In Berlin werden Forderungen nach neuen Sanktionen gegen Moskau laut: „Wir wollen einen Regimewandel“.

In den deutschen Herrschaftseliten schwellen die Forderungen nach neuen Sanktionen gegen Moskau und einem Aufwiegeln von Russlands junger Generation an. Man habe „gegenüber Russland … sehr große [Ziele]“, erklärt der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr: „Wir wollen … einen Regimewandel“. Die jüngsten Proteste von Anhängern des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, die aus Berlin koordiniert wurden, reichten noch nicht aus, um „die Stabilität des Regimes“ zu gefährden, urteilt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Man könne allerdings auf die junge Generation („Generation Putin“) setzen, in der viele gegenüber der Regierung kritisch eingestellt seien, schlägt ein Mitarbeiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung vor. Nawalny spreche insbesondere jüngere Menschen an; er verkörpere „einen neuen Politikertyp“. Der Mann, den die deutschen Eliten im Kolonialherrenstil in Russland an die Regierung zu bringen suchen, wird lediglich von einer kleinen Minderheit der russischen Bevölkerung unterstützt.

„Wir wollen Regimewandel“

Vor dem Treffen der EU-Außenminister am kommenden Montag, bei dem die grundsätzliche Positionierung der Union gegenüber Russland sowie die etwaige Ausweitung der Sanktionen auf der Tagesordnung stehen, dringen deutsche Think-Tanks in zunehmendem Maß auf schärfere Aggressionen gegenüber Moskau. Offen diskutiert wird unter anderem über Zwangsmaßnahmen. Während es etwa in einer Stellungnahme aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) heißt, die EU solle ihr vor kurzem eingeführtes“Menschenrechts“-Sanktionsregime [1] nutzen und es gegen noch auszuwählende „russische Amtsträger“ in Anschlag bringen [2], rät der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, explizit von umfassenden Wirtschaftssanktionen ab. „Wenn man Russland wirklich wirtschaftlich in die Knie zwingen will“, erklärt Felbermayr, dann „kann Europa allein nicht so viel ausrichten, wie notwendig wäre“: Dann „bräuchte man … eine große Koalition von Ländern“ – „zumindest auch China … und am besten noch Indien und weitere Handelspartner Russlands“. Felbermayr zeigt sich eher skeptisch: „Die Ziele, die wir gegenüber Russland haben, sind ja sehr große. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland, das ist sehr schwer zu erreichen mit wirtschaftlichem Druck.“[3]

Sehnsucht nach Instabilität

Skeptisch geben sich deutsche Russland-Spezialisten auch bezüglich der jüngsten Proteste von Parteigängern des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, die aus Berlin koordiniert wurden – von Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow, der Berichten zufolge seit mehr als einem Jahr „im Exil“ lebt [4] und nach eigenen Angaben erst kürzlich Vertreter mehrerer EU-Staaten über „mögliche Sanktionen gegen Putin-Gefolgsleute“ beriet [5]. Über die Proteste hieß es unlängst aus der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), durch sie sei „die Stabilität des Regimes … kurzfristig nicht bedroht“: Sie niederzuschlagen sei „für die russische Nationalgarde eine lösbare Aufgabe“, zumal „die Zahl der Protestierenden … zu klein“ und „die Proteste bislang friedlich und gewaltfrei“ seien.[6] „Zu Gegenwehr von Demonstrantinnen und Demonstranten“ sei es „bislang nur in Einzelfällen“ gekommen; auch sei „eine Spaltung innerhalb der Elite, die eine wesentliche Voraussetzung für Instabilität wäre, … bislang nicht erkennbar“. Allerdings lade „der Kreml“ sich mit der „massiven Repression“ gegen die Proteste „für die kommenden Jahre eine schwere politische Hypothek auf“: Das Vorgehen der Polizei könne „bislang unpolitische Teile der Bevölkerung mobilisieren“.

Die „Generation Putin“

Dabei haben die Experten vor allem die jüngere Generation im Blick, die erst kurz vor oder sogar nach dem ersten Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin geboren wurde („Generation Putin“). In der Tat sind die 18- bis 24-Jährigen die einzige Altersgruppe, in der laut einer Umfrage des Moskauer Lewada-Centers eine sympathisierende Haltung zu den Nawalny-Protesten (38 Prozent) gegenüber einer negativen Meinung (22 Prozent) überwiegt.[7] „In den Augen gerade vieler junger Russinnen und Russen“ werde durch die Polizeirepression „die Legitimität der politischen Führung … irreparabel beschädigt“, heißt es entsprechend bei der SWP.[8] Prinzipieller urteilt etwa Stefan Meister, ein einstiger DGAP-Spezialist, der heute für die Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen) tätig ist: „Die ‚Generation Putin‘ konsumiert nicht mehr das Staatsfernsehen und ist gegenüber staatlicher Propaganda ebenso skeptisch wie gegenüber den Behauptungen von Politikern. Sie informiert sich via Telegram und über ihre eigenen Netzwerke in den Sozialen Medien.“[9] Nawalny habe „über seine Kanäle in den Sozialen Medien eine direkte Verbindung zu diesen jungen Leuten aufgebaut“ und damit zugleich „ein Netzwerk in die Regionen [Russlands, d. Red.] geknüpft“. Damit verkörpere er „einen neuen Politikertyp“.

