Von der Leyens EU-Migrationspakt ahmt illegale ungarische Maßnahmen nach. Westliche Mächte schaffen bereits neue Fluchtursachen.

Der neue EU-Migrationspakt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übernimmt rechtswidrige Elemente der berüchtigten ungarischen Flüchtlingsabwehr und wird von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Dem Pakt zufolge sollen Flüchtlinge, die aus Staaten mit geringer Asylanerkennungsquote kommen, in Lagern interniert werden. Die Haftdauer kann sich offiziell auf ein halbes Jahr addieren. Lager dieser Art („Transitlager“) hatte zuvor Ungarn errichtet, im Frühjahr aber ankündigen müssen, sie umgehend zu schließen, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) die ungarische Internierungspraxis für illegal erklärt hatte. Die EU hat mit dem Bau entsprechender Lager bereits begonnen; eines ist auf der griechischen Insel Samos in Arbeit, ein weiteres soll auf Lesbos entstehen. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen üben scharfe Kritik; von einem „teuflischen Pakt der Entrechtung“ ist die Rede. Unterdessen schaffen die westlichen Mächte neue Fluchtursachen: Brutale Sanktionen hungern die Bevölkerung Syriens aus.

Vorbild Ungarn

Zentrale Bestimmungen des neuen EU-Migrationspakts („New Pact on Migration and Asylum“) entsprechen weitgehend einem Konzept, das Ungarn mit seinen „Transitlagern“ verwirklicht hatte. Flüchtlinge, die aus Serbien kamen und in Ungarn Asyl beantragen wollten, mussten sich an den Grenzübergängen in Röszke oder in Tompa melden und wurden dort bis zur Entscheidung über ihren Antrag in Lagern interniert. Dies konnte Monate dauern. Gegen den Vorwurf, man inhaftiere damit unschuldige Menschen, wandte die ungarische Regierung ein, es stehe den Flüchtlingen jederzeit frei, zurück nach Serbien zu gehen; dieses sei, weil dort keinerlei Verfolgung drohe, ein „sicherer Drittstaat“. Die „Transitlager“ sind nicht nur in Deutschland und anderen Staaten der EU scharf kritisiert worden; im Frühjahr hat zudem der Europäische Gerichtshof (EuGH) Budapests Praktiken als eindeutig illegal eingestuft. Die Flüchtlinge würden in den Lagern ihrer Freiheit beraubt, urteilte der EuGH; das sei nicht zulässig. Zwar dürfe ein Staat sie zwingen, eine Zeitlang die Grenzregion nicht zu verlassen; doch dürfe das nur für maximal vier Wochen geschehen.[1] Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán kündigte daraufhin an, seine Regierung werde die „Transitlager“ schließen.

„Kein rechtsstaatliches Verfahren“

Der neue EU-Migrationspakt, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vorgelegt hat, sieht vor, Flüchtlinge, die aus Ländern mit einer niedrigen Asyl-Anerkennungsquote kommen – weniger als 20 Prozent -, einem beschleunigten Grenzverfahren zu unterziehen. Solange das Verfahren noch andauert, gelten die Flüchtlinge als nicht eingereist; sie dürfen sich im Land nicht frei bewegen und werden in einer Transitzone bzw. einem Transitlager interniert. Laut den Plänen der EU-Kommission darf das Verfahren bis zu zwölf Wochen dauern; damit werden Asylsuchende dreimal so lange inhaftiert, wie es dem EuGH zufolge rechtlich zulässig wäre. Wird ihr Asylantrag abgelehnt, folgt ein Rückführungsgrenzverfahren von erneut bis zu zwölf Wochen Dauer. Wer aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreist – die Türkei gilt als ein solcher -, hat keine Chance auf Asyl in der EU.[2] Die Parallelen zum ungarischen Modell liegen auf der Hand. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge in den künftigen Transitlagern der EU kaum oder gar nicht Zugang zu juristischer Unterstützung haben; zudem ist, wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl festhält, „nur eine Instanz bei Klageverfahren in Grenzverfahren vorgesehen“, und die Klage gegen eine Ablehnung soll „keine automatische aufschiebende Wirkung haben“.[3] Es fehle „jede Möglichkeit für geordnete, rechtsstaatliche Verfahren“, resümiert ein Mitarbeiter der Kindernothilfe.[4]

Europäische Standards

EU-Lager, in denen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen interniert werden sollen, sind kein Zukunftsprojekt, sondern bereits im Bau. Das erste entsteht derzeit auf der Insel Samos südwestlich der türkischen Hafenstadt İzmir. In dem Lager sollen insgesamt 2.100 Flüchtlinge untergebracht werden, 900 von ihnen in einem geschlossenen Bereich, wie unter Bezug auf Unterlagen aus dem griechischen Migrationsministerium berichtet wird. Auch die Bewegungsfreiheit derjenigen, die außerhalb des geschlossenen Bereichs leben sollen, wird offenbar eingeschränkt; so sollen die Tore, die nur mit Chiparmbändern passiert werden können, nachts geschlossen bleiben. Die Anlage erinnere klar an eine „Haftanstalt“, wird ein Mitarbeiter von Médecins Sans Frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen) zitiert.[5] Mit Blick darauf, dass sie fünf Kilometer vom nächsten Ort entfernt ist, spricht der MSF-Mitarbeiter von offenkundiger „Segregation“. Unklar sei zudem, ob MSF und andere Nichtregierungsorganisationen in dem Lager überhaupt tätig werden dürften. Für den Bau dieses und anderer Lager („Multi Purpose Reception and Identification Centres“, RIC) stellt die EU rund 130 Millionen Euro bereit. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Mittwoch bekräftigt, dass auch auf Lesbos ein RIC errichtet werden soll. Die Einrichtung werde, hieß es, „europäischen Standards“ entsprechen.[6]

