im zeitgenössischen Bereich auf 50 %
  • eine Förderung von Forschungsprojekten und Publikationen zu Künstlerinnen
  • die Aufarbeitung und Neuschreibung kunsthistorischer Publikationen und Lehrbücher der Vergangenheit
  • das Etablieren und Fortschreiben einer bundesweiten Künstlerinnen-Datenbank im Ressort der Staatsministerin für Kultur und Medien
  • eine Einführung von deutlich mehr und gezielten Förderungen und Preisen für Künstlerinnen aller Altersstufen
  • die Abschaffung von Altersbeschränkungen bei Ausschreibungen
  • Förderprogramme für Künstler*innen mit Erziehungs- und Care-Aufgaben, sowie die Entwicklung von Förderprogrammen zur gezielten Unterstützung des Wiedereinstiegs nach familienbedingter Auszeit

[1] Susanne Radelhof, Regisseurin der Arte-Sendung „Lost Women Art, 2021”, Interview SWR 2, 09.06.2021