Bundesnetzagentur setzt mitten in der Erdgasversorgungskrise Zertifizierung von Nord Stream 2 aus. US-Flüssiggaslieferungen sinken. Moskau entwickelt Alternativen zum Gasverkauf in die EU.

Inmitten der aktuellen Erdgasversorgungskrise setzt die Bundesnetzagentur das Verfahren zur Zertifizierung der Pipeline Nord Stream 2 aus und verzögert damit deren Inbetriebnahme bis mindestens weit ins kommende Jahr. Der Grund sei, äußerte die Behörde gestern, dass Nord Stream 2 seinen Sitz in der Schweiz, nicht in Deutschland habe. Ein eigens geplanter Ableger des Unternehmens mit Sitz in Deutschland, der für den Betrieb des deutschen Pipelineabschnitts zuständig ist, müsse erst noch sämtliche Vermögenswerte übertragen bekommen, bevor das Zertifizierungsverfahren fortgesetzt werden könne. Die Mitteilung hat die Erdgaspreise gestern weiter in die Höhe schnellen lassen. Deutschland und die EU leiden an Unterversorgung mit Erdgas, weil insbesondere die Lieferung von Flüssiggas gegenüber 2020 klar zurückgegangen ist: Zur Zeit sind in Ostasien höhere Profite zu erzielen als in Europa. Vor allem der Import von US-Flüssiggas („freedom gas“) ist geschrumpft. Moskau hilft den Gasmangel in Europa auszugleichen, entwickelt aber mit Blick auf Schikanen wie bei Nord Stream 2 auch alternative Absatzmärkte – vor allem in China.

Erneut verzögert

Die Bundesnetzagentur hat am gestrigen Dienstag das Verfahren zur Zertifizierung der Pipeline Nord Stream 2 vorläufig ausgesetzt. Als Grund wurden formale Einwände vorgebracht. Demnach vertritt die Bundesnetzagentur die Position, eine Erdgasleitung könne nur dann zertifiziert werden, wenn ihr Betreiber eine in Deutschland registrierte Organisation ist. Die Nord Stream 2 AG hat ihren Sitz in der Schweiz. Nun ist die Betreibergesellschaft zwar bereits dabei, eine Firma nach deutschem Recht zu bilden, der das deutsche Teilstück der Pipeline gehören soll. Laut der Bundesnetzagentur müssen allerdings die Übertragung der Vermögenswerte und des Personals auf die neue Firma abgeschlossen sein, bevor das Zertifizierungsverfahren wieder aufgenommen werden kann. Weil ohne Zertifizierung ein Betrieb der Erdgasleitung nicht zulässig ist, wird damit die Ausfuhr des Rohstoffs durch die im September fertiggestellte Röhre in die Bundesrepublik erneut verzögert.[1] Dies gilt umso mehr, als nach einem Abschluss des Zertifizierungsverfahrens eine Prüfung durch die EU-Kommission vorgenommen wird, die ihrerseits vier Monate dauern kann.

Erdgasmangel

Die Entscheidung der Bundesnetzagentur fällt mitten in eine Erdgasversorgungskrise. Diese hat mehrere Ursachen. So ist der Erdgasverbrauch in Ostasien rapide gestiegen, verursacht zum einen durch die rasche Erholung der dortigen Industrie nach der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, zum anderen dadurch, dass China seine Energieversorgung zunehmend von Kohle auf Erdgas umstellt. Die stärkere Nachfrage hat die Preise in Ostasien erheblich ansteigen lassen und deshalb die Exporteure von Flüssiggas veranlasst, vor allem dorthin zu liefern. Zugleich waren in der EU die Erdgasspeicher im vergangenen Frühjahr stark geleert, bedingt durch extreme Kältephasen im vergangenen Winter. Wegen der hohen Erdgaspreise haben Deutschlands Erdgasversorger die Befüllung ihrer Speicher in der Hoffnung auf einen Preisrückgang hinausgezögert; die Folge: Sie waren Anfang November nicht, wie zu dieser Jahreszeit üblich, zu mindestens 90 Prozent gefüllt, sondern nur zu wenig mehr als 70 Prozent.[2] Sollte nun auch der kommende Winter kälter als üblich werden, schließen Beobachter ernste Versorgungsengpässe nicht aus.

Europas Lieferanten

Dabei belegen Fachpublikationen, dass die Versorgungsschwierigkeiten – anders, als Politiker und Medienberichte suggerieren – nicht von Russland verursacht worden sind. Tatsächlich ist es Gazprom, dem russischen Erdgashauptlieferanten Deutschlands wie auch der EU, gelungen, seine Exporte nach Europa im ersten Halbjahr 2021 wieder auf das Niveau des ersten Halbjahrs 2019 zu steigern, obwohl der Konzern – wie die gesamte Branche – seine Förderung 2020 pandemiebedingt hatte deutlich reduzieren müssen. Dies belegen Statistiken des renommierten Oxford Institute for Energy Studies (OIES).[3] Nicht alle haben das geschafft. So lagen zum Beispiel die Erdgaslieferungen Norwegens und Großbritanniens in andere Länder Europas im ersten Halbjahr 2021 unterhalb des Niveaus von 2019. Die Ausfuhr aus den Niederlanden geht ohnehin zurück, da das Land aus der Erdgasförderung aussteigt. Erheblich geschrumpft ist insbesondere die Einfuhr von Flüssiggas nach Europa. Sie lag nach Angaben des OIES in der Zeit von Januar bis September 2021 bei einem Volumen von 65 Milliarden Kubikmetern – rund 10,8 Milliarden Kubikmeter weniger als im Vergleichszeitraum 2020.[4]