Impfstoff ohne Gegenleistungen

Ergänzend zum Bestreben, Russlands junge Generation gegen die Regierung zu mobilisieren, schlägt die DGAP in einem aktuellen Papier mit Blick auf das EU-Außenministertreffen weitere Maßnahmen vor. So müsse die Union ihr Visaregime für russische Bürger liberalisieren – mit dem Ziel, nicht nur jüngeren Menschen, sondern auch der „Zivilgesellschaft“ – gemeint sind offenbar prowestlich orientierte Milieus – die Einreise sowie damit den Aufbau von Beziehungen in die EU zu erleichtern.[10] Darüber hinaus könne man sich um weitere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen Russland bemühen, heißt es weiter; freilich ist damit zu rechnen, dass die Glaubwürdigkeit des EGMR ein wenig leidet, wenn er nach seiner Entscheidung vom Dienstag, keinerlei Einwände gegen den NATO-Bombenmord an einer dreistelligen Zahl afghanischer Zivilisten zu erheben (german-foreign-policy.com berichtete [11]), nun Polizeieinsätze gegen Demonstranten anprangert, wie sie auch im Westen üblich sind [12]. Insbesondere spricht sich die DGAP dafür aus, allgemein einen „muskulöseren Kurs“ gegenüber Moskau einzuschlagen. Zwar sei „Kooperation in Gesundheitsfragen“ erwünscht; die Union denkt nach ihrem Versagen bei der Covid-19-Impfstoffbeschaffung aktuell darüber nach, das russische Vakzin Sputnik V zu erwerben. Doch seien politische Gegenleistungen ausgeschlossen.

Vertrauen bei fünf Prozent

Während Berlin und Brüssel weiter für Nawalny agitieren, zeigt in der russischen Bevölkerung nur eine kleine Minderheit Sympathien für den Mann, der ihr Land nach dem Willen der EU möglichst regieren soll. Dies belegen aktuelle Umfragen des Moskauer Lewada-Instituts. Befragt, ob sie „Nawalnys Aktivitäten“ billigten, antworteten demnach im Januar 19 Prozent mit „Ja“, dagegen 56 Prozent mit „Nein“.[13] Selbst unter den 18- bis 24-Jährigen war die Ablehnung mit 43 Prozent größer als die Zustimmung (36 Prozent). Übelgenommen wurde Nawalny insbesondere, dass er zu den Demonstrationen seiner Anhänger auch Schulkinder aufgerufen hatte – mit der Begründung, dort sei „was los“.[14] Faktisch trieb der Oppositionelle damit Minderjährige – wohl gezielt – in die Konfrontation mit der Polizei. Auf die offen formulierte Frage, welchem Politiker sie vertrauten, nannten lediglich fünf Prozent Nawalny, während einsamer Spitzenreiter mit 29 Prozent Wladimir Putin war. Zugleich gaben 64 Prozent der Befragten an, sie beurteilten Putins präsidiale Aktivitäten positiv; selbst unter den 18- bis 24-Jährigen stimmte dem mit 51 Prozent eine Mehrheit zu.[15] Damit entlarven die Umfragen die Regime Change-Bestrebungen Berlins als Politik im Kolonialherrenstil.

 

[1] S. dazu Die Weltenrichter (II).

[2] Alena Epifanova, Milan Nič: It’s High Time for the EU to Rethink its Relations with Russia. dgap.org 11.02.2021.

[3] „Europa allein kann nicht so viel ausrichten“. deutschlandfunk.de 11.02.2021.

[4] Russland erlässt internationalen Haftbefehl gegen Nawalny-Mitstreiter. zeit.de 10.02.2021.

[5] Außenminister Lawrow droht mit Abbruch der EU-Beziehungen. dw.com 12.02.2021.

[6] Janis Kluge: Putin und die Proteste in Russland: Die Zeit des Taktierens ist vorbei. swp-berlin.org 04.02.2021.

[7] January Protests. levada.ru 11.02.2021.

[8] Janis Kluge: Putin und die Proteste in Russland: Die Zeit des Taktierens ist vorbei. swp-berlin.org 04.02.2021.

[9] Stefan Meister: Putin’s Security Trap. ip-quarterly.com 11.02.2021.

[10] Alena Epifanova, Milan Nič: It’s High Time for the EU to Rethink its Relations with Russia. dgap.org 11.02.2021.

[11] S. dazu Die Dauerkriege des Westens (II).

[12] S. dazu Koloniale Methoden.

[13] The Return of Alexey Nawalny. levada.ru 08.02.2021.

[14] Reinhard Lauterbach: Fehlstart der Kampagne. junge Welt 10.02.2021.

[15] Presidential Ratings and the State of the Nation. levada.ru 04.02.2021.

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