Berlin und Brüssel bereiten Gegenmaßnahmen gegen US-Sanktionen im Konflikt um Nord Stream 2 vor.

Deutschland und die EU bereiten im Konflikt um die Erdgaspipeline Nord Stream 2 Gegenmaßnahmen gegen drohende US-Sanktionen vor. Das hat nach entsprechenden Berichten in US-Medien die EU-Kommission bestätigt. Hintergrund ist nicht nur, dass Nord Stream 2 erhebliche ökonomische und energiestrategische Bedeutung für die Bundesrepublik besitzt. Hinzu kommt, dass extraterritoriale US-Sanktionen, wie Washington sie etwa auch gegen Iran verhängt hat, im globalen Mächtekampf ein Mittel darstellen, das Berlin und Brüssel bislang nicht aushebeln können. Entwickelt die EU kein Gegeninstrument, dann kann die US-Regierung sie in jedem transatlantischen Konflikt um die Politik gegenüber Drittstaaten zum Nachgeben zwingen; eine eigenständige EU-Weltpolitik wäre kaum möglich. Deutsche Wirtschaftskreise raten allerdings, um ihr US-Geschäft nicht zu schädigen, von einfachen Gegensanktionen ab. Gegenmaßnahmen in Sachen Nord Stream 2 sind Thema einer für morgen anberaumten öffentlichen Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestags.

Rückwirkende Sanktionen

In Washington ist am vergangenen Donnerstag von Abgeordneten beider Parteien der Protecting Europe’s Energy Security Clarification Act (PEESCA) in das Repräsentantenhaus eingebracht und in die zuständigen Ausschüsse überwiesen worden. Bei dem Gesetzesentwurf handelt es sich um eine Ergänzung von PEESA (Protecting Europe’s Energy Security Act), einem Gesetz, das am 20. Dezember vergangenen Jahres – formal als Teil des National Defense Authorization Act (NDAA) – von US-Präsident Donald Trump unterzeichnet wurde. Sieht PEESA ökonomische Zwangsmaßnahmen gegen die Betreiber von Spezialschiffen vor, die an der Verlegung der Rohre von Nord Stream 2 beteiligt sind, so soll PEESCA die Sanktionen auf Personen und Firmen ausweiten, die die Verlegearbeiten in welcher Form auch immer unterstützen. Ihnen drohen dann Einreiseverbote und Kontosperren in den Vereinigten Staaten. PEESCA könnte laut Beobachtern spätestens im September im Kongress verabschiedet und von US-Präsident Donald Trump per Unterzeichnung in Kraft gesetzt werden. Gelten soll es laut aktuellem Planungsstand rückwirkend (!) ab dem 19. Dezember 2019. Damit übt es bereits jetzt konkret abschreckende Wirkung aus.

„Stoppen Sie JETZT“

Dabei reicht der Kreis der Personen und Unternehmen, die von den Zwangsmaßnahmen getroffen würden, weit. PEESA hatte vor allem auf die schweizerisch-niederländische Firma Allseas gezielt, einen Spezialschiffbetreiber, dessen Mitarbeit für die Verlegung von Pipelines wie Nord Stream 2 als faktisch unverzichtbar galt.[1] Allseas hat sich tatsächlich gezwungen gesehen, vorzeitig aus dem Bau der Erdgasröhre auszusteigen. Dazu beigetragen hat ein Drohbrief zweier US-Senatoren, in dem es hieß: „Stoppen Sie JETZT und lassen Sie die Pipeline unfertig zurück …, oder Sie riskieren, Ihr Unternehmen für immer aufzugeben“ (german-foreign-policy.com berichtete [2]). An die Stelle des Allseas-Spezialschiffs ist inzwischen ein aufwendig beigeschafftes und umgebautes russisches Verlegeschiff getreten. PEESCA sieht nun vor, Sanktionen gegen Schweißer, Logistiker, Caterer und andere Personen und Unternehmen zu verhängen, die das russische Schiff versorgen; Versicherer sollen ebenso getroffen werden wie zum Beispiel IT-Dienstleister, deren Angebote auf dem Schiff genutzt werden. Unter Umständen könnten die Zwangsmaßnahmen sogar Angestellte deutscher Behörden bestrafen, die qua Amt mit Nord Stream 2 zu tun haben.[3]

Milliarden auf dem Spiel

Ein Verzicht auf Nord Stream 2 kommt für die Bundesrepublik schon aus ökonomischen Gründen kaum in Betracht. Zum einen sind deutsche Firmen involviert: Die Energiekonzerne Wintershall Dea und Uniper sind direkt an dem Pipelinevorhaben beteiligt; sie haben jeweils Kredite in Höhe von fast einer Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus gilt Nord Stream 2 als höchst nützlich nicht nur für die deutsche Erdgasversorgung, sondern auch, weil die Leitung Deutschland faktisch zur westeuropäischen Verteilerdrehscheibe für russisches Erdgas macht. Hinzu kommt, dass im Rahmen der breiten deutsch-russischen Erdgaskooperation insbesondere die BASF-Tochterfirma Wintershall Dea unmittelbar Zugriff auf reiche sibirische Erdgaslagerstätten erhalten hat; für den deutschen Energiekonzern eröffnet das die Möglichkeit, „europäischer Champion“ zu werden, wie Vorstandschef Mario Mehren vor etwas über einem Jahr erklärte.[4] Scheitert Nord Stream 2, dann beschädigt das die deutsch-russische Erdgaskooperation, und die Chancen für Wintershall Dea auf eine europäische Spitzenposition verschlechtern sich.

