EU-Kommission kündigt drastische Reduzierung von Erdgasimporten aus Russland an. Denkfabrik fordert Verringerung weiterer Rohstoffimporte. Medien diskutieren über grüne „Kriegswirtschaft“.

Die EU-Kommission kündigt die Reduzierung von Erdgasimporten aus Russland binnen eines Jahres um zwei Drittel und vollständig bis 2030 an. Wie die Kommission am Dienstag mitteilte, soll stattdessen Flüssiggas etwa aus Qatar und den Vereinigten Staaten eingeführt werden; darüber hinaus sind Energiesparmaßnahmen und ein rascherer Ausbau der erneuerbaren Energien geplant. Die Maßnahmen entsprechen in hohem Maß Vorschlägen, wie sie zu Monatsbeginn der European Council on Foreign Relations (ECFR) vorgelegt hat, eine europaweit organisierte Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin. Der ECFR schlägt ausdrücklich vor, auf eine „grüne strategische Autonomie“ hinzuarbeiten, also die Abhängigkeit vom Import nicht nur von Energieträgern, sondern auch von anderen Rohstoffen so weit wie möglich zu senken. Auch die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus „instabilen Ländern“ soll vermieden werden. In Medien wird bereits spekuliert, der radikale Umbau der EU-Energiewirtschaft, der notwendig sei, könne nur im Rahmen einer grünen „Kriegswirtschaft“ realisiert werden; die Chance dazu biete der aktuelle russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Eingeschränkte Optionen

In Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine hat der European Council on Foreign Relations (ECFR) schon in der vergangenen Woche den raschen Aufbau einer „strategischen grünen Autonomie“ auf dem Energie- und Rohstoffsektor der EU gefordert.[1] Konkret plädierte der ECFR dafür, die EU solle möglichst rasch ihre Anstrengungen intensivieren, „die Abhängigkeit von Energieimporten und entscheidenden Rohstoffen“ zu minimieren. Das sei notwendig, um ihre wirtschaftliche und politische Souveränität „in einer zunehmend gefährlichen Welt“ zu wahren. Bislang sei das „Fit for 55“ genannte Klimaprogramm der EU-Kommission, in dessen Rahmen die „langfristige Klima- und Energiepolitik“ der Union konzipiert wurde, durch eine „exzessive Polarisierung“ bezüglich der künftigen Energiepreise in Europa überschattet worden, monierte der ECFR. Doch nun führe Russlands Krieg gegen die Ukraine den „Preis der politischen Untätigkeit“ deutlich vor Augen: Die „außen- und sicherheitspolitischen Optionen“ der Union gegenüber Moskau seien im gegenwärtigen Krieg durch die „Energieabhängigkeit“ von Russland eingeschränkt. Deshalb sei es „überfällig“, die „grüne strategische Autonomie“ zu etablieren.

Wachsende Abhängigkeit

Laut dem ECFR ist die Energieabhängigkeit der EU in den vergangenen Jahrzehnten, in denen die Union es versäumte, „den Energiesektor und die Schwerindustrie fundamental umzubauen“, weiter gestiegen. 2019 mussten demnach rund 61 Prozent des EU-Energiebedarfs durch Importe gedeckt werden – ein Anstieg um fünf Prozent gegenüber 2000. Verschlimmert worden sei die Abhängigkeit durch den Umstand, dass die EU-Energieimporte zum großen Teil aus einer Handvoll „autoritärer Länder“ erfolgten, erklärt der ECFR. So seien 2019 allein Russland, Saudi Arabien und Kasachstan für 42 Prozent der EU-Rohölimporte verantwortlich gewesen; bei Kohle seien im selben Zeitraum nahezu 50 Prozent aus Russland eingeführt worden. Überdies müsse die EU rasch ihrer potenziellen Importabhängigkeit bei vielen weiteren Rohstoffen entgegenwirken. So sei sie abhängig von externen Quellen bei Rohstoffen, die in der Industriefertigung und in der alltäglichen Konsumption unabdingbar seinen, etwa bei Düngemitteln, die zu mehr als 50 Prozent von Lieferungen aus Russland, Belarus und Marokko abhingen. Zahlreiche Rohstoffe, die die Rüstungsbranche benötige, kämen überdies aus China. Die zunehmende Knappheit dieser Ressourcen stelle wohl „den größten Konflikttreiber in den kommenden Dekaden“ dar, urteilt der ECFR, der darauf hinweist, dass sich die globale Ressourcenextraktion Prognosen zufolge bis 2060 von derzeit 79 auf 167 Gigatonnen mehr als verdoppeln werde.

