Die Spannungen in Äthiopien nehmen weiter zu. Der Vormarsch der Rebellen aus der Provinz Tigray ist nicht aufzuhalten. Der von der äthiopischen Regierung ausgerufene Waffenstillstand wurde nicht eingehalten, die Zukunft des Landes scheint zunehmend ungewiss.

von Lucas Leiroz

Die Rebellen haben inzwischen die Kontrolle über mehrere für humanitäre Hilfe vorgesehene ausländische Lagerhäuser übernommen und dabei wichtige Ressourcen beschlagnahmt, um die soziale Stabilität in den von Milizen eroberten Gebieten zu gewährleisten. Zugleich soll der offiziellen Regierung in Addis Abeba dadurch die Möglichkeit genommen werden, der Bevölkerung zu helfen, was die bestehende Legitimitätskrise im Land nur noch verschlimmert.

Vor Kurzem sollen Guerillas aus Tigray nach Angaben von US-Beamten Lagerhäuser der humanitären Organisation „USAID“, die der US-Regierung untersteht, in der Region Amhara geplündert haben. Die Rebellen ließen die Vorwürfe der amerikanischen Seite im Raum stehen und haben diese weder bestätigt noch geleugnet. In einem kürzlichen Interview erklärte Sean Jones, Direktor von USAID: „Wir haben Beweise dafür, dass mehrere unserer Lagerhäuser in den Gebieten geplündert und vollständig geleert wurden, insbesondere in Amhara, wo TPLF-Soldaten (TPLF – Tigray People’s Liberation Front,  zu dt. Volksbefreiungsfront aus Tigray – Anm. d. Red.) eingefallen sind (…) Ich glaube, dass die TPLF sich sehr opportunistisch gezeigt hat“.

Der Fall muss sorgfältig analysiert werden, da er mehrere Fehler auf beiden Seiten aufdeckt und eben nicht bloß eine „anti-humanitäre“ Haltung der Rebellen darstellt, wie der USAID-Bericht impliziert. Die äthiopische Regierung von Premierminister Abiy Ahmed hat die schwere humanitäre Krise, von der das Land seit Beginn des Bürgerkriegs betroffen ist, nicht wirkungsvoll unter Kontrolle bringen können. Der Konflikt zwischen den regulären äthiopischen Truppen und der Tigray-Volksbefreiungsfront, die die Bergregion im Norden des Landes kontrolliert, war im November des vergangenen Jahres ausgebrochen.

Die Rebellen fordern eine Reihe von Veränderungen, die den Menschen in Tigray mehr politische Mitsprache ermöglichen sollen. Premier Abiy hingegen wirft den Aufständischen aus der Region vor, versucht zu haben, die Autorität der Zentralregierung zu untergraben. Er startete Ende des vergangenen Jahres eine enorme Militäroffensive,  hatte allerdings nicht genug Potential, um den Konflikt voranzutreiben und erlitt mehrere Niederlagen. Mekele, die Hauptstadt von Tigray, wurde vor einigen Monaten von Rebellen eingenommen, worauf Addis Abeba einen „einseitigen Waffenstillstand“ erklärte – was eine implizite Anerkennung der Niederlage bedeutet. Abiy kompensierte  seine militärische Unfähigkeit jedoch mit diversen humanitären Verbrechen und verhinderte die Einfuhr von Nahrungsmitteln, Trinkwasser sowie anderen Mitteln der Grundversorgung für die Bevölkerung von Tigray.

Der Konflikt hat bereits Zehntausende Menschenleben gefordert und Millionen zur Flucht getrieben – nicht nur in Äthiopien, sondern auch in den Nachbarländern Dschibuti und Somalia, die ebenfalls von den Kämpfen betroffen sind. Zudem brachte der Krieg Millionen Menschen Elend und Nahrungsmittelknappheit, weshalb jede humanitäre Hilfe von der Bevölkerung begrüßt wird. Abiy weigert sich jedoch weiterhin, die aus dem Ausland erhaltene Hilfe in die Region Tigray gelangen zu lassen, und als Reaktion darauf gehen die Rebellen dazu über, Lagerhäuser zu plündern, in denen sich solche Ressourcen befinden.

In Anbetracht dessen befindet sich Abiy in einer immer schwieriger werdenden  Lage. Sein Verhalten schafft eine Legitimitätskrise, die den Rebellen Stärke verleiht und der TPLF aufgrund der humanitären Gleichgültigkeit des Premierministers Unterstützung in der Bevölkerung bringt. Zudem hat sich Abiy auf der internationalen Bühne als eine echte „Enttäuschung“ gezeigt, auch deshalb, weil er zuvor 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war. der Premier hatte nämlich die Beziehungen seines Landes zu Eritrea nach zwanzig Jahren Konflikt und Spannungen befriedet – und ist nun selbst der Protagonist in einem neuen Konflikt.

Dabei ist jedoch anzumerken, dass der Krieg in Tigray auch eine direkte Folge der Beschwichtigung in den Beziehungen zu Eritrea ist, da die dortige Regierung von Isaias Afwerki von den Menschen in Tigray als Feind angesehen wird. Afwerki führt seit Jahren menschenfeindliche Maßnahmen wie Verfolgungen und ethnisch-motivierte Vernichtung in der Region durch, weshalb die TPLF den Frieden zwischen Addis Abeba und Asmara als Beleidigung auffasst.

Angesichts der Schwäche der Afrikanischen Union ist es unwahrscheinlich, dass es eine wirklich friedliche Lösung geben wird. Die Probleme der ethnisch-territorialen Teilung auf dem afrikanischen Kontinent haben Staaten in den jeweiligen Regionen jahrelang zu extrem gewalttätigen Konflikten veranlasst, und das Ganze ist noch lange nicht vorbei. In Wirklichkeit ist die Aufteilung des afrikanischen Raums in souveräne Nationalstaaten ein neuerer und noch unvollkommener Prozess, der mit der Vielzahl der dort beheimateten ethnischen und religiösen Gruppen noch lange nicht in Einklang zu bringen sein wird.

Die Rolle der Afrikanischen Union sollte darin bestehen, Toleranz zu fördern, indem sie jene Regierungen sanktioniert, die gegen grundlegende Normen des Zusammenlebens verstoßen. Dies ist aber weit davon entfernt, für alle Wirklichkeit zu sein. In Anbetracht der Geschichte der Konflikte Afrikas ist es leider unwahrscheinlich, dass der äthiopische Bürgerkrieg beendet wird, bevor entweder in Tigray ein neuer Staat gebildet, oder seine Bevölkerung durch Vernichtung und Vertreibung vollständig ausgelöscht wird.

Dieser Artikel erschien zuvor im englischen Original auf InfoBrics.org und wird von der EuroBRICS-Redaktion übersetzt wiedergegeben.

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