Konkurrenz aus China

Schließlich könnte Russland, sollten seine Erdgasbindungen an Westeuropa Schaden nehmen, sich auch beim Erdgas erheblich stärker in Richtung China orientieren. Im vergangenen Dezember leitete Gazprom erstmals Pipelinegas in die Volksrepublik – durch die neue Erdgasleitung Power of Siberia. Vergangene Woche kündigte Gazprom-Chef Alexej Miller an, sein Unternehmen denke nicht nur über eine Ausweitung der Transportkapazitäten von Power of Siberia nach; es treibe auch den Bau einer zweiten Pipeline (Power of Siberia 2) entschlossen voran. Auf lange Sicht könnten die Pipelinelieferungen nach China auf mehr als 130 Milliarden Kubikmeter jährlich ausgeweitet werden. Europa verlöre damit seine Position als wichtigster Käufer russischen Erdgases außerhalb der Länder der ehemaligen Sowjetunion.[5] Bereits Ende 2018 hatte das an der Universität Oxford angesiedelte Oxford Institute for Energy Studies darauf hingewiesen, zwar seien „die europäischen Konsumenten und Politiker“ bislang „in der relativ bequemen Position eines Monopolabnehmers russischer Erdgasexporte aus Westsibirien“. Die sich abzeichnende Zunahme der Gaslieferungen in die Volksrepublik werde jedoch „die russische Verhandlungsposition stärken“ und Moskau helfen, „langfristigen Druck“ auf die EU aufzubauen.[6] Ein Scheitern von Nord Stream 2 beschleunigte diesen Prozess.

Im globalen Mächtekampf

Abgesehen von den gravierenden ökonomischen Schäden, die ein Scheitern von Nord Stream 2 verursachen könnte, brächte es für Deutschland und die EU einen ernsten politischen Rückschlag mit sich. Bereits im Machtkampf um das Atomabkommen mit Iran hat sich herausgestellt, dass Berlin und Brüssel nicht in der Lage sind, die extraterritorialen US-Sanktionen gegen Teheran zu überwinden; sie haben damit im globalen Mächtekampf im Mittleren Osten den Kürzeren gezogen. Könnte Washington auch den Konflikt um Nord Stream 2 mit extraterritorialen Sanktionen für sich entscheiden, wäre es eine zweite große Niederlage für Deutschland und die EU. Diese müssten damit rechnen, von den Vereinigten Staaten auch bei weiteren Streitigkeiten auf gleiche Weise zum Nachgeben gezwungen zu werden – im nächsten Schritt eventuell in den Auseinandersetzungen um Huawei, dann womöglich im Streit um weitere Sanktionen gegen Russland oder China. In letzter Konsequenz erwiese sich das europäische Staatenkartell als unfähig, eine eigene Politik gegen Washington durchzusetzen: Ihm bliebe im erbitterten Kampf um die Weltmacht nur eine untergeordnete Position.

Deutsch-europäische Souveränität

Entsprechend dringen Berlin und Vertreter der deutschen Wirtschaft auf Gegenmaßnahmen. US-Medien berichteten in der vergangenen Woche zunächst, die Bundesregierung dringe auf Schritte der EU, die sich trotz unterschiedlicher Interessen bei Nord Stream 2 – Polen und die baltischen Länder etwa lehnen die Pipeline ab – nicht von äußeren Mächten auseinanderdividieren lassen dürfe.[7] Kurz darauf bestätigte die EU-Kommission, man arbeite an einem Mechanismus, durch den „die Wirkung durch Drittstaaten verhängter, extraterritorial angewendeter Sanktionen“ möglichst umfassend reduziert werden solle.[8] Details sind nicht bekannt. Aus der deutschen Wirtschaft heißt es, Gegensanktionen oder Strafzölle gegen die USA seien nicht wünschenswert – sie schadeten auch dem deutschen US-Geschäft. Vorteilhafter sei ein „bei der EU angesiedelter ‚Schutzschirm'“, der allgemein gegen extraterritoriale Sanktionen schützen könne.[9] Wie dies im Einzelnen erreicht werden soll, ist freilich völlig unklar. Am morgigen Mittwoch wird sich der Ausschuss des Deutschen Bundestags für Wirtschaft und Energie in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema befassen – unter dem Motto „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“.[10]

Mehr zum Thema: Transatlantische Konflikte.

[1] S. dazu Ringen um Russlands Erdgas.

[2] S. dazu Erdgasdrehscheibe Deutschland.

[3] Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschuss – Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“.

[4] Christian Schaudwet: Wintershall Dea setzt auf gute Verbindung nach Russland. tagesspiegel.de 02.05.2019.

[5] Stuart Elliott: Russia’s Gazprom mulls Power of Siberia capacity expansion to 44 Bcm/year. spglobal.com 26.06.2020.

[6] James Henderson: Russia’s gas pivot to Asia: Another false dawn or ready for lift off? Oxford Energy Insight 40. November 2018. S. dazu Die Macht der Röhren.

[7] Patrick Donahue, Brian Parkin: Germany Weighs Measures Against U.S. Over Nord Stream Threat. bloomberg.com 25.06.2020.

[8] US-Sanktionen gegen Nord Stream 2: EU droht mit Gegenmaßnahmen. handelsblatt.com 26.06.2020.

[9] Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschuss – Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“.

[10] Öffentliche Anhörung zum Thema „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“. bundestag.de.

Der Originalartikel kann hier besucht werden