Der Ruf des Geldes

Die Hauptursache dafür ist wiederum ein deutlicher Rückgang der Lieferungen von Flüssiggas aus den USA. Die Vereinigten Staaten haben zwar ihre Flüssiggasproduktion dramatisch gesteigert und ihre Exportkapazitäten von 2019 bis 2021 fast verdoppelt – laut OIES-Angaben von 55 auf 97 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Allerdings gingen ihre Ausfuhren zum überwiegenden Teil nach Ostasien, wo gegenwärtig die höchsten Preise erzielt werden können. US-Unternehmen lieferten zudem deutlich mehr als zuvor nach Südamerika. Die Flüssiggasexporte nach Europa hingegen schrumpften beträchtlich: Sie nahmen bereits im ersten Halbjahr 2021 um fast 16 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum ab.[5]

Der Lückenbüßer

Aktuell trägt vor allem Russland dazu bei, Europas Versorgungslücken auszugleichen. So hat Gazprom, nachdem es dem Konzern bis Anfang November gelungen war, die im Lauf des Jahres ebenfalls stark geleerten russischen Gasspeicher aufzufüllen, seine Lieferungen in die EU deutlich erhöht – laut eigener Statistik in der zweiten Novemberwoche um rund 14 Prozent gegenüber der Woche zuvor.[6] Gazprom gibt an, prinzipiell zu zusätzlichen Exporten bereit zu sein, dazu jedoch langfristige und daher verlässlichere Lieferverträge schließen zu wollen. Die Bereitschaft des Konzerns, Zugeständnisse an Deutschland und die EU zu machen, dürfte durch die Entscheidung der Bundesnetzagentur, die Zertifizierung von Nord Stream 2 erneut hinauszuzögern, wohl kaum befeuert werden: Eine implizite Drohung, ein Großprojekt im Wert einer zweistelligen Euro-Milliardensumme nach seiner Fertigstellung und unmittelbar vor der Inbetriebnahme zu ruinieren, ist in keinem Fall geeignet, den Kooperationswillen des Geschädigten zu erhöhen.

Wege aus der Abhängigkeit

Dies umso weniger, als es der russischen Erdgasindustrie mit wachsendem Erfolg gelingt, sich Absatzalternativen zum europäischen Markt zu erschließen. Jahrzehntelang hatte das bestehende Pipelinenetz Russland weitgehend auf den Verkauf seines Erdgases nach Europa festgelegt. Zum einen verfügt das Land inzwischen aber auch über eine boomende Flüssiggasproduktion: Es ist 2020 unter die „Big Four“ der Branche (neben den USA, Qatar und Australien) aufgestiegen und weitet die Förderung weiter aus. Hinzu kommt, dass Gazprom die Erdgaspipelines nach China ausbaut. Eine erste („Power of Siberia“) liefert rasch zunehmende Mengen in die Volksrepublik; eine zweite („Power of Siberia 2“) ist in Planung. Experten mutmaßen bereits, sie könne – im Unterschied zu Power of Siberia – genau dieselben Erdgasfelder anzapfen wie die Pipelines, die Europa beliefern. Dann werde Russland die Option haben, nach Bedarf „von einem Markt zum anderen zu wechseln“, hieß es vor kurzem in einer Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR).[7] Gazprom müsste sich dann Schikanen wie diejenigen im Fall von Nord Stream 2 nicht mehr gefallen lassen. Deutschland und die EU wiederum wären in höchstem Maß auf Flüssiggas aus den USA angewiesen, das sich in diesem Jahr als unverlässlich erwiesen hat.

 

[1] Verzögerung von Nord Stream 2 lässt Gaspreise steigen. faz.net 16.11.2021.

[2] Gaspreis auf Berg- und Talfahrt. sueddeutsche.de 01.11.2021.

[3] Vitaly Yermakov: Big Bounce: Russian gas amid market tightness. Key Takeaways for 2021 and Beyond. The Oxford Institute for Energy Studies. September 2021.

[4] Quarterly Gas Review: Short- and Medium-Term Outlook for Gas Markets. The Oxford Institute for Energy Studies. October 2021.

[5] US supplies of LNG to Europe have not been stable for two years, says Gazprom Export. tass.com 24.09.2021.

[6] Actual gas supplies for EU. gazprom.com.

[7] Filip Medunic: Russia’s ‚gas pivot‘ to Asia: How Europe can protect itself and pursue the green transition. ecfr.eu 27.10.2021.

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