„Teuflisch“

Von der Leyens neuer EU-Migrationspakt, der auch sogenannte Abschiebepatenschaften umfasst – Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sollen stattdessen abgewiesene Asylsuchende aus der EU abtransportieren -, wird weithin scharf kritisiert. So urteilt etwa die liberale niederländische Europaabgeordnete Sophie in ‚t Veld (D66): „Die äußerste Rechte hat die EU-Migrationspolitik gekapert.“[7] „Das Jahr 2020“, konstatiert Pro Asyl, müsse ohnehin „als weiterer Tiefpunkt in der europäischen Geschichte“ bezüglich der „Einhaltung von Menschenrechten und des Flüchtlingsschutzes gesehen werden“: „Schüsse an der griechisch-türkischen Grenze; die zeitweise Aussetzung des Asylrechts in Griechenland; gewalttätige Push-Backs auf der Balkanroute; Flüchtlingsboote, die von der griechischen Küstenwache zurück in türkische Gewässer gezerrt werden“ – und zuletzt habe die EU nach dem Brand des Lagers Moria auch noch die Aufnahme von 12.000 obdachlosen Flüchtlingen verweigert.[8] Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhard urteilt, die EU-Kommission unter ihrer deutschen Präsidentin verrate „die Menschenrechte von Schutzsuchenden“: „Dies ist ein teuflischer Pakt der Entrechtung.“[9]

Die Fluchtverursacher

Unterdessen schaffen die westlichen Mächte, deren Kriege einen Großteil der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln aus ihren Herkunftsstaaten vertrieben haben (german-foreign-policy.com berichtete [10]), die nächste Fluchtursache – in Syrien. Das ohnehin kriegszerstörte Land wird zur Zeit nicht nur von der Covid-19-Pandemie hart getroffen; es ist zusätzlich neuen US-Sanktionen ausgesetzt, die, wie der Leiter von Caritas International, Oliver Müller, berichtet, zu einer weiteren Verknappung von Lebensmitteln führen.[11] Schon jetzt lebten – auch wegen bereits bestehender westlicher Sanktionen – annähernd vier Fünftel der im Land verbliebenen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze; elf Millionen Syrer seien sogar von humanitärer Hilfe abhängig. Die jüngst neu verhängten US-Sanktionen erschwerten die Versorgung der Menschen zusätzlich, unter anderem, weil Banken aus Angst vor US-Repressalien Überweisungen nach Syrien verweigerten. Dies gefährde zum Beispiel die Bezahlung einheimischer Mitarbeiter von Hilfswerken wie der Caritas. „Unsere Leiden haben viel mit den Sanktionen zu tun“, bestätigt ein Franziskanerpater aus Aleppo; die Lage in der nordsyrischen Stadt sei inzwischen „schlimmer als während der Belagerung“.[12] Hält der Westen an der Sanktionspolitik fest, kann eine erneute Massenflucht aus Syrien nicht ausgeschlossen werden – aus blankem Hunger.

Bitte beachten Sie unsere Video-Kolumne EU – eine „Werteunion“?

[1] Marlene Grunert, Stephan Löwenstein: Neue Hürden für die Asylreform. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.05.2020.

[2], [3] Grenzverfahren unter Haftbedingungen – die Zukunft des Europäischen Asylsystems? proasyl.de 23.09.2020.

[4] Kindernothilfe: EU-Migrationspakt muss Kindswohl stärker beachten. evangelisch.de 24.09.2020.

[5] Ann Esswein: Mit der Geduld am Ende – Die Flüchtlingssituation auf Samos. dw.com 23.09.2020.

[6] Marion MacGregor: EU to help build new Lesbos camp. infomigrants.net 24.09.2020.

[7] Jennifer Rankin: EU’s migration proposals draw anger on left and leave questions unanswered. theguardian.com 23.09.2020.

[8] Grenzverfahren unter Haftbedingungen – die Zukunft des Europäischen Asylsystems? proasyl.de 23.09.2020.

[9] Teuflischer Pakt der Entrechtung – Erste Reaktion von PRO ASYL zum New Pact on Migration and Asylum. proasyl.de 23.09.2020. S. auch Die griechische Blaupause und Europas Schild.

[10] S. dazu Die Fluchtverursacher.

[11] Was hilft der syrischen Bevölkerung? Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.09.2020.

[12] Syrien: Lage in Aleppo ist „schlimmer als während der Belagerung“. vaticannews.va 23.09.2020.

 

 

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