Konzentration auf „Nachfrageseite“

Folglich gebe es zu einer raschen Transformation des EU-Energiesektors keine Alternative, erklärt der ECFR. Die Erschließung alternativer fossiler Energielieferanten wie Aserbaidschan oder Qatar stelle höchstens eine „Übergangsmaßnahme“ dar, die die Energieabhängigkeit der EU zu verlängern drohe. Generell müsse man die Rolle von Erdgas als „Transformationsbrennstoff“ grundlegend überdenken. Stattdessen müsse man sich auf die „Nachfrageseite“ konzentrieren und durch beschleunigte Investitionen in Gebäudeisolierung und in die Elektrifizierung von Heizungen, Warmwasseranlagen und Kochherden die Abhängigkeit von Öl und Gas rasch reduzieren. Stattdessen solle die EU auf Solarthermie und hybride Systeme wie Hauswärmepumpen setzen. Als Sofortmaßnahme empfiehlt der ECFR eine Solidaritätskampagne mit der Ukraine, die EU-Bürger zum konsequenten Energiesparen aufruft. Die Union müsse auch unverzüglich dazu übergehen, eine „gemeinsame Energie- und Sicherheitspolitik“ zu formulieren, die auf dem Konzept der „grünen strategischen Autonomie“ basiere und es anstrebe, die „Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen“ durch „ambitionierte Effizienzziele“ zu reduzieren – etwa durch die Implementierung von Kreislaufwirtschaftssystemen mit hohen Recyclingraten. Durch zusätzliche Investitionsfonds, die neue Technologien zur effizienten Ressourcenverwendung förderten, sollten überdies die Risiken von Ressourcenkonflikten und und „Schocks bei der Nahrungsversorgung“ der EU minimiert werden. Die Union müsse durch eine ökologischen Anpassung ihrer Agrarpolitik „sicherstellen“, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht mehr von Ressourcen aus „instabilen Ländern“ abhängig sei.

Erdgasimporte aus Russland reduzieren

Die Forderungen des ECFR weisen eine weitgehende Übereinstimmung mit einschlägigen aktuellen Planungen der EU-Kommission auf, die in Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine die Energiewende beschleunigen will. Dabei sollen insbesondere die russischen Erdgasimporte binnen eines Jahres um zwei Drittel reduziert werden; bis spätestens 2030 ist das komplette Ende des Bezugs geplant.[2] Neben der Erschließung neuer Erdgasquellen will Brüssel den Ausbau regenerativer Energien forcieren und durch Sparmaßnahmen den Energieverbrauch deutlich senken. Es sei an der Zeit, „dass wir unsere Schwachstellen angehen und bei der Wahl unserer Energie schnell unabhängiger werden“, wird EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans zitiert. Kurzfristig soll russisches Erdgas durch verstärkte Lieferungen verflüssigten Erdgases aus Qatar, den USA und Ägypten ersetzt werden. Künftig müssen zudem alle Erdgasspeicher in der EU jeweils im Oktober zu 90 Prozent gefüllt sein; derzeit liegt der Füllstand bei nur 30 Prozent.[3] Zwar reichten die Reserven für die aktuelle Kaltwetterperiode, heißt es; für den kommenden Winter sehe „die Situation aber anders aus“. Dabei ist insbesondere die Bundesrepublik stark von den fossilen russischen Energieträger abhängig: Rund 55 Prozent der deutschen Erdgasimporte kamen zuletzt aus der Russischen Föderation. Dies ist der Grund dafür, dass Bundeskanzler Olaf Scholz einem generellen Importverbot für russische Energieträger bislang eine Absage erteilt. Die „Versorgung Europas mit Energie für die Wärmeerzeugung, für die Mobilität, die Stromversorgung und für die Industrie“ könne derzeit nicht anders als durch russische fossile Energieträger gesichert werden, konstatiert Scholz.

Die grüne „Kriegswirtschaft“

In Medienberichten werden unterdessen bereits Wege zu einer weitreichenden Umwälzung der gesamten Energiewirtschaft der EU diskutiert. Diese könne eigentlich nur noch im Rahmen einer „Kriegswirtschaft“ realisiert werden, heißt es auf Spiegel Online.[4] Eine Äußerung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) aufgreifend, der erneuerbare Energien als „Freiheitsenergien“ bezeichnet hatte, plädiert das Onlineportal für eine EU-„Kraftanstrengung“ – ähnlich dem 100 Milliarden Euro umfassenden deutschen Rüstungsprogramm [5] –, die binnen kurzer Zeit den Abschied von fossilen Energieträgern vollziehen solle. Angesichts der hohen Abhängigkeit von Energielieferungen aus Regionen, auf „die man wirklich nicht angewiesen sein möchte“, werde früher oder später Energiesicherheit zu allgemeiner Sicherheit. Unter Bezugnahme auf Ideen des Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) heißt es, Brüssel solle ein EU-„Verteidigungsproduktionsgesetz“ auf den Weg bringen – mit dem Ziel, „100 Millionen Wärmepumpen zu bauen und zu installieren“. Die Grundelemente einer solchen staatlich orchestrierten „Kriegswirtschaft“ müssten überdies Lockerungen bei den Bauvorschriften für erneuerbare Energien umfassen, „gewaltige“ Investitionen in den Netzausbau und dessen Dezentralisierung beinhalten sowie ein „europaweites Fotovoltaik-Förderpaket“ auf den Weg bringen, das „alles bisher Dagewesene in den Schatten“ stelle. Schließlich müssten auch „gewaltige Investitionen“ in die Erforschung und den Ausbau von Energiespeichertechnologien fließen, um „überschüssige Energie in speicher- und transportfähige Substanzen“ umwandeln zu können. Die russische Invasion in die Ukraine sei ein Weckruf, um diesen „längst überfälligen Umbau der Energieversorgung“ rasch in Angriff zu nehmen.

 

[1] The case for green strategic autonomy. ecfr.eu 03.03.2022.

[2] EU will russische Gasimporte stark reduzieren. zdf.de 08.03.2022.

[3] Zwei Drittel weniger russisches Gas. tagesschau.de 08.03.2022.

[4] Christian Stöcker: Dann eben Kriegswirtschaft – aber richtig. spiegel.de 06.03.2022.

[5] S. dazu Die Zeitenwende.

Der Originalartikel kann hier besucht werden